Aufzeichnungen aus der Wirrnis des Alltags

Monat: November 2017

Hunde, wollt Ihr ewig leben

Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen, polemisierte einst Helmut Schmidt. Ist der Visionär dann zufällig selbst Arzt, spaltet sich die Fachwelt, während der Laie nur denkt: Was soll das jetzt wieder werden? So geschehen diese Woche nach der Ankündigung eines italienischen Neurochirurgen, im Frühjahr 2018 einen kompletten Kopf zu transplantieren zu wollen.

Ich sehe schon völlig neue gesellschaftliche Konfliktlinien, wenn in ein paar Jahren Gesunde den Kranken vorwerfen: „Du willst doch bloß meinen Körper!“ Ich persönlich muss mir meine Meinung dazu erst noch durch den Kopf gehen lassen und habe mir deshalb auch schon ein paar schöne Männer- und Frauenkörper ausgesucht, auf die mein Schädel gut passen würde. Ich bin da sehr wählerisch, weil ich mir sehr sicher bin, dass mein Kopf den Leib beispielsweise eines FDP-Wählers sehr sicher sehr schnell abstoßen würde. Ein Alptraum wäre auch, nach gelungener Operation in den Spiegel zu schauen und an einer intimen Stelle ein FCB-Tattoo oder ähnlich Unappetitliches zu entdecken. Man sieht schon jetzt: So ganz ohne Risiko ist das alles nicht. Eine Reihe offener Fragen müssen noch geklärt werden, bis das alles serienreif ist.

Dabei ist vieles von dem, was wir heute als normal wahrnehmen, ursprünglich auch lediglich eine Vision im Kopf eines einzelnen Durchgeknallten gewesen. Wenn aber Kopfverpflanzungen normal werden, es also im Kurs Sofortmaßnahmen am Unfallort nicht mehr nur im übertragenen Sinne heißt, man solle nicht den Kopf verlieren, gruselt es mich schon ein wenig.

Was wurde nicht schon alles verpflanzt, um Leben zu verlängern? Haut, Schädeldecke, Penis. Eine ordinäre Nierentransplantation ist ja bald sowas von 90er. Wenn es diese Zweiteilung im Gesundheitswesen nicht sowieso schon gäbe, man käme sich wie ein Patient zweiter Klasse vor, wenn man „nur“ auf eine Leber wartet, derweil der Bettnachbar im Katalog blättert, um sich von eigens zu diesem Zweck aus armen Ländern entführten begnadeten Körpern einen standesgemäßen auszusuchen. Denn wenn ein gesunder Kopf einen anderen Körper bekommt, wird ja streng genommen kein Kopf verpflanzt, sondern ein Körper. Ist schon entschieden, wessen Namen die neu geschaffene Kreatur weiterführen darf? Der Körperspender steuert immerhin den größeren Teil bei. Verliert vor dem Hintergrund all dessen der Begriff „Normalsterbliche“ nicht komplett an Bedeutung?

Auch wenn das Anbringen eines neuen Penis´ wohl nicht primär der Steigerung der Lebenserwartung dient, feiern die Doktoren mit solchen Aktionen tolle Erfolge, die im Einzelfall Leben verlängern können.

The message is… gude Laune

Jetzt aber die gute Nachricht für alle, die das Glück genießen, nicht auf irgendein Körperteil eines geeigneten Spenders angewiesen zu sein: Auch für Otto Normalpatient gibt es eine ganze Reihe von Maßnahmen, um wenigstens statistisch betrachtet einem frühen Ableben entgegenzuwirken:

Man kann sich zum Beispiel einen Hund anschaffen, wodurch sozialer Vereinsamung und Bewegungsmangel effektiv vorgebeugt wird, die beide Ursachen von Herz-Kreislauf-Erkrankungen sein können. Diesen Zusammenhang wiesen kürzlich Forscher der schwedischen Universität Uppsala nach. (Der für unsere Ohren drollig klingende Name soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich dabei um seriöse Forschung handelt.) Besonders bei Singles wirkt sich das Vorhandensein eines Hundes außerordentlich positiv aus. Bevor jetzt aber alle ihre Partner aus dem Haus werfen, sei erwähnt, dass das Alleinleben überhaupt erst ein größeres Risiko für solche Erkrankungen begründet.

