Meilensteinbildhauer

Aufzeichnungen aus der Wirrnis des Alltags

Zwischenrufe

Nirgends hat man seine Ruhe. Gerade hat der Mann auf der Bühne einen gelungenen Gag über die Unvernunft mancher Konsumenten gemacht, wonach fair gehandelter Kaffee zu teuer sei, während die unfairen, dafür um ein Vielfaches teureren Kapseln sich steigernder Beliebtheit erfreuen. Das Publikum lacht und klatscht. Da empört sich hinter mir eine Frau: Jetzt klatschen wieder die Leute, die das exakt so praktizieren, so sinngemäß ihr vorgetragenes Lamento.

Ziemlich sicher hält der Comedian mit dieser Nummer auch zumindest einem Teil seines Publikums den Spiegel vor. Darüber ließe sich diskutieren. Hinterher!

Nicht, dass ich mich angesprochen fühlen musste, weil ihre Anklage meine Scheinheiligkeit entlarvt hätte. Als Nicht-Kaffeetrinker bin ich aus der Nummer ´raus, auch wenn bei anderen Gütern meine Konsumentscheidungen wahrhaft nicht immer ethisch vertretbaren, streng genommen nicht einmal immer rein rationalen Gesichtspunkten folgen. Es ist vielmehr: Wenn man einem Vortragenden zuhören möchte, sind Kommentare von den billigen Plätzen das letzte, das man gebrauchen kann. Dass man für die Möglichkeit des Zuhörens sogar Geld bezahlt hat, löst dieses Problem nicht. Es verschärft es höchstens noch.

Es ist ferner so, dass in solchen Situationen mein Blick besorgt in Richtung meines Bruders wandert, um zu sehen, ob beziehungsweise wie lange er noch die Contenance wahrt. Da man weiß, dass dieser Mann schon wegen weitaus unwichtigerer Anlässe mittlere Tumulte ausgelöst hat, hält man bei solchen Störungen halt einfach immer die Luft an, wenn man mit ihm unterwegs ist.

Weil die Frau nicht ahnen konnte, welche Zeitbombe sie da eigentlich vor sich hat, fühlte sie sich trotz oder wegen der Nichtreaktion aller anderen Anwesenden ermutigt, das Prozedere im weiteren Verlauf des noch jungen Abends an mehreren Stellen zu wiederholen. Immer leise genug, dass der Mann auf der Bühne ihre Zwischenrufe ignorieren konnte. Jedoch laut genug, um zwei bis drei Reihen der Gäste auf die Nerven zu gehen.

Mein Bruder nahm´s erstaunlich gelassen. Selbst im Nachhinein ist nur schwer zu rekonstruieren, ob das – er ist vor kurzem 50 geworden – eine Form von Altersmilde ist oder ob es damit zu tun hat, dass die Dame schon vor Beginn der Show dafür gesorgt hat, dass man sie nicht ernst nehmen sollte. Indem sie ihre beiden Begleiterinnen nämlich fragte, ob es in Ordnung wäre, dass sie in der Pause geht, wenn sie das Programm nicht lustig findet, hatte sie unmissverständlich angedeutet, dass bei ihr der Spaß aufhört.

Während der Pause erzählte ich meinem Bruder von einem mehrere Jahre zurück liegenden Konzert einer uns beiden bekannten Band. Für ihn, der mehr Konzerte dieser Kapelle gesehen hat als ich, musste ich nicht extra erwähnen, dass es in dieser Szene gang und gäbe ist, dass Menschen aus dem Publikum die Bühne entern, um einen Teil eines Songs gemeinsam mit der Band zu performen. Manchmal wird auch bloß ins Mikrofon gerülpst oder gegrunzt. Manchmal werden auch Statements abgegeben, die mit dem Lied an sich gar nichts zu tun haben, andere Male dagegen sind Statements zu hören, die mit gar nichts irgendetwas zu tun haben beziehungsweise überhaupt nicht zu verstehen sind. Im Prinzip also auch ein bisschen wie Comedy. Die anlässlich solcher Konzerte nicht unübliche Praxis, eine nicht nur geringfügige Anzahl alkoholhaltiger Erfrischungsgetränke zu konsumieren, verstärkt diesen Trend zur unfreiwilligen Komik nur. So waren wohl auch an diesem Abend etliche Kannen Bier im Spiel gewesen, als ein junger Mann zwischen zwei Liedern auf der Bühne erschien und vom Sänger bereitwillig das Mikrofon gereicht bekam.

Was dann folgte, waren allerdings nicht ´mal die gestammelten Werke eines ansonsten sicher tiefgründigen Wesens. Der Typ hat zwar den Mund aufgemacht, aber aus diesem heraus kam: einfach nur gar nichts. Das war, als wenn jemand versuchte, einen Playback-Auftritt hinzulegen, die Technik aber versäumt hat, den dazugehörigen Ton bereitzustellen.

Nach ein paar ewig lang erscheinenden Sekunden dieses Stummfilm-Klassikers hatte der arme Kerl ein Einsehen und gab das Mikrofon – wortlos – an den Sänger zurück. Dieser wiederum verabschiedete den verhinderten Wortkünstler spontan mit dem bis heute unvergessenen Ausspruch: „Das war gerade der Sprecher der Adlerfront.“

Mein Bruder hat sich über meine Schilderung dieser Aktion fast noch mehr amüsiert als über das bis dahin gezeigte Programm.

Nach der Pause blieb es übrigens ruhig hinter uns. Die Frau hat ihre Ankündigung – im Nachhinein bin ich fast geneigt zu sagen: ihr Versprechen – wahr gemacht und ist dem zweiten Teil freiwillig ferngeblieben. Konsequent war sie wenigstens.

Und auch über diesen Move hat sich mein Bruder fast noch mehr amüsiert als über das ohnehin gelungene Programm.

Auszeit

Du kommst jetzt gerade ´mal in die zweite Klasse, dachte ich mir. Da stellt sich so manche Frage in dieser Form zum Glück noch nicht.

Eine gescheite Antwort wäre mir auf die Frage meines Sohnes, ob Youtuber ein Beruf sei, auf die Schnelle auch nicht eingefallen. Um ehrlich zu sein, habe ich mehrere Wochen später immer noch keine kluge Antwort darauf. Auf die Annahme, Unboxing-Videos und Beauty Channels wären vorübergehende Irritationen beim Übergang in eine bessere Gesellschaft, mag man sich dann irgendwie doch nicht mehr verlassen.

Ich hätte es mir leicht machen können. Besser: Ich hatte es mir leicht machen wollen. Anschauungsmaterial, bei dem sich selbst ernannte Experten um Kopf und Kragen reden, braucht man schließlich nicht lange suchen. Drei bis vier Beispiele – fertig ist der Verriss!

Sicher ist: Für einige Leute bedeutet es eine glückliche Fügung des Schicksals, dass sie auf Youtube Erfolg haben, weil sie zur Ausübung irgendeines regulären Berufes ziemlich offensichtlich kaum in der Lage wären. In dieser Hinsicht unterscheiden sie sich übrigens nur unwesentlich von manchem Profifußballer oder auch dem einen oder anderen Polizeibeamten, der andernfalls mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit auf der zu bekämpfenden Seite gelandet wäre.

Andererseits möchte ich lieber nicht wissen, was wir früher alles fabriziert hätten, wenn wir dieselben Möglichkeiten gehabt hätten. Aber was hatten wir? Den Offenen Kanal. Wenn wir ein Video gedreht haben, war allein der Datenträger viermal so groß wie ein heutiges Smartphone. Die komplette Ausrüstung wog mehrere Kilogramm und passte auch von der Größe her längst nicht in die Jackentasche. Überall und jederzeit Aufnahmen zu machen, war also nicht drin. Dass wir uns also vorher gut überlegen mussten, was genau um Himmels Willen wir vorhaben, wenn wir die Kamera anschmeißen, hat uns wohl vor großen Fehlern bewahrt. Dieses Korrektiv fehlt heutzutage.

