Aufzeichnungen aus der Wirrnis des Alltags

Monat: April 2019

Was weiß der Geier?

In einer Rangliste der meist überbewerteten Dinge der Welt würde Schwarmintelligenz allein deshalb nicht direkt auf Platz Eins landen, weil Einhörner und Gesellschaftswissenschaften eine letzten Endes doch zu starke Konkurrenz sind. Sollte überhaupt ein Beleg nötig gewesen sein, dass Schwarmintelligenz zwar eine nette Idee, aber kein besonders tragfähiges Konzept ist, habe ich ihn diese Woche gefunden.

Auf der Suche nach dem Grund, wieso alles immer zur gleichen Zeit kaputt geht, hat mir meine selbst gegebene spontane Antwort, dass ich eben alles kaputt kriege und somit bei mir immer irgendwas kaputt geht, wenn ich es in die Hand nehme, ausnahmsweise nicht gereicht.

Wenn mich allerdings die ersten beiden Treffer bei der Suchmaschine meines Vertrauens zum einen auf das Forum einer Partnerbörse, zum anderen auf ein österreichisches Esoterikforum leiten, ist Skepsis angebracht.

Wie erwartet oder genau genommen sogar schneller als erwartet bekomme ich den Beweis geliefert, dass solche Foren im Prinzip wie Schule sind: Die Einfältigsten bestimmen die Art der Auseinandersetzung. Das kann man aus einigermaßen plausiblen Gründen so handhaben, ist aber dann das Gegenteil von Schwarmintelligenz. Im vorliegenden Fall stellt ein Forist seinen Trick vor, wie er die Problematik umgeht: Alle wichtigen Gegenstände, vom Auto über Smartphone bis zum Gefrierschrank habe er doppelt. Im Falle eines Falles sei also Ersatz sofort zur Hand. Lebenserfahrung. Schließlich habe er alle genannten Geräte schon als Ersatz gebraucht.

Jetzt habe ich ja einen Sohn. Daher habe ich zufällig eine ungefähre Ahnung, auf welchem geistigen Entwicklungsstand solcherlei Gedankenspiele stattfinden. Daher weiß ich, dass man auch mit sechs Jahren und ohne nennenswerte Lebenserfahrung auf solche life hacks kommen kann. Daher weiß ich, dass solche Tipps von ähnlicher Güteklasse sind wie das Garen von Spiegeleiern oder gar Würsten auf einem Bügeleisen: Klar funktioniert das. Jedoch bin ich mir einigermaßen sicher, dass es weltweit recht wenig Orte gibt, an denen man keinen Herd zur Verfügung hat, dafür aber ein Bügeleisen. Aber für den Fall, dass der Herd einmal defekt ist, kann man sich den Trick ja merken. Voraussetzung ist dann natürlich, dass das Bügeleisen nicht ebenfalls kaputt ist.

In besagtem Esoterikforum ist das alles dann endgültig in Schwarmdummheit umgeschlagen. Dass die Seele eines Verstorbenen auf sich aufmerksam machen möchte, indem es Geräte zerstört, gehört zum Haarsträubendsten, das ich in letzter Zeit gelesen habe.

Und als aufmerksamer Mitleser in sozialen Netzwerken bin ich diesbezüglich einiges gewohnt.

Wie dem auch sei – Auto, Kombitherme, Smartphone, Zimmerbrunnen, Computer, elektrische Zahnbürste und Brille musste ich im letzten halben Jahr schon ersetzen. Dazu kommt ein eigentlich ebenso austauschwürdiges Knie, und der Hund hat mit seinen nunmehr 14 Jahren seine besten Zeiten ohnehin bereits hinter sich. Das sind zwar alles keine Sachen, die, wenn ich nur noch einen Tag zu leben hätte, auf der To-Do-Liste ganz oben stünden. Andererseits habe ich für den Fall, dass anderntags mein Ableben auf dem Programm stünde, sowieso keinen Masterplan, was ich mit meiner Zeit noch anstellen soll. Auch wenn es wahrscheinlicher ist, dass ich ohne Scheu vor größeren diesseitigen Konsequenzen noch ein paar Idioten über den Haufen schießen würde, kann ich daher nicht einmal völlig ausschließen, dass ich nicht am Ende doch genau solchen Unsinn noch regeln wollen würde. Okay, bestellen würde angesichts der Kürze der Zeit definitiv keinen Sinn mehr machen. Aber schnell noch eine Kleinigkeit einkaufen würde unserer Gesellschaft voll und ganz gerecht. Da mir letzten Endes egal sein könnte, wie lange die Geräte danach noch halten, hätten sogar alle Seiten etwas davon.