Damit wären wir bei einem weiteren Mittel zu einem längeren Leben. Anders als man normalerweise erwarten würde, ist nämlich auch die Ehe geeignet, die Lebenserwartung zu steigern. Ich würde vorsichtshalber aber auch hier den Einzelfall betrachten. Da eine Eheschließung zunächst unbefristet bis ans Lebensende gültig ist, steigt ja mit der allgemeinen Lebenserwartung auch das Risiko, wenn man sich allzu voreilig auf einen einzigen Partner bis dahin festlegt. Nicht selten geht ja der Partner einem irgendwann so sehr auf den Keks, dass man ihn erschießt. Zumindest einer der beiden hat dann schonmal nicht von der lebensverlängernden Wirkung dieser Institution profitiert. Genauer hingeschaut, findet man auch prompt den Hinweis: Glücklich sollte die Ehe schon sein, um diesen Effekt zu haben. Aber ist das nicht schon ein Widerspruch in sich? Der Vollständigkeit halber sollte Erwähnung finden, dass der mit der Maßnahme des Erschießens in den meisten Gesellschaften riskierte Gefängnisaufenthalt sich dann auf die Lebenserwartung des Schützen ebenfalls negativ auswirkt. Eine Lose-lose-Situation also, weshalb diese Lösung wirklich nur im Notfall angewendet werden sollte.

Weitere Anregungen für ein langes Leben: Das Ausüben einer ehrenamtlichen Tätigkeit. Das zumindest ist nicht so offensichtlich wie die Empfehlung mit dem Sport, die sich mittlerweile wohl schon herumgesprochen hat.

Ehrenamt, Sport, Hund – all diesen Vorschlägen ist gemeinsam, dass sie zwar die Lebenserwartung steigern, ihrerseits allerdings ebenfalls Zeit beanspruchen. Die von der Gesamtlebenszeit natürlich wieder abgezogen werden muss, möchte man sich ein ausgewogenes Urteil bilden, ob sich der Einsatz lohnt. Ich habe zwar außer der Sache mit dem Sport alles schon ausgetestet, stehe aber nun vor dem Problem, dass ich noch nicht absehen kann, wie lange ich noch lebe. Bis jetzt habe ich Zeit also nur investiert. Ob ich am Ende des Lebens Zeit herausbekomme, ist kaum seriös vorauszusagen. So oder so – der Unterschied besteht in der Qualität: Sportler sterben gesünder, Ehrenamtler mit sich selbst und der Welt zufriedener, Hundehalter, generell Tierbesitzer glücklicher.

Der letzte Tipp: Eine positive Grundeinstellung bewahren.

Ja, ich musste auch erst einmal lachen. Nach genauerem Hinsehen konnte ich mich der Logik allerdings nicht entziehen: Weil sich durch den permanenten medizinischen Fortschritt natürlich die Wartezeit auf Paradiese, Wiedergeburten und ähnliche Versprechungen durchschnittlich stets weiter verlängert, spricht nämlich überhaupt nichts dagegen, das Leben vor dem Tod etwas würdevoller zu gestalten. Wenn schon nicht gesamtgesellschaftlich, dann wenigstens individuell. Das erfordert mehr als bloße Durchhalteparolen, das muss authentisch vorgelebt werden!

Darüberhinaus: Schlechte Laune konsequent zu Ende gedacht, endet in nicht wenigen Fällen im Freitod. Dieser jedoch, das leuchtet auf den ersten Blick ein, ist mit einem längeren Leben nur selten gut vereinbar. Also am besten immer heiter weiter. Pfandflaschen von glücklichen Senioren eingesammelt! Und bloß einen kühlen Kopf bewahren – man selbst oder jemand anderes könnte ihn noch brauchen.

(K)eine falsche Bewegung

Jeder kennt diese Videos, wo jemand sich ordentlich auf die Fresse legt, weil er Dinge ausprobiert, welche die Evolution für seinen Körper ganz offensichtlich nicht vorgesehen hat. Oder in denen ein gerade errichtetes Werk soeben noch stolz betrachtet wird, um sodann von einer Sekunde zur nächsten zusammenzubrechen. Am Missgeschick Anderer auf solche Weise teilzuhaben ist ein scheinbar fast so großes Bedürfnis wie das Betrachten von Bewegtbildern von Katzen.

Was viele bis jetzt nur geahnt haben: Das könnte alles ich sein. Körperlich so ungraziös, handwerklich so minderbegabt, dass es bis jetzt reiner Zufall ist, noch nicht selbst bei einem peinlichem Fehlgriff oder -tritt auf Video verewigt und viral verbreitet worden zu sein.