Auch über die Mittel, die den Kids auf Seiten der Verbreitung heute zur Verfügung stehen, hätten wir uns damals gefreut. Wir hatten unsere Zeitschrift, die vierteljährlich erschien, und freuten uns, dass die Auflage von 1500 Exemplaren binnen weniger Tage vergriffen war. Verglichen mit dem, was heutzutage selbst der letzte Honk potentiell an Reichweite erzielen kann, erscheint es fast unglaublich, dass wir uns damit in der Stadt einen gewissen Ruhm erarbeitet hatten.

Gewiss lernten wir in diesem Zusammenhang auch Stress kennen. Doch allein die Erscheinungsweise verhinderte, dass wir jemals auf den Gedanken gekommen wären, Masse statt Klasse produzieren zu wollen. Alles in allem war diese Form von Stress überhaupt nicht zu vergleichen mit dem Druck, jeden Tag am besten mehrfach irgendetwas veröffentlichen zu müssen.

Natürlich leiden die Inhalte darunter, dass in der schönen neuen Welt ständig nachgelegt werden muss, um im Gespräch zu bleiben. Und natürlich darf man sich darüber amüsieren, wenn deswegen Belanglosigkeiten oder tausendfach Gesagtes in die Welt hinausgetrötet werden muss. Sollte es allerdings wahr sein, dass man in diesem Business umgehend Abonnenten verliert, wenn ´mal ein Tag nichts veröffentlicht wird, muss auch die Frage, was denn da auf der Konsumentenseite bitte durcheinander geraten ist, zumindest gestellt werden dürfen. Ausgebrannte Youtuber sind zur Zeit ein heißes Thema. Das kann bei solch jungen Menschen auch nicht einfach mit einem „selbst schuld“ beiseite gewischt werden.

Selbst bei mir, der ich lediglich einmal pro Woche etwas veröffentliche, erkenne ich Probleme, das neben Vollzeitjob, Hund und Katze, dem Bedürfnis nach Entspannung, Haushalt, Nebenerwerb und dem Versuch, eine Partnerin fürs Leben zu finden, irgendwie zu managen. Fakt ist: Allein das, was sich zur Zeit im Haushalt an unerledigten Aufgaben aufgestaut hat, würde ausreichen, um in weiteren zwei bis drei Partnerinnen den Entschluss zur Trennung reifen zu lassen. Da wird also schon einiges dem Ziel, jeden Sonntag etwas Schönes vorzeigen zu können, untergeordnet. Die Schwierigkeit, dabei überhaupt immer wieder ´mal Themen zu finden, die ich noch nicht beackert habe und zu denen ich gleichzeitig etwas Relevantes zu sagen hätte, ist dabei noch nicht einmal berücksichtigt.

Die Antwort, die ich meinem Sohn demnach hätte geben müssen, als er die Youtube-Frage stellte: Beruf ja, erstrebenswert nein.

Nachdem sich allerdings letzte Woche wieder einmal ein hoffnungsloser Fall bei uns im Lager vorgestellt hatte, dachte ich mir zweierlei:

  1. Man muss nicht Youtube anwerfen, um auf selbsternannte Experten zu stoßen.
  2. Vielleicht ist das Geld in eine vernünftige Ausrüstung und die Zeit für die Ausarbeitung eines gescheiten Plans für eine Karriere als Youtuber doch ganz gut angelegt, weil alles besser ist als in irgendeinem Lager dieser Welt mit solchen Kollegen das komplette Leben zu verschenken.

Wie ich lernte, Kaffee zu hassen

Kaffeeklatsch. Als ich Kind war, bedeutete die Ankündigung eines solchen stets, dass ich mich auf eine relativ spaßbefreite Veranstaltung vorbereiten durfte: Wenn Frauen sich trafen und redeten und dabei Kaffee konsumierten, war man als Kind mehr oder weniger im Abseits. Schließlich konnte ich weder mit Kaffee noch mit quatschenden Frauen besonders viel anfangen. Immerhin: Die düstere Vorahnung, dass sich an beiden Sachverhalten im weiteren Verlauf meines Lebens höchstens graduell noch etwas ändern würde, hatte ich damals schon. Daran konnte auch die regelmäßige Entschädigung in Form von Streuselkuchen nichts Grundsätzliches ändern, sondern die Entwicklung einer gesunden Abneigung gegen dieses Heißgetränk höchstens hinauszögern.

Es kam natürlich zunächst, wie es kommen musste: Als Heranwachsender beginnt man irgendwann, Rituale erwachsener Vorbilder zu imitieren. Also braute ich mir gelegentlich nach der Schule Kaffee, verzichtete jedoch auf die dazugehörigen Elemente Kuchen und Klatsch. Was keine erschütternd negative, gar traumatische Erfahrung gewesen ist und deshalb immer noch keine ausreichende Begründung lieferte, das schwarze Gebräu so abzulehnen, wie ich es heute tue. Es leuchtete mir seinerzeit schlicht und ergreifend irgendwann nicht mehr ein, warum ich nachmittags Kaffee trinken sollte, wenn ich auch Bier trinken kann.

Schmecken tat beides nicht. Anregend wirkte beides. Zwar auf unterschiedliche Weise, aber immerhin. Olfaktorisch hatte Kaffee dem Bier gegenüber einen klaren Punktvorteil, aber letzten Endes gab den Ausschlag, dass Kaffee hinterher nicht schuldmindernd wirkte, wenn man Dummheiten begangen hatte. (Die man überwiegend auch nicht begangen hätte, wenn man nur Kaffee getrunken hätte, aber das ist eine andere Geschichte.)

Nach und nach mehrten sich Erfahrungen, dass Kaffeetrinker im Grunde die Bremser waren, die den Beginn jedweder anstehenden Aufgabe grundlos verzögerten. Weil: „Ohne Kaffee geht gar nichts.“ Dass anschließend die Müdigkeit verschwindet und die Leistungsfähigkeit zunimmt, habe ich in dieser Zeit jedoch auch nur bei den wenigsten Kaffeetrinkern gesehen. Bei den meisten tat sich trotz mehrerer Tassen immer noch nichts. Es war dies die Zeit, in der ich das erste Mal in meinem Leben bewusst Vorurteile pflegte. Da ich mich meinerseits mit verschiedensten Vorurteilen konfrontiert sah ob meines überdurchschnittlichen Konsums von Bier und Apfelwein, empfand ich das als gerecht.

Es darf nicht wirklich verwundern, dass meine nächste Konfrontation mit exzessiven Kaffeetrinkern in Selbsthilfegruppen für Alkoholiker stattfand. Die Forschung bemüht sich ja, herauszufinden, wie viele Tassen täglich noch als gesund oder zumindest als nicht schädlich anzusehen sind. Die Übergänge zwischen normalem und extremem Kaffeekonsum sind ja genauso fließend wie beim Alkohol. Man kann sich allerdings auch beim Schwarzen Gold sicher sein, in weltweit jeder solcher Selbsthilfegruppen mindestens ein Exemplar anzutreffen, das jede Obergrenze an medizinisch ratsamen Mengen sprengt.

Was ich aus dieser Zeit ebenfalls weiß: Selbst wenn Kaffee gesund ist, bewirkt er nicht automatisch, dass jemand auch gesund aussieht. Generell heißt es ja, dass Kaffee schön macht. Auch für diese Behauptung würde ich seitdem nicht mehr meine Hand ins Feuer legen. Und hierbei ist jetzt noch nicht einmal berücksichtigt, dass sich Jahre später in einer Facebook-Gruppe für Singles beide Befunde bestätigt sehen sollten. Wenn mir als Abstinenzler sonst nicht wirklich etwas fehlt – als Single vermisst man irgendwann doch die Möglichkeit, sich fremde Menschen schön zu saufen. Wenn man dazu dann noch feststellt, dass es mit den Möglichkeiten, sich selbst schön zu saufen, auch nicht so weit her ist, ist das natürlich auf spezielle Weise ernüchternd.