Womit freilich die Gesellschaft noch nicht vom Vorwurf entlastet ist, dass vorsätzlich Produkte minderer Qualität produziert werden. Denn dass zumindest in Kauf genommen wird, dass die Zeit eines Gerätes vorzeitig abläuft, ist so offensichtlich wie unvermeidlich, wenn das Zeug hauptsächlich billig sein soll. Vollendet ist das allerdings erst dann, wenn Marketing dafür sorgt, dass bald nicht nur bei Unterhaltungselektronik, sondern in allen Bereichen Güter schon ersetzt werden, bevor sie überhaupt die Gelegenheit bekommen, kaputt zu gehen.

Ob es etwas ändern würde, wenn ich im nächsten Leben nicht Sozialwissenschaftler, sondern Einhorn würde, weiß der Geier.

Vielleicht auch noch der Kuckuck.

Alles muss man selbst machen

Als jemand, der üblicherweise nur auf ein geeignetes Stichwort wartet, um der Welt zu erklären, dass und weshalb früher alles besser gewesen sei, stehe ich unter besonderem Rechtfertigungsdruck, wenn ich ein Thema reflektiere, angesichts dessen ich im Brustton der Überzeugung behaupte: Mögen diese Zeiten bitte nicht wiederkommen.

Es gab eine Zeit, in der ich ein beliebter Ansprechpartner war, wenn Freunde oder Bekannte oder Bekannte von Freunden oder Freunde von Bekannten umziehen wollten oder mussten. Das war in diesem Ausmaß eigentlich nicht beabsichtigt, aber wenn man bei solchen Events regelmäßig zur vereinbarten Uhrzeit erscheint und dann auch sofort loslegt, ohne sich erst noch gemütlich drei Pötte Kaffee in den Schädel zu hämmern, gerät man auch nicht völlig ohne eigene Schuld in diese Rolle des gern gesehenen Helfers. Dass ich große Fahrzeuge bis 7,5 Tonnen zu steuern gewohnt war, kam noch erschwerend hinzu. So begab es sich, dass ich eines Morgens auf dem Weg nach unten schwer beladen die beiden entgegenkommenden Neuankömmlinge instruierte, dass sie bitte unbedingt als nächstes die große Kommode im Flur nach unten schaffen sollten. Es war nicht der leichteste Job zum Warmwerden, aber sie haben ihn prompt erledigt. Ich wunderte mich danach zwar, dass ich die beiden ziemlich schnell überhaupt nicht mehr gesehen habe, aber als ich erfuhr, dass die Beiden eigentlich nur die Nachbarn waren und mit dem Umzug so gar nichts zu tun hatten, hatte ich das als Entschuldigung natürlich zu akzeptieren.

Ich gebe zu, an jenem Vormittag absichtlich langsamer als üblich gearbeitet zu haben, weil mir die Vorstellung, dass die Zwei ihre Wohnung sicherheitshalber nicht mehr verlassen würden, solange wir dort zugange sind, eine spitzbübische Freude bereitete. Vielleicht haben sie auch alle Bettlaken zusammengeknotet und sich unbemerkt aus dem Fenster zur anderen Seite abgeseilt – manche Dinge muss man auch nicht en detail wissen. Ich erwähne diese Begebenheit ohnehin nur, weil ich mich dieser Tage wieder einmal der Frage stellen musste, wieso manche Aushilfskollegen meine Anweisungen nicht befolgen. Die geschilderte Anekdote zeigt, dass ich meinem Ideal als Führungspersönlichkeit schon ´mal näher war als ich es heute bin und dass – welch überraschende Wendung – früher vielleicht nicht alles, zumindest jedoch manches besser war. Sicher keine bahnbrechende Erkenntnis, die sich mir da diese Woche offenbarte, dafür aber nicht die einzige. Anderes Beispiel: Wenn ich aber schon meine Kollegen nicht mehr erreiche, warum sollte es mich ernsthaft wundern, wenn ich – Stichwort Online-Dating – zu unbekannten Frauen erst recht keinen Zugang finde.