Deswegen höre ich mittlerweile immer auf zu arbeiten, sobald eine eingeschaltete Kamera zu wittern ist. Mehr noch: Inzwischen meide ich generell Situationen, in denen ich dazu verleitet sein könnte zu tanzen, Ski zu fahren oder hochkomplexe handwerkliche Tätigkeiten wie das Wechseln eines Leuchtmittels in Gegenden auszuführen, die zu erreichen ich auf Gegenstände steigen müsste. Weil ich aber trotzdem gern helfe, wenn ich gefragt werde, vielleicht aber auch einfach nur weil alle anderen schnell genug weg sind, wenn nach Hilfe gefragt wird, bin ich gern gesehener Helfer bei Umzügen, Entrümpelungen oder einfach überall dort, wo Gegenstände von A nach B bewegt werden müssen. Selbst einen Grabstein habe ich im Laufe meiner Karriere schon geschleppt. Beim Tragen kann ja nicht allzu viel passieren.

Daher hier meine Top 5 der Unfälle bei Möbeltransporten:

Platz 5: Der Auslöser

Weil der nun folgende Geniestreich erst ein Wochenende zurück liegt, ist er überhaupt der Ursprung des Gedankens, dem Thema einen Blogeintrag zu widmen. Und allein schon weil es uns gelungen ist, an dem Tag von fünf Teilen drei nicht im ursprünglichen Zustand ans Ziel zu bringen, ist die Aufnahme in diese Top 5 gerechtfertigt. Drei von fünf – keine ganz schlechte Quote, wenn man die durch Lebenserfahrung gewonnene Einsicht „Schlimmer geht’s immer“ berücksichtigt.

Die Details sind schnell erzählt: Beim ersten Teil, einer Kommode, war ich zum Glück nicht mit beteiligt, als sie auf dem Weg zum Anhänger eine ihrer Türen verlor. Das zweite Missgeschick ist während der Fahrt geschehen, obwohl wir alle bei der Abfahrt noch so glücklich waren, dass alles genau so ´reinpasst, dass die Ladung formschlüssig gegen Verrutschen gesichert war.

Beim dritten Mal, einer Vitrine, kann ich mich leider nicht mehr ´rausreden. Als es galt, das gute Stück am Treppenabsatz über das Geländer zu hieven, bot es sich für mich an, an ein Brett zu greifen, das ursprünglich als Abstandhalter mit zwei einfachen Schräubchen am Oberboden befestigt worden war. Konsequenterweise ist es dann auch passiert. Wo sich kurz zuvor noch eine große Vitrine über meinem Kopf befand, hielt ich jetzt lediglich noch dieses winzige Brettchen in meinen Händen über meinem Kopf als wäre es das Heilige Brett. Währenddessen knallte der schwere Rest des Möbels auf meine Unterarme und von dort zum Glück ohne Umweg über meinen Schädel weiter auf die Treppe, wo sich durch die Erschütterung die Glasscheibe aus dem Rahmen löste und mit viel Rums nach unten Richtung Rückwand donnerte und aber durch eine Fügung des Schicksals unversehrt blieb.

Glück gehört halt dazu.

Platz 4: Vorsicht Glas

Weniger Glück hatte mein Bruder, als wir zusammen eine gebrauchte Schrankwand für ihn abholten. Das Auseinandernehmen, soweit möglich, war schnell erledigt; das Einladen schien dank handlicher, leichter Einzelteile eine Formsache zu werden. Zum Warmwerden hatte ich als erstes die Glastüren in Decken gehüllt und nahe des Einstiegs auf der Ladefläche des 7,5-Tonners deponiert. Am Einstieg. Mit Absicht. Eben weil man dort mit einem Blick sieht, dass schon etwas liegt.

Ich behaupte bis heute, dass das Risiko an dieser Stelle objektiv geringer als an jedem anderen Ort auf der Ladefläche war. Dummerweise schert sich mein Bruder nicht um solche statistischen Details und latscht mit dem ersten Schritt, den er auf dem Fahrzeug macht, auf die Decken bzw. den Inhalt. Das charakteristische Knacksen meldete unbarmherzig zurück, dass von 95 Kilogramm Lebendgewicht ein paar Gramm zuviel für mindestens eine der Glastüren waren. Bei der Größe des Autos waren als Einstiegsmöglichkeit runde zwei Meter in der Breite übrig, die frei von Decken und sonstigem Gedöns waren. Selbst wenn also keine Glastüren darin eingehüllt gewesen wären, bleibt die noch immer unbeantwortete Frage, was genau jemanden dazu veranlasst, bei so viel Ausweichmöglichkeit ausgerechnet über einen Stapel Umzugsdecken zu laufen.