Mit der Schönheit ist es natürlich so eine Sache. Als im Glashaus Sitzender bin ich diesbezüglich auch gut beraten, mit Steinen nicht allzu sehr um mich zu schmeißen. Man muss manche Leute außerdem auch nicht unbedingt mehr hassen als notwendig. Was mir aber massivst auf den Zeiger geht, sind diese täglichen gegenseitigen Bestätigungen der ewig gleichen zehn Gruppenmitglieder, dass ein Leben ohne Kaffee streng genommen nicht möglich ist. Da spielt es sogar schon fast keine Rolle mehr, dass auch andere Beiträge in dieser Gruppe den Verdacht aufkeimen lassen, da hätte jemand ordentlich Cognac in seinen Kaffee geschüttet – das ist peinlich, das ist oberflächlich, das ist mitnichten ein Beleg für ein funktionierendes Gruppenleben.

Das Ziel dieser Gruppe sowie ähnlicher Plattformen im world wide web sollte ja bleiben, irgendwo in irgendeiner Ecke dieses schönsten aller Ballungsgebiete irgendjemanden zu finden, der irgendwie mit meinen Macken umzugehen bereit ist, um im Gegenzug von geistreicher, kurzweiliger und humorvoller Unterhaltung und einer zuverlässigen, vertrauenswürdigen und irgendwie aber auch unkonventionellen Persönlichkeit mit einem gewissen Kreativpotential und einem hohen Maß an emotionaler Intelligenz zu profitieren. Davon, dass das mitunter schwieriger ist als es klingt, war schon hin und wieder hier im Blog zu lesen. Dass mich dabei Vorgänge wieder einholen, die 18 Jahre zurück liegen, überrascht dann aber sogar mich. Wenn nach zwei Wochen intensiven Schreibens das Geständnis meiner Säufer-Vergangenheit von jetzt auf gleich zu einem kategorischen Ausschluss meiner Person als potentieller Partner führt, darf man auch ´mal darüber sinnieren, was passiert und eventuell sonst noch alles möglich gewesen wäre, wenn ich mich an irgendeiner Stelle meines Lebens für Kaffee statt Bier entschieden hätte.

Letzten Endes ein Grund mehr, die Plörre zu hassen.

Gesichter der Spontanität

Manches kann man recherchieren, anderes wird man nur schwer noch herausfinden können. So findet man zwar dank des www in wenigen Sekunden heraus, bei der wievielten Rechtschreibreform der Spontaneität ihr ´e´ abhanden gekommen ist. An der viel aufschlussreicheren Frage, wann man selbst seiner Spontanität verlustig gegangen ist, wird jedoch noch die leistungsfähigste Suchmaschine glorreich scheitern.

Weil es arg ungerecht wäre, wenn es mir in dieser Hinsicht besser ginge als dem Rest der Welt, kann auch ich heute nur schwer verorten, wann genau in meinem ohnehin ereignisarmen Leben ich ein letztes Mal spontan gewesen bin. Vielleicht war es der Abend im Mai 2005, an dem ich mich entschied, mir bei ebay eine gebrauchte Profi-Hüpfburg zuzulegen und diese Investition als Start in eine hoffnungsfrohe Zukunft im Veranstaltungs-Business zu betrachten. Jahre später weiß ich: Etwas mehr Überlegung hätte an dieser Stelle nicht direkt geschadet.

Auf solche oder ähnliche Weise hat wahrscheinlich ein jeder schon einmal seine Erfahrungen mit spontanen Anschaffungen gemacht, von denen er wenig später festgestellt hat, dass man sie streng genommen wenig bis gar nicht braucht. Viele Haustiere zum Beispiel wissen von dieser Form der Spontanität ein Lied zu singen.

Es hilft alles nichts: Um jetzt noch spontan zu werden, bin ich wohl schon fast zu alt. Nein, natürlich hat mangelnde Spontanität nichts mit dem Alter zu tun. Aber mit dessen Begleiterscheinungen: Vollzeitjob, Kinder, Paarbeziehung sind ja so einige der üblichen Verdächtigen, wenn es um Spontanitätshemmer geht. Womit nicht behauptet werden soll, dass es scheiße ist, das Genannte alles zu haben. Aber man sollte eben aufhören, so zu tun, als könne man gleichzeitig auch noch spontan in seinem Handeln sein. Nehmen wir die Paarbeziehung: Wenn man beispielsweise das Ende der Zusammenkunft mit Freunden spontan um drei Stunden nach hinten verschiebt, weil das Bier gerade ganz gut läuft, kann man sich sehr sicher sein, dass bei der Heimkehr garantiert nicht die Spontanität gelobt wird. Spontanität ist sowieso ein Kampfbegriff, der übersetzt so viel heißt wie: Mach´ doch bitte etwas mehr von dem, was ich möchte. Ich denke, das bildet die Realität in den meisten Haushalten eher ab als irgendwelche Lippenbekenntnisse, man wünsche sich einen spontanen Partner.

Nein, es bleibt schwierig, im Nachhinein noch herauszufinden, wann das alles angefangen hat. Wer damit angefangen hat. Man muss es genau genommen auch gar nicht so genau wissen. Waren wir nicht alle ein bisschen stolz auf einen prall gefüllten Terminkalender, der uns bescheinigte, wichtig zu sein. Unabkömmlich. Doch manches, was früher das Selbstwertgefühl festigte, ist 25 Jahre später einfach nur noch nervend: Du brauchst vier Vorschläge und drei Wochen, um Dich mit einem Freund zu verabreden. Wenn Du Dich mit gleich zwei anderen Menschen verabreden willst, brauchst Du eine Whats-App-Gruppe, zwölf Terminvorschläge und acht Wochen. Zeit. Spontanität hat ja nicht ganz unwesentlich mit Zeit zu tun. Zeit, die niemand mehr hat.

Das Leben ist durchgetaktet und weitgehend organisiert. Spontanität wird verschoben. Aber auf wann eigentlich? Auf den Urlaub? Die Rente? Oder auf die Zeit, in der man spontan gar nicht mehr kann und man dankbar ist, wenn wenigstens ein Nachbar hin und wieder spontan fragt, ob er etwas vom Supermarkt mitbringen soll. Nächster Schritt ist das Pflegeheim, das so spontan ist wie ein von A bis Z durchgestylter Instagram-Post eines beliebigen Möchtegern-Influencers.

Doch Rettung naht: Spontanität lässt sich lernen. Einfach immer öfter ´mal „Ja“ sagen, lautet das Heilsversprechen, von allerlei Fach- und Nichtfachleuten zigfach reproduziert und in youtube-Tutorials oder zwischen Buchdeckel gepackt. Das hört sich gut an. Doch spätestens wenn durch das Ja zu Überstunden, zu Tanzkurs und zur Kandidatur als Elternbeirat die Woche noch voller ist als sie ohnehin schon war, sollte man die Anschaffung des Bestsellers „Die Kunst, ´Nein´zu sagen“ als Ausgleich wenigstens in Erwägung ziehen.

Als ob das alles noch nicht reichen würde, den Wahnsinn rund um Spontanität zu beschreiben, hat sich in den letzten Jahren eine neue Form der Spontanität rasant ausgebreitet, vielmehr eine als Spontanität getarnte Unverbindlichkeit, nicht selten einhergehend mit einem individuellen Unvermögen, vernünftig zu planen.

Spontanität bedeutet nach dieser Lesart weniger, sich kurzfristig zu entschließen, etwas zu tun. Sondern es bedeutet, sich alle Möglichkeiten offen zu halten und erst kurz vor knapp eine Entscheidung zu treffen. Im Kern beinhaltet diese Pseudo-Spontanität demnach die Praxis, geplante Aktivitäten kurzfristig abzusagen und dabei in Kauf zu nehmen, andere Menschen dadurch zu verärgern. Wer das mit Spontanität verwechselt, darf das gern weiter so handhaben, muss dann allerdings damit leben, dass ich das nicht unbedingt als positive Charaktereigenschaft bezeichnen würde.