Es dreht sich wieder einmal um einen Teil von Frauenlogik, den ich nicht verstehe und der sich wie folgt äußert: Wenn zwei Suchende sich schon gegenseitig mit Herzen bedenken, so – war ich naiv genug anzunehmen – würde eine unverbindliche Kontaktaufnahme mittels elektronischer Post auch eine Antwort auslösen. Zumindest wenn man sich nicht gar zu plump anstellt.

Jetzt bin ich seit Tagen am Rätseln, was genau an meiner Nachricht so plump gewesen sein könnte, dass sie nicht antwortet. Ich kann zwar nur spekulieren, vermute jedoch, dass hinter solchem ausführlichen Schweigen keine Unsicherheit, sondern ernsthaftes, tief empfundenes Desinteresse besteht.

Damit ich überhaupt ´mal wieder emails von irgendwem bekomme, habe ich mich daraufhin für den Empfang mehrerer Newsletter angemeldet.

Um die Lage nicht dramatischer zu zeichnen als sie tatsächlich ist: Neulich hat ja auch tatsächlich ´mal wieder eine geantwortet. Sie hatte zwar letzten Endes kein Interesse, bescheinigte mir aber, dass ich sehr nett schreibe. Ich bedankte mich dafür und erwähnte, dass das Absicht ist, konnte sie damit jedoch leider nicht umstimmen. An der Kernproblematik scheint sich demnach die letzten 100 Jahre nichts Gravierendes geändert zu haben. Wenn man nur mittelmäßig aussieht, bringt es auch keinen nennenswerten Vorteil, dass man sich in ganzen Sätzen ausdrücken kann. Selbst Metallica und Depeche Mode zusammen sind nicht so überbewertet wie diese Fähigkeit.

In der Rangliste der meist überbewerteten Dinge allerdings sind die drei vorgenannten wiederum allesamt weit abgeschlagen hinter einer Sache, die auf Jahre uneinholbar enteilt ist: Die Rede ist nicht etwa von dem Verhütungsmittel Nummer Eins: aufgemalten Augenbrauen, sondern von Warnwesten bei Radfahrern.

Zwar spricht zunächst überhaupt nichts gegen eine bessere Sichtbarkeit im Straßenverkehr. Allerdings bleibe ich bei der Einschätzung, dass ein Radfahrer durch umsichtiges Fahren, am besten auf den für ihn vorgesehenen Wegen in der richtigen Fahrtrichtung, durch das Geben von Handzeichen vorm Spurwechsel und allgemein durch ein Weniger an Grundsätzlich-im-Recht-Fühlen ein Vielfaches mehr zur Verkehrssicherheit beitragen würde als durch das Tragen einer Warnweste.

Und natürlich war das früher nicht besser. Im Gegenteil: Früher bin ich selbst mit Warnweste Rad gefahren. Weil ich nämlich kein Licht hatte, war ich gezwungen, mich auf andere Weise bemerkbar zu machen.

Ich sollte langsam beginnen zu akzeptieren, dass die Wahrnehmung, was besser und schlechter war, vor allem ein Resultat dessen ist, wie ich selbst mich schneller und mehr verändert habe als mir lieb sein kann.

Liebe auf den zweiten Blick

Rückblickend betrachtet war die erste, die ich hatte, relativ peinlich. Das sollte nicht allzu sehr verwundern, war doch das einzige Kriterium, das sie zu erfüllen hatte: nicht so auszusehen wie alle anderen.

Im Ergebnis bekam ich eine, die sich von allen anderen gerade ´mal dadurch unterschied, dass ihr Rahmen in einem dunklen Blau gehalten war und nicht in dem damals vorherrschenden Standard-Silber. Ansonsten hatte meine erste Brille die für meine Elterngeneration typische Tropfenform und war alles in allem viel zu groß, so dass mein vormals im mittleren Bereich gelegener Coolness-Faktor erdrutschartige Verluste verbuchen musste wie sonst nur Parteien am Wahlabend.