Platz 3: Eltern verzeihen alles

Einer meiner bittersten Momente, der seine Brisanz nicht durch einen spektakulären Sturz erhält, sondern durch den Sachverhalt, dass der Schaden entstand, bevor die Sache überhaupt das allererste Mal benutzt werden konnte.

Die sechs Stühle waren bereits oben, die Herausforderung angesichts eines großen, schweren Tisches hatten mein Vater und ich noch vor uns. Die Herausnahme der vier zusätzlichen Platten, die innerhalb des Tisches auf ihren Einsatz bei einer der damals zahlreichen Festivitäten warteten, sollte uns wenigstens ein bisschen Erleichterung verschaffen. Bezüglich des Tisches hatte das alles auch seinen Zweck zu 100 Prozent erfüllt; das Problem waren die herausgenommenen Platten. Diese wollte ich einzeln aufrecht auf die zur Stufe eingestellte Hebebühne lehnen. Eigentlich sollte so nichts verrutschen können. Sagen wir lieber einschränkend: Solange sich auf dem Fahrzeug niemand bewegt. Genau das war aber ja der Fall, als ich die nächsten Platten holen wollte. Also ist an der wegrutschenden Tischplatte eine Ecke abgesplittert. Was die Funktion freilich nicht beeinträchtigt hat, aber bestimmt nicht das ist, was man sehen möchte, wenn man den Tisch vor gerade einer halben Stunde für einen vierstelligen Betrag neu gekauft hat. Da ich sehr sicher einen guten Teil der Eigenschaften meines Vater geerbt habe, weiß ich inzwischen, wie sehr er sich damals auf die Zunge gebissen haben muss.

Platz 2: Mein erstes Mal

Auch wenn mir von vorherigen derartigen Hilfeleistungen die Problematik mit Waschmaschinen bewusst war, handelte es sich eigentlich um einen kleinen Fisch: Eine Waschmaschine von der zweiten Etage in den Keller. Drei Leute, ein Teil, kein Auftrag! Zumindest solange keiner stolpert. Jedoch ist mir dann auf halber Strecke genau das passiert. Mein Partner unten tat geistesgegenwärtig genau das, was man in einer solchen Situation macht: Loslassen und Arsch retten. Ich oben tat geistesgegenwärtig ebenfalls das, was man in einer solchen Situation macht: Ich versuchte, die Waschmaschine festzuhalten. So wie einst mein Kollege sein Bierglas samt Inhalt rettete, als er in der Disco kopfüber mehrere Stufen hinunterfiel, aber keinen Tropfen verschüttete. Anders als dieser konnte ich meinen Kampf aber letzten Endes nur verlieren. Es war ein ziemliches Getöse. Und da Treppenhäuser bekanntlich sehr laut sind, dauerte es nur wenige Sekunden, bis sich die erste Tür öffnete. Eine ältere Frau kam aus ihrer Wohnung, sah sich um und verschwand wieder, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass an ihrer Tür und am Treppenhaus alles intakt geblieben war. Immerhin: Dass sie sich für meinen Zustand überhaupt nicht interessiert hat, obwohl ich gerade meinen kompletten Körper abtastete, sorgte den restlichen Tag immer wieder für Lacher. Schließlich pflegte bereits zu jener Zeit die ältere Generation der jüngeren vorzuwerfen, sich für die Mitmenschen nicht sonderlich zu interessieren. Aus dieser Zeit habe ich mitgenommen, dass das neben anderen Faktoren unter anderem am Mangel an guten Vorbildern liegen könnte.

Platz 1: Die Mutter aller Unfälle

Der Vorfall ereignete sich beim Umzug eines befreundeten Pärchens und hat schon deshalb den ersten Platz verdient, weil wie immer niemand verletzt wurde, es aber dermaßen gepoltert hat, dass alle anderen Beteiligten panisch zu Hilfe geeilt kamen. Jedoch war das einzige, was sie sehen konnten, ein etwas rundlicher Micky, der halb in der Wohnung der unterhalb wohnenden Nachbarin lag, weil deren Tür die Wucht seines Aufpralls nicht standgehalten hat, als er auf der Treppe gestolpert und selbige heruntergepurzelt ist. Die Matratze, die ich gerade heruntertragen wollte, lag passenderweise halb neben, halb auf mir, so dass Sprüche wie „Einen besseren Ort für Deine Pause hast Du wohl nicht gefunden“ natürlich nicht lange auf sich warten ließen, nachdem geklärt war, dass ich keinen bleibenden Schaden mitgenommen hatte.