Kommen wir abschließend zur würdelosesten Form der Spontanität. Jene nämlich, bei der Menschen in meinem Alter, wirklich „irre“ Sachen machen, um sich selbst und anderen zu beweisen, wie cool und vor allem jugendlich sie noch sein können. Demonstrativ Spaß haben. Manch einem mögen da spontan Junggesellenabschiede in den Sinn kommen. Das Phänomen lässt sich aber genauso gut bei stinknormalen Mädelsabenden oder Zusammenkünften midlife-crisis-geplagter Männer beobachten. Gemeinsames Merkmal ist ein erwachsenen Menschen unwürdiges Verhalten, das auf Außenstehende eine Wirkung irgendwo zwischen peinlich und verstörend hat. Sich selbst und der Gruppe gegenüber bestätigt man sich allerdings gegenseitig, einfach nur „total verrückt“ zu sein. Was ich als Selbstzuschreibung schon immer verdächtig fand und bis heute finde. Was daran liegen kann, dass es bis heute niemandem gelungen ist, mir zu erklären, was genau jetzt besonders „crazy“, „abgefahren“ oder eben „spontan“ sein soll, sich zu Klängen einer Coverband auf einem beliebigen Stadtfest dieser Republik unrhythmisch zu bewegen. Dass das in dieser Formvollendung zumeist nur unter Zuhilfenahme von reichlichen Mengen Alkohol überhaupt gelingt, macht die Angelegenheit ja nicht weniger peinlich.

Das sind dann die Momente im Leben, in denen es eine untergeordnete Rolle spielt, wann genau die eigene Spontanität verloren gegangen ist. Denn wenn das Spontanität bedeuten soll, muss man im Grunde froh sein, sie überhaupt losgeworden zu sein.

Schicksalsspiel

Manchmal ist man einem Ziel so nahe, dass man den eigenen Beitrag für das Zustandekommen dieser Situation beinahe leugnet und sich hauptsächlich verwundert die Augen reibt und fragt, ob man das letztendliche Erreichen dieses Ziels überhaupt verdient hätte.

Rekapitulieren wir also die Ausgangssituation: Ein Samstag Mitte Mai. Der 34. und somit letzte Spieltag der Fußballbundesligasaison 2018/19. Mein Herzensverein hatte viel zu verlieren, nämlich die Teilnahme an einem europäischen Wettbewerb in der nächsten Spielzeit. Umgekehrt war günstigstenfalls sogar noch ein Startplatz in der Champions League zu erreichen. Allerdings war ein Sieg beim FC Bayern, der seinerseits noch etwas zu verlieren hatte, nämlich nichts weniger als den siebten Meistertitel in Folge, demgemäß etwas mehr als eine bloße Formalität. Anders ausgedrückt: Man sollte lieber ´mal mit nichts rechnen, um hinterher nicht gar zu enttäuscht zu sein. Andererseits: Herzschlagfinale können wir ja bei meinem Verein. Dieser Spieltag versprach also in vielerlei Hinsicht spannend zu werden.

Die Voraussetzungen an diesem Samstagnachmittag als optimal für ein erstes Date zu bezeichnen, würde der Situation also nur bedingt gerecht. Darauf, dass das um 14 Uhr anberaumte Treffen bis zum Anpfiff um 15.30 Uhr möglicherweise schon beendet ist, wollte ich aus nachvollziehbaren Gründen nicht spekulieren.

Meine Verabredung hatte sich für eine Garderobe in einer dem frühlingshaften Wetter entsprechenden Farbkombination Schwarz-schwarz entschieden, ich selbst trat in rotem Hemd an. Weil es mir so gefiel, aber auch weil Rot als Farbe gilt, deren Träger ein hoher Status, Selbstbewusstsein, Dominanz und infolgedessen sexuelle Attraktivität zugeschrieben werden.

Es gibt nun zwei Möglichkeiten: a) Es ging es an diesem frühen Nachmittag nicht um sexuelle Attraktivität. Oder b) Die Farbpsychologie irrt an diesem Punkt. Ich möchte nicht zu viel verraten, aber ich tendiere inzwischen zur zweitgenannten Lesart. Ich muss jedoch zugestehen, dass man mit der Zuschreibung von Unnahbarkeit zu Schwarz einen nicht zu beanstandenden Treffer gelandet hat. Die Farbpsychologie gleicht aus zum Endstand von 1:1. Im Sportjournalismus würde zu diesem Sachverhalt jetzt die Floskel bemüht, dass dieses Unentschieden keinem wirklich weiterhelfe.

Nachdem also die ersten 45 Minuten gespielt waren, offenbarte sie mir, dass es kein Rückspiel, nicht einmal eine zweite Halbzeit geben würde. Ich erinnerte mich daran, dass viele Frauen schon bei Angelegenheiten weitaus geringeren Ausmaßes keinen Widerspruch dulden und verzichtete aus diesem Grund auf offizielle Proteste. Ich hatte mich damit abzufinden, dass der erste Verlierer dieses Tages bereits feststand, bevor die anderen Begegnungen überhaupt angepfiffen waren.

Manchmal ist das eben noch greifbar nahe Ziel mit einem Schlag so weit entfernt, ohne dass man überhaupt mitbekommen hätte, an welcher Stelle man etwas getan oder unterlassen hat, was das Zustandekommen dieser Situation begünstigt hat. Man reibt sich verwundert die Augen, weil man dieses Scheitern letztendlich auch nicht verdient hat.

Es passe für sie nicht.

Nicht dass mir ein höfliches und dennoch vorwurfsvolles „Es ist, weil Du stinkst“ lieber gewesen wäre. Im Gegenteil würde jeder direkte und konkrete Hinweis auf das Warum das Risiko noch größerer Verletzung bergen, hätte aber zumindest den Vorteil, dass man nur mit ein, maximal zwei Fragen zurückgelassen wird und nicht mit einem ganzen Berg davon: Warum hat sie mir bei der persönlichen Begegnung schon früh meiner Feststellung widersprochen, unsere vorherige schriftliche Unterhaltung sei recht vertraut gewesen? War es der Drei-Tage-Bart, den ich absichtlich stehen lasse, um männlicher zu wirken, der allerdings natürlich auch als ungepflegt angesehen werden könnte, so wie das rote Hemd ja seine beabsichtigte Wirkung ebenfalls schon knapp verfehlt hatte? Man weiß es nicht. Weder bin ich im Trainingsanzug erschienen, was andere Männer bei solchen Gelegenheiten ja schon fertiggebracht haben, noch habe ich sie in Grund und Boden geredet. Was andere Männer und Frauen ja ebenfalls schon fertiggebracht haben, man sich bei mir aber selbst mit viel Phantasie nicht wirklich vorstellen kann.

Anders als beim Fußball jedoch kennzeichnet ein Date, dass es nicht, bloß weil es einen Verlierer gibt, auf der anderen Seite einen Gewinner gäbe. Denn so wie sich meine Verabredung hergerichtet hatte, sehr offensichtlich vorher beim Friseur gewesen war, wird sie ja nicht triumphierend, sondern auch leicht enttäuscht den Heimweg angetreten haben und konnte einem demnach fast schon wieder leid tun.

Ich gestehe: Ziemlich viel Mitleid für einen dominanten, selbstbewussten und männlichen Charakter, den ich an diesem Samstag im Mai darstellen wollte. Auf den Gedanken, das Ergebnis könnte damit zusammenhängen, dass ich eine Rolle spielen wollte, die nicht zu mir passt, und sie das natürlich umgehend entlarvt hat, kam ich erst knapp eine Woche später. Aber es muss ja auch noch etwas geben, das man beim nächsten Mal besser machen kann.