Zu allem Überfluss hatte ich mir selbst tönende Gläser aufschwätzen lassen. Brille und Sonnenbrille in einem, je nach Bedarf, war zwar gut gedacht. Allerdings hatte ich die Eigendynamik dieser Gläser unterschätzt: Keineswegs nämlich konnte ich damit rechnen, in Innenräumen stets gute Sicht zu haben, denn der Nasenquetscher färbte sich nach dem Zufallsprinzip oder aus anderen mir nicht ersichtlichen Gründen gelegentlich dunkel, wenn es gar nicht hell war. Als mich dann auch noch irgendwann die ersten fremden Menschen darauf ansprachen, war im Prinzip klar, dass die Beziehung zwischen uns beiden von nur recht kurzer Dauer sein würde. Von der Liebe auf den ersten Blick bis zur fahrlässigen Zerstörung im Zuge eines Vatertags-Umtrunks war der Weg kürzer als ursprünglich geplant.

Auch wenn dieses 250 DM teure Missverständnis inzwischen 30 Jahre her ist, bin ich der Brille an sich treu geblieben und hatte selbst in Zeiten akuten Mangels an Erfolgserlebnissen beim anderen Geschlecht nie daran gedacht, auf Kontaktlinsen umzusteigen. Um die Jahrtausendwende dann machte ein gewisser Harry Potter die Sehhilfe salonfähig. Was zumindest vormalige potentielle Mobbing-Opfer unter der schulpflichtigen Bevölkerung schlagartig zu Trendsettern werden, das Kernproblem für (junge) Erwachsene jedoch bestehen ließ: Eine Brille lässt Dich schlau aussehen, aber nicht attraktiv. Ich fürchte, nicht der einzige zu sein, dem es andersherum lieber gewesen wäre. Zwar sind bis heute die Brillenträger die ersten Ansprechpartner von Mitschülerinnen und Kommilitoninnen, wenn diese etwas nicht verstanden haben. Fürs Ego noch zuträglicher wäre es allerdings, wenn man dann nicht regelmäßig die körperlichen Aspekte zwischenmenschlicher Beziehungen anderen Männern ohne Brille überlassen müsste.

Immerhin: Das Image, Brillenträger seien kompetent, professionell und intelligent, steht bis heute. Als Helfer in der Not werden sie als erstes angesprochen, selbst wenn es nur darum geht, nach dem Weg oder nach Feuer gefragt zu werden.

Diese Wahrnehmung von Brillenträgern als seriösen Zeitgenossen wird inzwischen sogar wissenschaftlich untermauert. Dass die viel zitierte Studie von einer britischen Optikerschule erstellt wurde, ist wahrscheinlich genauso zufällig wie der Wechsel der Tönung der Gläser meiner ersten Brille.

Andererseits ist nicht alles bloße Propaganda. Eine andere im letzten Jahr veröffentlichte Studie belegte, dass – zumindest statistisch – Kurzsichtige mit einer um 30 Prozent höheren Wahrscheinlichkeit schlauer sind als Menschen mit guten Augen.

Doch zu den statistischen Tatsachen gehört eben auch, dass männliche Brillenträger lediglich von 14 Prozent der von einer Online-Partnerbörse befragten Frauen als sexy beschrieben werden.

Die daraus zu ziehende Konsequenz kann eigentlich nur lauten:

Eine Sonnenbrille muss her!

Diese nämlich, auch das ist inzwischen erforscht, erhöht den Flirtfaktor erheblich: Da sich das Gegenüber über etwaige, üblicherweise über die Augen preisgegebene Unsicherheiten beim Sonnenbrillenträger kein Bild machen kann, tritt dieser automatisch selbstsicherer auf, woraus dann eine größere Attraktivität ausgestrahlt wird. Auch wenn dieser Mechanismus für keine der beiden beteiligten Parteien wirklich ein Ruhmesblatt bedeutet, kann man damit wohl eher leben als mit einer anderen Begleiterscheinung:

Denn auch wenn man es nicht wahrhaben möchte, wird es irgendwann dunkel, und dann sieht man mit Sonnenbrille nicht mehr so viel, und dann wird die Frage „Wohin mit dem guten Stück“ meistens eher schlecht als recht beantwortet, weil gerade bei Männern die meisten Möglichkeiten, das unbenutzte Teil irgendwo zu parken, unvorteilhaft aussehen. Dass sich mancher das Gegenteil einbildet, ändert leider nichts daran, dass eine mit einem Bügel „lässig“ ans Hemd gehängte Sonnenbrille in 98 Prozent der Fälle kacke aussieht.