Die Nachbarin selbst hat, weil abwesend, nichts mitbekommen. Weil die betagte Dame aber an und für sich vorher zugesagt hatte, ihre Tür zu öffnen, damit wir es im engen Treppenhaus mit den großen Teilen etwas leichter haben, haben am Ende alle Helfer von meiner szenischen Umsetzung des Sprichwortes „mit der Tür ins Haus fallen“ profitiert.

Ausblick

Erstaunlicherweise hat mein Ruf unter all diesen Zwischenfällen weniger gelitten als mein geschundener Körper: Ich werde trotzdem immer wieder gefragt. Nicht dass ich diese Absicht verfolge, aber nachdem ich hiermit das ganze Ausmaß öffentlich gemacht habe, würde es mich nicht wundern, wenn das in Zukunft seltener geschähe.

Gute Pläne, schlechte Pläne

Als die Welt noch in Ordnung schien, das heißt zu einer Zeit, in der mir schon länger gedämmert war, dass sie keineswegs in Ordnung ist, aber eine intakte, weil frische Beziehung die Illusion nährte, dass wenigstens individuell alles gut werden könne, begab es sich eines Sonntagmorgens, dass meine spätere Frau mich mit einem Vorschlag überraschte: Sie hatte einen Flohmarkt für uns herausgesucht, den zu besuchen unser Vormittagsprogramm des damaligen Tages werden sollte. Sie hatte ja offensichtlich keine Ahnung, was sie damit anrichtet. Denn hätte sie diese Ahnung auch nur im Ansatz gehabt, dass das nämlich die folgenden Jahre unsere Beschäftigung für ziemlich jeden Sonntag von März bis Oktober wird – sie wäre an besagtem Tag wahrscheinlich bis zum Nachmittag liegengeblieben.

Flohmarktbegeistert war ich freilich schon vorher gewesen. Bereits früh in meinem Leben überzeugte mich das Konzept, dass Gegenstände, für die ich mich mit einiger Berechtigung niemals interessiert habe, durch die bloße Tatsache, dass sie günstig zu erstehen sind, plötzlich ein dringendes Bedürfnis in mir wecken, sie haben zu müssen.

Bis kurz nach dem Aufwachen an besagtem Tag hieß Flohmarkt für mich aber: Samstags am Offenbacher Maindamm. Dieser Markt war eine Institution. Schon als ich mein geringes zur Verfügung stehende Einkommen noch überwiegend in Alkoholika angelegt hatte, war ich Woche für Woche dort anzutreffen. Auch um nach Schnäppchen zu sehen, aber eigentlich mehr um Leute zu treffen. Der Spaziergang entsprang also einer ähnlichen Motivation wie derjenigen, wegen der manche Leute Spiele des OFC besuchen. Wie vom Leben allgemein erwartet man auch von diesen 90 Minuten nicht viel, bekommt am Ende sogar auch meistens genau das, nämlich nichts, aber man hat dafür einen Haufen Bekannter gesehen. Zweck erfüllt, bis nächste Woche dann..!

Die Sonntagsmärkte haben mir dann gänzlich neue Möglichkeiten eröffnet: Mit deutlich weniger Aussicht auf Treffen von Bekanntschaften zwar, dafür aber mit einer Vervielfachung potentieller Angebote, die ich nicht ablehnen kann.

Dabei muss ich mir selbst zugute halten, bis auf wenige Ausnahmen nie geschmacklose Einrichtungsgegenstände angeschleppt zu haben, sondern immer nur Dinge, die ich gebraucht habe. Ja, vielleicht brauchte ich sie nicht sofort, sondern hatte eher so einen Verdacht, ich könnte sie irgendwann einmal gut gebrauchen. Also genau genommen Sachen, die man überhaupt nicht braucht, aber trotzdem mitnimmt. Weil man die „nie wieder so günstig“ bekommt. Regalmeterweise Bücher habe ich im Laufe eines halben Lebens auf diese Weise akkumuliert. Ohne Aussicht, jemals alles lesen zu können, es sei denn, ich würde das andere halbe Leben durch irgendwelche Umstände zum Privatier. Dann dürfen aber keine neuen Titel mehr dazukommen. Wenn ich ehrlich bin: Nach einem gut durchdachten Plan klingt das nicht.