Manchmal braucht man einfach ein bis zwei Tage, um Ziele neu zu justieren. Ein paar Tage, in denen man sich eben auch nicht zwingen sollte, einen Blogeintrag fertigzustellen. Tage, in denen das Zustandekommen dieser Situationen analysiert wie auch in sonstiger Weise verarbeitet werden kann. Um die Augen, welche die letzten zwei Tage nicht aus Verwunderung, sondern aufgrund der Tränen der Enttäuschung gerieben wurden, alsbald wieder nach vorn zu richten.

Ganz im Sinne des bekanntesten lebenden Fußballphilosophs Deutschlands, der fast auf den Tag genau 27 Jahre vorher das Trauma der verpassten Meisterschaft meines Lieblingsvereins sehr pragmatisch in nur drei Worten bewältigt hat: Lebbe geht weider!

Weder Fisch noch Fleisch

Es stand zu befürchten, dass es an jenem Abend um die Wurst gehen würde. Wenn Freunde, die ich über ein halbes Leben lang kenne, zum Grillen laden, ist mit besonderem Rechtfertigungsdruck zu rechnen, wenn ich plötzlich Vollkornbratlinge und vegetarische Steaks und Bratwürste aus Mycoprotein auflege. Also rechnete ich damit, dass ich neben dem Grillgut auch Ernährungsmythen aufgetischt bekomme und bereitete mich auf ausufernde Diskussionen vor, die mein coming out als Quasi-Vegetarier begleiten würden. Um die Angelegenheit nicht zusätzlich zu verkomplizieren, hätte ich im Falle eines Falles unterschlagen, dass ich nach wie vor Fisch esse.

Überraschenderweise durften meine Sachen auf dem selben Grill wie die „echten“ Steaks und Bratwürste gegart werden, ohne dass ich Fachvorträge über ausgewogene Ernährung serviert bekam. Mein Fleischersatz wurde gleichberechtigt mitüberwacht und gewendet, egal wer gerade vor dem Grill stand und diese Aufgabe übernahm. Keine Diskussionen, kein Glaubenskrieg. Fast war ich ein bisschen enttäuscht. Ich kann mir vorstellen, dass das die Momente sind, in denen Angehörige der „Seit ich mich fleischlos ernähre“-Fraktion so sehr beleidigte Leberwurst sind, dass sie zur Vorwärtsverteidigung übergehen und beginnen, ungefragt allen anderen Anwesenden mitzuteilen, dass und warum und mit welchen Auswirkungen auf ihren Körper bis hin zu Details über ihre Darmentleerung und wie lange sie bereits auf Fleisch verzichten. Und damit die Diskussion, die ihnen angeblich so gar nicht schmeckt, überhaupt erst anzetteln und sich damit ins eigene Fleisch schneiden.

Vielleicht war es mangelnder meinerseitiger Missionseifer, der an jenem Abend zu einer friedlichen Koexistenz, einem Leben-und-leben-Lassen führte. Angst, dass ich irgendwem etwas wegesse, kann es ja wohl kaum gewesen sein. Vielleicht war es auch einfach Zufall oder Glück. Denn dass ich überhaupt nirgends auf Leute treffe, die ein Problem damit habe, wie ich mich ernähre, kann ich ja auch nicht behaupten.

Das eigentlich Nervende dabei ist, die Auseinandersetzung an mehreren Fronten führen zu müssen. Man will einfach nur ein wenig bewusster leben und wird dafür von beiden Seiten angemacht: Auf der einen Seite die „Erleuchteten“, die – sorry wegen der folgenden Verwendung dieser überstrapazierten Redewendung – eingefleischten Vegetarier und Veganer. Die sich nicht im Klaren darüber sind, dass nicht wegen, sondern trotz ihnen immer mehr Menschen in diesem Land fleischlos oder wenigstens fleischarm ernähren.

Auf der anderen Seite die Betonköpfe. Denen der Slogan „Fleisch ist ein Stück Lebenskraft“ von vor vierzig Jahren in Fleisch und Blut übergegangen ist. Die auch sonst Probleme mit Veränderungen haben, die sie aus ihrer Komfortzone zwingen.

Den Tieren wiederum, die nicht ihr Leben gelassen haben, weil sich einer oder mehrere Menschen für ein Schnitzel aus Soja anstelle eines aus Schwein entschieden haben, wird es wurst sein, ob sich deswegen irgendwelche Leute ihre Köpfe einschlagen. Das – immerhin – ist die eigentlich gute Nachricht.

Dass ich mich in den letzten zwei Jahren beinahe vollständig von Fleisch losgesagt habe, liegt ja zuallerletzt daran, dass mir das Zeug plötzlich nicht mehr geschmeckt hätte. Klar: Manche Bratwürste, auf irgendwelchen Festen im Brötchen dargereicht, waren geschmacklich schon eher zum Abgewöhnen. Die waren keinen Deut besser als die ersten Sojabratwürste, die ich probiert habe und die in mir angesichts ihrer absoluten Geschmacklosigkeit den Verdacht nährten, dass die von der Fleischindustrie absichtlich auf den Markt geworfen wurden, um der Welt zu beweisen, dass das Original der fleischlosen Kopie immer überlegen sein wird.

Und trotzdem: Wenn es mir nicht über 40 Jahre lang gut geschmeckt hätte, hätte ich es auf dem Teller gelassen. Da ich aber im großen und ganzen zufrieden war und satt geworden bin, bin ich geschmacklich und emotional natürlich geprägt. Hier kommen dann die Imitate ins Spiel. Und da sind im Laufe der Zeit immer bessere dazu gekommen, und deswegen steht mir jetzt irgendein armes Würstchen gegenüber, nuckelt an seiner E-Zigarette irgendwas, das nach Beere riecht, und erklärt mir, dass das, was ich esse, nicht „echt“ sei.

Ist es auch nicht. Muss es aber auch nicht. Mir persönlich reicht aus, eine Alternative zu haben, mittels derer ich zudem gelegentlich die wunderbare Formulierung „Es ist nicht das, wonach es aussieht“ ihrem eigentlichen Kontext entreißen kann.

Ansonsten würde ich höchstens noch empfehlen wollen, sich bei der Diskussion nicht gegenseitig zu zerfleischen, und beende den Text mit der beliebten Formel: Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei.

Achtung, Spoiler!

Im Rückspiegel betrachtet war mit Sicherheit nicht jede Entscheidung in meinem Leben besonders glücklich getroffen. Jedoch bin ich in Zeiten wie diesen einigermaßen erleichtert, nicht auch noch zu Filmen oder Serien eine ausgeprägte Leidenschaft entwickelt zu haben. Wo der ganz normale Wahnsinn, der mich tagtäglich umgibt, für sich genommen schon ausreichen würde, um zwei weitere Leben zu ruinieren, wäre es nicht auszuhalten, wenn sich dazu noch die ständige Sorge gesellte, irgendjemand könne mir durch Preisgabe wesentlicher Details aus kinematografischen Produktionen, welche ich erst noch vorhatte anzuschauen, vorsätzlich oder fahrlässig den Spaß an denselben verderben.

Natürlich würde ich dieses Desinteresse gern als das Ergebnis einer rationalen und weitsichtigen Entscheidung darstellen. Wenn ich es aber den Tatsachen entsprechend als zufällige Fügung des Schicksals charakterisiere, erklärt sich auch meine spontane Reaktion auf die um sich greifende Angst vor Spoilern: Unverständnis.

Und wie so oft, wenn ich etwas nicht verstehe, finde ich es kindisch.

Diese Einordnung könnte auch daran liegen, dass ich meine erste Erfahrung mit Spoilern meinem früheren Mitbewohner verdanke, dem man bestimmt kein Unrecht tut, wenn man ihn als einen zu damaliger Zeit einigermaßen unreifen Zeitgenossen beschreibt.

Jener Mitbewohner also verbat es sich, dass ich ihm gegenüber an einem Samstagnachmittag Ergebnisse oder sonstige Details des gerade beendeten Bundesligaspieltages andeute, bevor er die Zusammenfassung des Spieltages am Abend fertig geschaut hat.