Andere lösen das Problem, indem sie sie auch in absolut unangemessenen Situationen einfach auflassen. Aber das Konzept, die Sicht im geschlossenen Raum vorsätzlich zu verschlechtern, indem ich mir etwas vor die Augen hänge, habe ich noch nie verstanden. Ich plädiere daher dafür, dass sich alle, die nicht den Ramones angehören oder wenigstens Heino sind, sich diesen Move tunlichst verkneifen.

Eine mögliche Lösung könnte sein, dafür ein Brillenetui bereitzuhalten. Weil das zu einfach wäre, wird die Bereitschaft, diesen revolutionären Vorschlag umzusetzen, bei der breiten Masse aber wohl tendenziell gering ausgeprägt sein.

Der langen Rede kurzer Sinn: Rückblickend betrachtet wird das Jahr 2019 wahrscheinlich trotzdem als dasjenige in Erinnerung bleiben, in dem ich mir eine Sonnenbrille zulegte.

Koprolalie für Anfänger

Als aufmerksamer Beobachter des Treibens in Deutschlands Straßen und Gassen kann man sich des Eindrucks schlecht erwehren, dass sich die Beleidigungskultur in einem beklagenswertem Zustand befindet.

Klar ist: Eine Beleidigung muss keine besonders hohe literarische Qualität haben. Aber immer nur „Hurensohn“ ist halt auch alles andere als originell. Ansonsten sind nur wenige gebräuchliche Standards zu vernehmen.

Ich nehme mich da selbst nicht aus. Mein aktiver Schimpfwortschatz beschränkt sich auf Körperregionen wie „Arschloch“, sexuelle Praktiken wie „Wichser“ oder gering ausgeprägte intellektuelle Fähigkeiten („Honk“ oder die hessische Variante „Simbel“). „Penner“ würde ich noch dazu zählen, aber dann ist Schluss. Mit diesem Repertoire sind aber zumindest auch 97,8 Prozent aller Alltagssituationen abgedeckt, in denen eine amtliche Schmähung angebracht ist. Mit männlichem Gegenüber. Bei Frauen ist nach „Drecksau“ der Vorrat an brauchbaren Kraftausdrücken bereits aufgebraucht.

Wie so oft war früher alles besser: In der Kindheit benutzten wir so ziemlich alle Ausdrücke, die wir von anderen aufgeschnappt hatten, von denen wir teilweise allerdings gar nicht wussten, was sie bedeuten. Gut, bei „Pimmel“ war die Sachlage klar, bei „Bumser“ schon weniger. Sonst wären wir vielleicht von selbst darauf gekommen, dass das bei weitem nicht so beleidigend ist wie es klingt. Aus dieser Unwissenheit heraus entstanden dann auch Konstrukte wie „Arschwichser“.

Zu dieser Zeit wusste ich aber auch schon zu unterscheiden: „Fette Qualle“, „fette Sau“, „Panzer“ oder „Tonne“ konnte ich nicht einfach kontern, indem ich die Komplimente geradewegs zurückgab. Einem Strich in der Landschaft diese Ausdrücke an den Kopf zu werfen machte in etwa so viel Sinn wie den urdeutschen blonden Thorsten mit „Kanake“ zu begrüßen. Also wurden im Gegenzug „Idiot“ und weitere Ausdrücke verwendet, die auf eine unterdurchschnittlich ausgeprägte Intelligenz verweisen. Wenn einer weder dick noch dumm war, konnte man das trotzdem erstmal in den Raum werfen. Oder man sagte gleich „Arschwichser“.

Die Frage, die sich dabei stellt und die auch regelmäßig Gerichte beschäftigt: Wo fängt eine Beleidigung eigentlich an?

So kam es vor, dass eine Richterin vor der Frage in die Knie gegangen ist, ob „Rucksack“ eigentlich das Gewicht hat, beleidigend zu wirken. Wie wahrscheinlich die meisten Menschen kannte sie den Begriff in diesem Kontext nicht und wollte in Erfahrung bringen, ob das eine in der Taxifahrerszene gängige Beleidigung ist.

Um das Ende vorwegzunehmen: Nein, ist es nicht. Aber es ist immerhin schön zu sehen, dass ich nicht der einzige in diesem Land bin, der Taxifahrern einiges zutraut.