Der Preis ist heiß

Dabei wäre alles halb so schlimm, wenn nicht die Ahnung, dieses oder jenes vielleicht irgendwann im Laufe des restlichen halben Lebens noch zu benötigen, auf der anderen Seite das größte Hindernis wäre, sich auch ´mal wieder von Dingen zu trennen. Nehmen wir als Beispiel den Zimmerbrunnen in der Optik einer prall gefüllten Obstschale. Meine nunmehrige Ex-Gattin, in der Anhäufung von Tinnef ja nun selbst kein unbeschriebenes Blatt, hatte entschieden, dass in der Wohnung dafür kein Platz ist. Ich bin sehr sicher, dass ich das Teil nach der Trennung verwendet hätte. Vielleicht nicht aus ästhetischen Gründen, denn zugegeben war der Brunnen irgendwie in der Tat hässlich. Aber aus Prinzip hätte ich den hier aufgestellt! Bloß dass der Brunnen schon längst Geschichte ist. Nicht dass sie ihn nach einer gewissen Karenzzeit einfach heimlich entsorgt hätte. Nein, sie hat ihn auf dem Flohmarkt verkauft. An jemand Unbekannten, einfach so. Immerhin hat uns die Aussicht, dass der ungeliebte Brunnen möglicherweise im nächsten Haushalt das exakt gleiche Schicksal erleidet wie hier, am Ende beide amüsiert.

Welche Erkenntnis lehrt uns diese Episode? Schlicht und einfach dass ich als Verkäufer mutmaßlich nicht so gut geeignet bin, weil ich mir dieses Eventuell-noch-mal-brauchen-und-deshalb-selbst-an-dem-letzten-Mist-noch-hängen-Gefühl so teuer bezahlen lassen wollen würde, dass niemand auf die Idee käme, den aufgerufenen Preis auch zahlen zu wollen.

Immerhin: Wenn ich mich dazu durchringe, mich von etwas zu trennen, dann zu Discountpreisen: „Jedes Buch 1 Euro, 2 Bücher 2 Euro“ Was auch immer letzten Endes die Motivation für den Einzelnen gewesen sein mag – die Mehrheit hat gleich zwei Titel gekauft. Irgendwann probiere ich auch aus, ob es mit „Jedes Buch 1 Euro, 2 Bücher 3 Euro“ auch so gut funktioniert.

Wo wir gerade beim Thema sind: Selbst nach einem halben Leben Flohmarkterfahrung ist mir das Verhandeln bis heute ein Graus. Entweder ist mir der genannte Preis genehm und ich zahle bereitwillig, oder ich gehe kommentarlos weiter. Man könnte also sagen: Ich habe das Prinzip Flohmarkt nicht verstanden. Mindestens genauso wahrscheinlich ist aber der tiefer liegende Grund meiner Antipathie gegen das Schachern eine generelle Abneigung fremden Menschen gegenüber. Mit dem Resultat, dass ich mit ihnen auch nicht mehr reden möchte als unbedingt notwendig. Diese meine aufrichtige Misanthropie hält mich jedoch nicht von Tagträumen ab, in denen mir ein Verkäufer sagt: „Moment, Du bekommst noch etwas ´raus. Ich habe zwar gesagt, dass ich fünf Euro dafür haben möchte, aber doch nur in der Annahme, dass Du mir dann einen bietest und wir uns dann nach siebenmal hin und her bei drei Euro treffen. Womit ich als Erlös für diesen zeitlos schönen Zimmerbrunnen sehr zufrieden bin. Daher bekommst Du noch zwei Euro zurück.“

Offen gestanden: Ein besonders realistisches Szenario ist das nicht.

Ähnliches gilt für die Vorstellung, die Welt könnte irgendwann doch noch wenigstens halbwegs in Ordnung werden.

Trotzdem höre ich nicht auf, daran zu glauben.

Beste Freunde

Am besten, man denkt sich nach dem folgenden Satz Tusch, Konfettiregen, Feuerwerk und Fanfarenklänge in dem einem solchen Ereignis angemessenen Umfang dazu. Ich werde nämlich in zwei Tagen, selbstverständlich nur sofern das Schicksal nicht doch andere Pläne mit mir hat, meinen 17. Trockengeburtstag feiern.

17 Jahre ohne einen Tropfen Alkohol. Wo bei manch anderem das Durchhaltevermögen gerade oder nicht einmal für drei Tage Abstinenz reicht, kann ich endlich einmal mit Fug und Recht von einer Erfolgsgeschichte, einem echten Meilenstein sprechen.