Zwar bin ich mir sehr sicher, dass es weniger an meinem geistigen Unvermögen gelegen hat, aber im Ergebnis läuft es auf das Gleiche hinaus: Ich habe es – damals wie heute – nicht verstanden. Die Spiele waren schließlich vorbei, die Ergebnisse demnach bekannt. Als Fan in dieser Situation dennoch zu warten, bis man Stunden später einen aufgewärmten Zusammenschnitt der besten Szenen serviert bekam, hat doch mit Sport nichts mehr zu tun.

Im Zeitalter von Push-Benachrichtigungen kann man 20 Jahre später die Angst vor Spoilern unter anderen Vorzeichen erfahren: Man muss schon einiges an Energien aufwenden, um noch nicht erwünschte Informationen auch noch nicht zu erhalten. Es darf getrost als Treppenwitz bezeichnet werden: Ausgerechnet Angehörige einer Generation, die den Zustand offline überhaupt nicht mehr oder höchstens als unbedingt zu vermeidendes Katastrophenszenario kennt und die sich die aktuelle Temperatur lieber von einer App abliest anstatt vor die Tür zu treten und zu spüren, wie warm oder kalt es ist – ausgerechnet Angehörige dieser Generation unterwirft sich freiwillig dem Härtetest der Internet-Abstinenz, sobald ein Film oder eine neue Staffel einer Serie zu sehen ist, man selbst aber noch keine Gelegenheit zum Ansehen hatte. Nur um bloß nicht vorab darüber informiert zu werden, wer beispielsweise in Serie XY alles stirbt. Als ob nicht sowieso früher oder später alle sterben. In besagter Serie wie im echten Leben.

Und weil sie in ihrer Panik Unterhaltungen abwürgen oder das Radio leise machen, sobald sie auch nur den Verdacht haben, es könnte etwas gesagt werden, was sie nicht wissen wollen, gehen sie den meisten anderen Menschen einigermaßen auf die Nüsse.

In Hongkong wurde ein Mann verprügelt, weil er die in der Schlange vor dem Kino stehenden durch lautstarkes Schildern von Details aus dem Film provoziert hatte. Klar mussten schon Leute für weniger angezählt werden. Andererseits gibt es sicher edlere Gründe, jemandem ein Klotz zu schicken. Irgendwann wird noch einer getötet mit der Begründung, er wusste zu viel. Entsprechende Drohungen, Festnahmen und dazu gehörende Schulschließungen hat es tatsächlich schon gegeben. Und manch einer wünscht sich bereits die gute alte Zeit zurück:

Solange das klassische Fernsehen dominierte und man sich noch nicht jederzeit überall alles anschauen konnte, begann ein Film, eine Serie, eine Show oder sonst irgendeine Sendung zu einer bestimmten Zeit. Wer eine Folge der Lindenstraße verpasst hat und zu blöd, zu faul oder zu vergesslich war, den Videorekorder zu programmieren, war ohne Wiederholung und Mediathek im Grunde sehr dankbar, wenn jemand ihm erzählen konnte, was passiert war, damit er sich nicht am nächsten Sonntag den Lauf der Dinge erst erschließen musste.

Bei Kinofilmen waren es gerade die Spoiler, die uns eine regelrechte Vorfreude beschert hatten. Die uns als besten Teile geschilderten Szenen konnten wir kaum abwarten, sie selbst zu sehen. Wer es nach sechs Wochen immer noch nicht ins Kino geschafft hatte, wartete bis der Film eineinhalb Jahre später im TV gezeigt wurde und hatte ansonsten keine Schwierigkeiten damit, dass ihm in der Zwischenzeit schon alles Wichtige und Unwichtige über den gewünschten Film erzählt wurde.

Dass in Drei Amigos in einer Szene versehentlich der unsichtbare Krieger erschossen wird, war Allgemeinbildung. Genauso verhielt es sich mit dem Kampf der Ritter der Kokosnuss gegen den Schwarzen Ritter, der selbst dann noch dachte, die Auseinandersetzung gewinnen zu können, als ihm bereits alle Gliedmaßen abgetrennt waren. In beiden Fällen (und etlichen anderen) sorgte dieses Wissen mitnichten dafür, dass wir gähnend darüber hinweg sahen. Im Gegenteil ging das Gejohle schon los, als wir wussten: Jetzt! Gleich! Ist es so weit!

Dass hier gerade Äpfel mit Birnen verglichen werden, mag ich gar nicht abstreiten. Mir geht es um das Aufzeigen von Möglichkeiten. Wir haben das stressfrei überlebt. Wir haben niemandem eine Schelle verpassen müssen, nur weil er uns vor dem Kino mit Inhalten des Films zugetextet hat. Wenn wir jemandem eine Schelle verpassen mussten, hatte das triftige Gründe. Aber ich hatte noch nie das Gefühl, mir fehlt etwas, weil ich vorab zu viel über einen Film wusste. Und ich hatte noch nie schlaflose Nächte, weil ich Angst hatte, jemand könne etwas verraten.

Ich war andererseits wie erwähnt nie ein Filmfan. Kann mich also nur bedingt hineinversetzen. Ich habe im Zuge der Beschäftigung mit diesem Thema – teilweise – nachvollziehen können, dass es bestimmte Filme gibt, die ein unvoreingenommenes Konsumieren erfordern. Was ich nicht nachvollziehen werde können, ist die Hysterie. Wenn Einzelheiten aus einem Film oder einer Serie in den Rang eines Staatsgeheimnisses erhoben werden, geht das alles manchmal zu weit.

Es bleibt ´mal wieder das Übliche: Solange das noch Thema ist, kann es den Leuten nicht wirklich schlecht gehen. Niemand wird sterben, weil er Dinge erfahren hat, die er nicht kennen wollte.

Da ist der ganz normale Wahnsinn um uns herum schon eher geeignet, jemandes Leben zu zerstören.

Was weiß der Geier?

In einer Rangliste der meist überbewerteten Dinge der Welt würde Schwarmintelligenz allein deshalb nicht direkt auf Platz Eins landen, weil Einhörner und Gesellschaftswissenschaften eine letzten Endes doch zu starke Konkurrenz sind. Sollte überhaupt ein Beleg nötig gewesen sein, dass Schwarmintelligenz zwar eine nette Idee, aber kein besonders tragfähiges Konzept ist, habe ich ihn diese Woche gefunden.

Auf der Suche nach dem Grund, wieso alles immer zur gleichen Zeit kaputt geht, hat mir meine selbst gegebene spontane Antwort, dass ich eben alles kaputt kriege und somit bei mir immer irgendwas kaputt geht, wenn ich es in die Hand nehme, ausnahmsweise nicht gereicht.

Wenn mich allerdings die ersten beiden Treffer bei der Suchmaschine meines Vertrauens zum einen auf das Forum einer Partnerbörse, zum anderen auf ein österreichisches Esoterikforum leiten, ist Skepsis angebracht.

Wie erwartet oder genau genommen sogar schneller als erwartet bekomme ich den Beweis geliefert, dass solche Foren im Prinzip wie Schule sind: Die Einfältigsten bestimmen die Art der Auseinandersetzung. Das kann man aus einigermaßen plausiblen Gründen so handhaben, ist aber dann das Gegenteil von Schwarmintelligenz. Im vorliegenden Fall stellt ein Forist seinen Trick vor, wie er die Problematik umgeht: Alle wichtigen Gegenstände, vom Auto über Smartphone bis zum Gefrierschrank habe er doppelt. Im Falle eines Falles sei also Ersatz sofort zur Hand. Lebenserfahrung. Schließlich habe er alle genannten Geräte schon als Ersatz gebraucht.