„Busfahrer“ hingegen stand in unserer Jugend durchaus hoch im Kurs, wenn auch eher als Frotzelei in etwa der gleichen Güteklasse wie „Eule“ oder „Kapp“. Der ohnehin schon recht niedrige beleidigende Gehalt dieser Bezeichnung wurde dann auch eines Abends schlagartig weiter abgewertet: Ein flüchtiger Bekannter erkundigte sich bei einem Mitglied unserer damaligen Clique interessiert, weshalb wir ihn „Busfahrer“ nennen.

Was willst Du da antworten?! Wir hatten es ja ursprünglich nicht darauf angelegt, dass er es überhaupt mitbekommt. „Es hat sich so entwickelt“ war jedenfalls kein guter erster Schritt hin zu einer befriedigenden Erklärung. Aber so peinlich wie der unerwartete Beginn dieser Unterhaltung wurde es am Ende gar nicht, weil er – wie sich herausstellte – eigentlich sogar stolz darauf war, von uns so genannt zu werden. Warum, hatte ich zwar nicht verstanden, aber wer hakt da schon großartig nach, wenn man gerade beim Lästern ertappt wurde?! Jedenfalls gab uns diese Lektion zu denken: Was, wenn der Geschmähte sich so gar nicht angegriffen fühlt und sich hartnäckig weigert, eine Beleidigung als solche aufzufassen? Wäre eigentlich eine geile Strategie: „Ey, Du Hurensohn!“ – „Yeah! Das bin ich. Cool, oder?!“

In den meisten Fällen geht es aber weniger um Fälle, in denen jemand beleidigt wird, derjenige sich aber nicht beleidigt fühlt. Viel häufiger geht es nämlich dem entgegengesetzt um die Klärung, ob jemand tatsächlich Grund hat, sich von einer Äußerung beleidigt zu fühlen. So wurde beispielsweise die Klage einer älteren Frau gegen den Deutschen Wetterdienst abgewiesen, weil das Gericht die beleidigende Wirkung des Wortes „Altweibersommer“ so nicht sehen wollte.

Ein anderes Gericht hatte zu beurteilen, ob „Fisch“, hervorgebracht gegenüber einem Polizeibeamten, geeignet sei, den Tatbestand der Beleidigung zu erfüllen. Obwohl die Richterin anerkannte, dass der Angeklagte den Ordnungshüter mit dieser Bezeichnung nicht loben wollte, befand sie: Die Güteklasse von „Fisch“ sei eine andere als „Esel“, „Bulle“ oder „Schwein“, eben „nicht wirklich schlimm“. Zur Nachahmung empfehlen würde ich es angesichts einer Geldstrafe von immerhin noch 300 Euro trotzdem nicht.

Zu guter Letzt kann auch ein Name mit wenig schmeichelhaften Zuschreibungen von bestimmten Eigenschaften verbunden sein. Vor rund 30 Jahren war der „Günther“ das, was vorher der „Kasper“ gewesen ist und später zwischenzeitlich der „Horst“ werden sollte, bevor dieser wiederum vom „Otto“ abgelöst wurde. Da einer der cooleren meiner Onkel ebenfalls Günther hieß, konnte ich mich nur bedingt damit anfreunden, mich diesem Brauch allerdings auch nicht völlig entziehen. Spätestens als es in der Schule auf Abschlussfahrt ging und unser grenzdebiler Busfahrer für diese Zeit sich als Günther vorstellte, gab es in dieser Frage auch bloß noch Schwarz und Weiß und nichts mehr dazwischen. Unvergessen bleibt auch das Wochenendseminar, das wir zu viert besuchten und bei dem uns am Anreiseabend freitags schon ein Mensch aufgefallen war, über den wir dann noch den ganzen Rest des Abends (und damalige Freitagabende waren sehr lang) prognostizierten: Der heißt bestimmt Günther. Weil: Der kann eigentlich nur Günther heißen.

Bis am nächsten Morgen das Seminar offiziell mit einer Vorstellungsrunde begann, waren wir in dieser Frage schon so eingepeitscht, dass klar war: Wenn wir uns nicht schon von Beginn an unbeliebt machen wollten, dann darf dieser Typ alles, wirklich alles, aber auf keinen Fall Günther heißen.

Das Schicksal hatte es nicht gut mit uns gemeint. Wenn Du eigentlich vor Lachen schreien möchtest, das aber nicht darfst, ist das Folter. Warum gibt es auch solche Zufälle?!

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