Zwar kann es sein, dass ich deswegen früher sterbe, dafür aber wahrscheinlich gesünder. Klingt wie ein schlechter Scherz, aber durch gleich mehrere Studien soll nachgewiesen worden sein, dass Abstinenzler im Schnitt früher sterben als gelegentliche Trinker. Was bedeutet das? Erstens: Mehr noch als bei anderen Untersuchungen ist beim Thema Alkohol nicht ganz unwesentlich, wer die Studie in Auftrag gegeben hat. Zweitens: Nicht zwangsläufig bedeutet Korrelation zweier Variablen auch Kausalität. In Bezug auf den Zusammenhang zwischen Abstinenz und niedriger Lebenserwartung fehle beispielsweise die Differenzierung, weshalb die Probanden abstinent lebten, moniert die Gegenseite. In der Tat klingt folgende Vermutung auch nicht komplett aus der Luft gegriffen: Wenn angenommen werden darf, dass einige aufgrund ohnehin angeschlagener Gesundheit komplett auf Alkohol verzichten, klingt es einigermaßen plausibel, dass exakt jene gesundheitliche Beeinträchtigung ursächlicher für einen früheren Tod ist als die Abstinenz an sich.

Aber Alkohol kann noch mehr als Leben verlängern. Und zwar hilft er beim Lernen. Wirklich! Zwar vergrößert Alkohol die Schwierigkeiten, neue Informationen aufzunehmen. Eine Erfahrung, die so ziemlich jeder mindestens einmal im Leben gemacht haben dürfte. Dafür wären aber im Hirn umso mehr Ressourcen frei, um das vorher Gelernte im Gedächtnis zu verankern. Hätte ich also nicht bereits in den Freistunden in Schule und Universität schon gesoffen, sondern wie jeder anständige Mensch erst hinterher, wäre mein Lernerfolg vermutlich größer gewesen. Ich habe das Zeug also einfach nur falsch angewendet. Hätte ich das ´mal vorher gewusst…

Auch bei Fremdsprachen hätten mir meine täglich sechs bis sieben Liter Bier hilfreich sein können: Leicht Alkoholisierte haben eine bessere Aussprache bei einer Fremdsprache, wurde kürzlich festgestellt. Da hilft es auch nichts, dass es um die niederländische Sprache ging. Niederländisch kann man exzellent sprechen, gerade wenn man die Zähne nicht besonders weit auseinander bekommt. Wen wundert es da noch, wenn das im angeheiterten Zustand beeindruckend gut klingt?!

Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche

Obwohl ich also durch das Nicht-Trinken Abstriche bei Fremdsprachen- wie Wissensaneignung machen muss, habe ich vor 17 Jahren den richtigen Schritt unternommen. Wenigstens so weit ich das bis jetzt überblicken kann. Ich habe die Reißleine rechtzeitig gezogen. Die Abwärtsspirale gestoppt, kurz bevor sie richtig an Fahrt gewinnen konnte. Bier in Plastikflaschen und mit Schraubverschluss habe ich nicht mehr miterleben müssen. Allein schon deshalb hat sich der Ausstieg gelohnt.

Sieht man davon ab, dass es für einen solchen Schritt keine falsche Zeit geben kann – auch aus einem anderen Grund und um das Ganze ab hier wieder auf eine etwas ernsthaftere Ebene zu hieven, habe ich wohl einmal im Leben das Richtige zur richtigen Zeit unternommen. Da nämlich der Kreis der Freunde und somit also der Unterstützer nur wenig später – ich war Ende 20 – durch Rückzüge in gerade gebaute Nester deutlich zusammenschrumpfte, wäre das alles vermutlich zu einem späteren Zeitpunkt sehr viel schwerer gefallen. Noch heute bin ich dankbar, dass ich in einer der schwierigsten Phasen meines Lebens auf ein intaktes soziales Umfeld zurückgreifen konnte und mich nicht ausschließlich auf die Erfahrungen der neu kennengelernten Typen aus diversen Selbsthilfegruppen stützen musste.

Um hier niemandem Unrecht zu tun: Natürlich geben die Erfahrungsberichte dort Halt; sie zeigen den Betroffenen, dass man kein Außerirdischer ist, sondern einer von vielen. Dort werden Probleme verstanden, die nur jemand verstehen kann, der in der gleichen Situation ist. Und um verstanden zu werden, bedarf es keiner großen Erklärungen, sondern manchmal nur ein bis zwei Worte. Das Potenzial einer Selbsthilfegruppe ist enorm. Umso bedauerlicher ist es eigentlich, dass ihre Leistung an manchen Tagen auf die bloße Funktion reduziert wurde, sich besser zu fühlen, weil man feststellen durfte: So kaputt wie die meisten anderen bin ich noch lange nicht.