Jetzt habe ich ja einen Sohn. Daher habe ich zufällig eine ungefähre Ahnung, auf welchem geistigen Entwicklungsstand solcherlei Gedankenspiele stattfinden. Daher weiß ich, dass man auch mit sechs Jahren und ohne nennenswerte Lebenserfahrung auf solche life hacks kommen kann. Daher weiß ich, dass solche Tipps von ähnlicher Güteklasse sind wie das Garen von Spiegeleiern oder gar Würsten auf einem Bügeleisen: Klar funktioniert das. Jedoch bin ich mir einigermaßen sicher, dass es weltweit recht wenig Orte gibt, an denen man keinen Herd zur Verfügung hat, dafür aber ein Bügeleisen. Aber für den Fall, dass der Herd einmal defekt ist, kann man sich den Trick ja merken. Voraussetzung ist dann natürlich, dass das Bügeleisen nicht ebenfalls kaputt ist.

In besagtem Esoterikforum ist das alles dann endgültig in Schwarmdummheit umgeschlagen. Dass die Seele eines Verstorbenen auf sich aufmerksam machen möchte, indem es Geräte zerstört, gehört zum Haarsträubendsten, das ich in letzter Zeit gelesen habe.

Und als aufmerksamer Mitleser in sozialen Netzwerken bin ich diesbezüglich einiges gewohnt.

Wie dem auch sei – Auto, Kombitherme, Smartphone, Zimmerbrunnen, Computer, elektrische Zahnbürste und Brille musste ich im letzten halben Jahr schon ersetzen. Dazu kommt ein eigentlich ebenso austauschwürdiges Knie, und der Hund hat mit seinen nunmehr 14 Jahren seine besten Zeiten ohnehin bereits hinter sich. Das sind zwar alles keine Sachen, die, wenn ich nur noch einen Tag zu leben hätte, auf der To-Do-Liste ganz oben stünden. Andererseits habe ich für den Fall, dass anderntags mein Ableben auf dem Programm stünde, sowieso keinen Masterplan, was ich mit meiner Zeit noch anstellen soll. Auch wenn es wahrscheinlicher ist, dass ich ohne Scheu vor größeren diesseitigen Konsequenzen noch ein paar Idioten über den Haufen schießen würde, kann ich daher nicht einmal völlig ausschließen, dass ich nicht am Ende doch genau solchen Unsinn noch regeln wollen würde. Okay, bestellen würde angesichts der Kürze der Zeit definitiv keinen Sinn mehr machen. Aber schnell noch eine Kleinigkeit einkaufen würde unserer Gesellschaft voll und ganz gerecht. Da mir letzten Endes egal sein könnte, wie lange die Geräte danach noch halten, hätten sogar alle Seiten etwas davon.

Womit freilich die Gesellschaft noch nicht vom Vorwurf entlastet ist, dass vorsätzlich Produkte minderer Qualität produziert werden. Denn dass zumindest in Kauf genommen wird, dass die Zeit eines Gerätes vorzeitig abläuft, ist so offensichtlich wie unvermeidlich, wenn das Zeug hauptsächlich billig sein soll. Vollendet ist das allerdings erst dann, wenn Marketing dafür sorgt, dass bald nicht nur bei Unterhaltungselektronik, sondern in allen Bereichen Güter schon ersetzt werden, bevor sie überhaupt die Gelegenheit bekommen, kaputt zu gehen.

Ob es etwas ändern würde, wenn ich im nächsten Leben nicht Sozialwissenschaftler, sondern Einhorn würde, weiß der Geier.

Vielleicht auch noch der Kuckuck.

Alles muss man selbst machen

Als jemand, der üblicherweise nur auf ein geeignetes Stichwort wartet, um der Welt zu erklären, dass und weshalb früher alles besser gewesen sei, stehe ich unter besonderem Rechtfertigungsdruck, wenn ich ein Thema reflektiere, angesichts dessen ich im Brustton der Überzeugung behaupte: Mögen diese Zeiten bitte nicht wiederkommen.

Es gab eine Zeit, in der ich ein beliebter Ansprechpartner war, wenn Freunde oder Bekannte oder Bekannte von Freunden oder Freunde von Bekannten umziehen wollten oder mussten. Das war in diesem Ausmaß eigentlich nicht beabsichtigt, aber wenn man bei solchen Events regelmäßig zur vereinbarten Uhrzeit erscheint und dann auch sofort loslegt, ohne sich erst noch gemütlich drei Pötte Kaffee in den Schädel zu hämmern, gerät man auch nicht völlig ohne eigene Schuld in diese Rolle des gern gesehenen Helfers. Dass ich große Fahrzeuge bis 7,5 Tonnen zu steuern gewohnt war, kam noch erschwerend hinzu. So begab es sich, dass ich eines Morgens auf dem Weg nach unten schwer beladen die beiden entgegenkommenden Neuankömmlinge instruierte, dass sie bitte unbedingt als nächstes die große Kommode im Flur nach unten schaffen sollten. Es war nicht der leichteste Job zum Warmwerden, aber sie haben ihn prompt erledigt. Ich wunderte mich danach zwar, dass ich die beiden ziemlich schnell überhaupt nicht mehr gesehen habe, aber als ich erfuhr, dass die Beiden eigentlich nur die Nachbarn waren und mit dem Umzug so gar nichts zu tun hatten, hatte ich das als Entschuldigung natürlich zu akzeptieren.

Ich gebe zu, an jenem Vormittag absichtlich langsamer als üblich gearbeitet zu haben, weil mir die Vorstellung, dass die Zwei ihre Wohnung sicherheitshalber nicht mehr verlassen würden, solange wir dort zugange sind, eine spitzbübische Freude bereitete. Vielleicht haben sie auch alle Bettlaken zusammengeknotet und sich unbemerkt aus dem Fenster zur anderen Seite abgeseilt – manche Dinge muss man auch nicht en detail wissen. Ich erwähne diese Begebenheit ohnehin nur, weil ich mich dieser Tage wieder einmal der Frage stellen musste, wieso manche Aushilfskollegen meine Anweisungen nicht befolgen. Die geschilderte Anekdote zeigt, dass ich meinem Ideal als Führungspersönlichkeit schon ´mal näher war als ich es heute bin und dass – welch überraschende Wendung – früher vielleicht nicht alles, zumindest jedoch manches besser war. Sicher keine bahnbrechende Erkenntnis, die sich mir da diese Woche offenbarte, dafür aber nicht die einzige. Anderes Beispiel: Wenn ich aber schon meine Kollegen nicht mehr erreiche, warum sollte es mich ernsthaft wundern, wenn ich – Stichwort Online-Dating – zu unbekannten Frauen erst recht keinen Zugang finde.

Es dreht sich wieder einmal um einen Teil von Frauenlogik, den ich nicht verstehe und der sich wie folgt äußert: Wenn zwei Suchende sich schon gegenseitig mit Herzen bedenken, so – war ich naiv genug anzunehmen – würde eine unverbindliche Kontaktaufnahme mittels elektronischer Post auch eine Antwort auslösen. Zumindest wenn man sich nicht gar zu plump anstellt.

Jetzt bin ich seit Tagen am Rätseln, was genau an meiner Nachricht so plump gewesen sein könnte, dass sie nicht antwortet. Ich kann zwar nur spekulieren, vermute jedoch, dass hinter solchem ausführlichen Schweigen keine Unsicherheit, sondern ernsthaftes, tief empfundenes Desinteresse besteht.

Damit ich überhaupt ´mal wieder emails von irgendwem bekomme, habe ich mich daraufhin für den Empfang mehrerer Newsletter angemeldet.

Um die Lage nicht dramatischer zu zeichnen als sie tatsächlich ist: Neulich hat ja auch tatsächlich ´mal wieder eine geantwortet. Sie hatte zwar letzten Endes kein Interesse, bescheinigte mir aber, dass ich sehr nett schreibe. Ich bedankte mich dafür und erwähnte, dass das Absicht ist, konnte sie damit jedoch leider nicht umstimmen. An der Kernproblematik scheint sich demnach die letzten 100 Jahre nichts Gravierendes geändert zu haben. Wenn man nur mittelmäßig aussieht, bringt es auch keinen nennenswerten Vorteil, dass man sich in ganzen Sätzen ausdrücken kann. Selbst Metallica und Depeche Mode zusammen sind nicht so überbewertet wie diese Fähigkeit.

In der Rangliste der meist überbewerteten Dinge allerdings sind die drei vorgenannten wiederum allesamt weit abgeschlagen hinter einer Sache, die auf Jahre uneinholbar enteilt ist: Die Rede ist nicht etwa von dem Verhütungsmittel Nummer Eins: aufgemalten Augenbrauen, sondern von Warnwesten bei Radfahrern.

Zwar spricht zunächst überhaupt nichts gegen eine bessere Sichtbarkeit im Straßenverkehr. Allerdings bleibe ich bei der Einschätzung, dass ein Radfahrer durch umsichtiges Fahren, am besten auf den für ihn vorgesehenen Wegen in der richtigen Fahrtrichtung, durch das Geben von Handzeichen vorm Spurwechsel und allgemein durch ein Weniger an Grundsätzlich-im-Recht-Fühlen ein Vielfaches mehr zur Verkehrssicherheit beitragen würde als durch das Tragen einer Warnweste.

Und natürlich war das früher nicht besser. Im Gegenteil: Früher bin ich selbst mit Warnweste Rad gefahren. Weil ich nämlich kein Licht hatte, war ich gezwungen, mich auf andere Weise bemerkbar zu machen.

Ich sollte langsam beginnen zu akzeptieren, dass die Wahrnehmung, was besser und schlechter war, vor allem ein Resultat dessen ist, wie ich selbst mich schneller und mehr verändert habe als mir lieb sein kann.

Liebe auf den zweiten Blick

Rückblickend betrachtet war die erste, die ich hatte, relativ peinlich. Das sollte nicht allzu sehr verwundern, war doch das einzige Kriterium, das sie zu erfüllen hatte: nicht so auszusehen wie alle anderen.

Im Ergebnis bekam ich eine, die sich von allen anderen gerade ´mal dadurch unterschied, dass ihr Rahmen in einem dunklen Blau gehalten war und nicht in dem damals vorherrschenden Standard-Silber. Ansonsten hatte meine erste Brille die für meine Elterngeneration typische Tropfenform und war alles in allem viel zu groß, so dass mein vormals im mittleren Bereich gelegener Coolness-Faktor erdrutschartige Verluste verbuchen musste wie sonst nur Parteien am Wahlabend.

Zu allem Überfluss hatte ich mir selbst tönende Gläser aufschwätzen lassen. Brille und Sonnenbrille in einem, je nach Bedarf, war zwar gut gedacht. Allerdings hatte ich die Eigendynamik dieser Gläser unterschätzt: Keineswegs nämlich konnte ich damit rechnen, in Innenräumen stets gute Sicht zu haben, denn der Nasenquetscher färbte sich nach dem Zufallsprinzip oder aus anderen mir nicht ersichtlichen Gründen gelegentlich dunkel, wenn es gar nicht hell war. Als mich dann auch noch irgendwann die ersten fremden Menschen darauf ansprachen, war im Prinzip klar, dass die Beziehung zwischen uns beiden von nur recht kurzer Dauer sein würde. Von der Liebe auf den ersten Blick bis zur fahrlässigen Zerstörung im Zuge eines Vatertags-Umtrunks war der Weg kürzer als ursprünglich geplant.

Auch wenn dieses 250 DM teure Missverständnis inzwischen 30 Jahre her ist, bin ich der Brille an sich treu geblieben und hatte selbst in Zeiten akuten Mangels an Erfolgserlebnissen beim anderen Geschlecht nie daran gedacht, auf Kontaktlinsen umzusteigen. Um die Jahrtausendwende dann machte ein gewisser Harry Potter die Sehhilfe salonfähig. Was zumindest vormalige potentielle Mobbing-Opfer unter der schulpflichtigen Bevölkerung schlagartig zu Trendsettern werden, das Kernproblem für (junge) Erwachsene jedoch bestehen ließ: Eine Brille lässt Dich schlau aussehen, aber nicht attraktiv. Ich fürchte, nicht der einzige zu sein, dem es andersherum lieber gewesen wäre. Zwar sind bis heute die Brillenträger die ersten Ansprechpartner von Mitschülerinnen und Kommilitoninnen, wenn diese etwas nicht verstanden haben. Fürs Ego noch zuträglicher wäre es allerdings, wenn man dann nicht regelmäßig die körperlichen Aspekte zwischenmenschlicher Beziehungen anderen Männern ohne Brille überlassen müsste.

Immerhin: Das Image, Brillenträger seien kompetent, professionell und intelligent, steht bis heute. Als Helfer in der Not werden sie als erstes angesprochen, selbst wenn es nur darum geht, nach dem Weg oder nach Feuer gefragt zu werden.

Diese Wahrnehmung von Brillenträgern als seriösen Zeitgenossen wird inzwischen sogar wissenschaftlich untermauert. Dass die viel zitierte Studie von einer britischen Optikerschule erstellt wurde, ist wahrscheinlich genauso zufällig wie der Wechsel der Tönung der Gläser meiner ersten Brille.

Andererseits ist nicht alles bloße Propaganda. Eine andere im letzten Jahr veröffentlichte Studie belegte, dass – zumindest statistisch – Kurzsichtige mit einer um 30 Prozent höheren Wahrscheinlichkeit schlauer sind als Menschen mit guten Augen.

Doch zu den statistischen Tatsachen gehört eben auch, dass männliche Brillenträger lediglich von 14 Prozent der von einer Online-Partnerbörse befragten Frauen als sexy beschrieben werden.

Die daraus zu ziehende Konsequenz kann eigentlich nur lauten:

Eine Sonnenbrille muss her!

Diese nämlich, auch das ist inzwischen erforscht, erhöht den Flirtfaktor erheblich: Da sich das Gegenüber über etwaige, üblicherweise über die Augen preisgegebene Unsicherheiten beim Sonnenbrillenträger kein Bild machen kann, tritt dieser automatisch selbstsicherer auf, woraus dann eine größere Attraktivität ausgestrahlt wird. Auch wenn dieser Mechanismus für keine der beiden beteiligten Parteien wirklich ein Ruhmesblatt bedeutet, kann man damit wohl eher leben als mit einer anderen Begleiterscheinung:

Denn auch wenn man es nicht wahrhaben möchte, wird es irgendwann dunkel, und dann sieht man mit Sonnenbrille nicht mehr so viel, und dann wird die Frage „Wohin mit dem guten Stück“ meistens eher schlecht als recht beantwortet, weil gerade bei Männern die meisten Möglichkeiten, das unbenutzte Teil irgendwo zu parken, unvorteilhaft aussehen. Dass sich mancher das Gegenteil einbildet, ändert leider nichts daran, dass eine mit einem Bügel „lässig“ ans Hemd gehängte Sonnenbrille in 98 Prozent der Fälle kacke aussieht.

Andere lösen das Problem, indem sie sie auch in absolut unangemessenen Situationen einfach auflassen. Aber das Konzept, die Sicht im geschlossenen Raum vorsätzlich zu verschlechtern, indem ich mir etwas vor die Augen hänge, habe ich noch nie verstanden. Ich plädiere daher dafür, dass sich alle, die nicht den Ramones angehören oder wenigstens Heino sind, sich diesen Move tunlichst verkneifen.

Eine mögliche Lösung könnte sein, dafür ein Brillenetui bereitzuhalten. Weil das zu einfach wäre, wird die Bereitschaft, diesen revolutionären Vorschlag umzusetzen, bei der breiten Masse aber wohl tendenziell gering ausgeprägt sein.

Der langen Rede kurzer Sinn: Rückblickend betrachtet wird das Jahr 2019 wahrscheinlich trotzdem als dasjenige in Erinnerung bleiben, in dem ich mir eine Sonnenbrille zulegte.

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