Für Nichteingeweihte: Man trifft dort also hauptsächlich deswegen zusammen, um sich gegenseitig darin zu bestätigen, dass alles furchtbar schlimm ist. Entzug ist schlimm, Abstinenz ist schlimm, Saufen war schlimm. Es artete manchmal in einen Überbietungswettbewerb aus, bei dem derjenige, dem es am miesesten ging, sich als Sieger dieses Vergleichs fühlen durfte. In diese Situation hinein kam eines Morgens eine junge Frau und hielt allen Anwesenden einen Spiegel vor. Während sie vortrug, dass sie selbst seit der Entgiftung die beste Zeit ihres Lebens durchmache, haben einige wahrscheinlich bedauert, dass das Verbrennen auf dem Scheiterhaufen im Laufe der Jahre ein wenig aus der Mode gekommen ist. Sie hatte es gewagt, dem Chor der chronischen Jammerlappen und Selbstverachter den ausgestreckten Mittelfinger zu zeigen. Das alles hatte mittlere Unruhe bei den anderen Teilnehmern zur Folge gehabt. Da lag mehr Spannung in der Luft als an dem Tag, als sich dort je ein Vertreter der Raucher- und der Nichtraucher-Fraktion dadurch befehdeten, dass sie im 30-Sekunden-Takt aufstanden, um das soeben vom anderen geöffnete Fenster umgehend wieder zu schließen oder eben umgekehrt das dann geschlossene Fenster zu öffnen.

Der aufmerksame Beobachter kann also feststellen: Die Lebenslügen kennzeichnen den Alkoholiker, ob nass oder trocken. Es geht heiter weiter, nur eben mit anderen Vorzeichen. Vorher: Alles nicht so schlimm, man könnte, wenn man wollte, auf der Stelle aufhören, man hat sich im Griff. Nachher: Alles war so furchtbar trostlos, alles war ganz schlimm. Sicher, die späteren Phasen sind häufig gekennzeichnet von Vereinsamung, von depressiven Verstimmungen, sind in der Tat traurig anzusehen.

Aber eines steht genauso fest: Wer niemals das erreicht hätte, was er durch exzessiven Alkoholmissbrauch hatte erreichen wollen, wäre so weit unten gar nicht angekommen. In meinem Fall war das Ziel nicht nur die Überwindung verschiedenster Unsicherheiten, sondern wie ich Jahre später lernte auch die Fähigkeit, meine Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt zu lenken und das Morgen gerade ´mal egal sein zu lassen. Jeder hat mit der Sauferei ein oder mehrere Ziele verfolgt, bevor sie schließlich zum Selbstzweck wurde. Wenn dieser Zweck zu keiner Zeit erfüllt worden wäre, hätten wir doch alle die Finger wieder davon gelassen. Es hätte schlicht keinen Grund gegeben, wieder und wieder zu trinken. Demnach kann nicht alles schlecht gewesen sein. Weil: Allein wegen des Geschmacks hat mit Sicherheit niemand, der noch alle Tassen im Schrank hat, zu Bier oder Schnaps gegriffen. Gut, es gab Apfelwein, aber auch dessen gaumenschmeichlerische Eigenschaften rechtfertigten niemals die Einnahme von solchen nicht nur geringfügigen Mengen.

Nachdem ich in den ersten Jahren jeden Trockengeburtstag groß gefeiert habe, ist es schon seit einiger Zeit alles in allem deutlich ruhiger geworden um das Thema. Es hat sich normalisiert. Was gut ist. Angesichts der Riesenleistung, die das ja nach wie vor ist, täte ich aber gut daran, mich von Zeit zu Zeit vor mir selbst zu verneigen. Erst recht, weil das alles nicht nur geräuschlos, sondern in Würde vonstatten geht und nicht mit großem Lamento wie bei den beschriebenen Leidensgenossen. Vielleicht sollte ich wenigstens zu den Jahrestagen doch wieder ein bisschen mehr Rummel darum zulassen. Um für dieses Jahr großartig was auf die Beine zu stellen, fehlt spontan wohl etwas Zeit. Aber nächstes Jahr, da werde ich ja volljährig. Da muss einiges gehen!

Ich erwarte, mir Konfettikanonen und Pyrotechnik dann nicht nur denken zu müssen.

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