Aufzeichnungen aus der Wirrnis des Alltags

Monat: Juni 2021

Auszeit

Es mag sein, dass „Ich kann nicht mehr“ bei den meisten Menschen eigentlich „Ich will nicht mehr“ bedeutet. Zumindest bei mir gibt es in der Regel diesen einen Punkt, der Schlimmeres verhindert, weil der Geist dem Körper vorgeschaltet ist. Man muss nicht stolz sein auf diese Eigenschaft. Dankbar wäre schon ausreichend. Mag sein, dass die beiden Marken nicht sehr weit auseinanderliegen, doch angesichts der Alternative Totalzusammenbruch sind auch Nuancen Gold wert.

Da diese Blogeinträge hier nach Feierabend entstehen, gibt es regelmäßig Abende, an denen ich mir noch drei schnelle Kaffees ´reinzimmere, um etwa 90 Minuten zusätzliche Zeit zu gewinnen, bevor ich vor dem Bildschirm einnicke. Im Ergebnis bin ich am nächsten Tag nicht so fit wie ich sein möchte, war – wenn man es überspitzen möchte – mehr auf dem Klo als vor der Tastatur und selten zufrieden, weil entscheidend weitergekommen mit dem Texten, wiederhole den Vorgang dennoch zwei bis drei Abende, damit alle zwei Wochen ein ansprechender Text herauskommt. Dieser wird dann von den üblichen fünfzehn Leuten wahrgenommen, von denen allerdings regelmäßig fünf thematisch von vorneherein nicht abgeholt wurden. Von den restlichen zehn haben sechs keine Zeit zum Lesen, aber zwei davon überfliegen mir zuliebe das Ganze, um einigermaßen glaubhaft zu versichern, dass der Blogeintrag diesmal wieder besonders gelungen ist. Nichts davon mache ich irgendjemandem zum Vorwurf, aber mit zehntausenden Fans im Rücken würde sich diese Aussage definitiv leichter tätigen lassen als mit zehn.

Es mag sein, dass es dort draußen Schreiberlinge gibt, für die das Konzept, vor allem für sich selbst zu schreiben, hervorragend funktioniert. Als gesunde Basis ist diese Einstellung auch überhaupt nicht zu verachten. Doch warum sollte ich mir selbst in die Tasche lügen, wenn ich doch weiß, um was es eigentlich geht: Bestätigung und Anerkennung. Im Prinzip also die gleichen Motive, derentwegen andere Sport treiben, teure Autos fahren oder einen Facharzt für ästhetische Chirurgie aufsuchen. Nur individueller.

Üblicherweise ist es ja so, dass es spätestens im Angesicht des Todes keinen Unterschied mehr macht, wie viel Kohle man hatte, welche Karre man gefahren oder wie viele Menschen man flachgelegt hat. Nach einer gewissen Zeit bleibt eine Handvoll Leute übrig, denen man tatsächlich fehlt. Für manche, einschließlich meiner selbst, ein Problem. Für irgendwas muss das alles ja gut gewesen sein. Also versucht man, unsterblich zu werden, indem man ein wie auch immer geartetes Werk hinterlässt, das einen stellvertretend am Leben erhält. Was das alles so schwierig macht und weshalb sich dieses Werk am Ende doch nur auf das Zeugen einer mehr oder minder zufälligen Anzahl an Nachkommen beschränkt: Man muss schon sehr, sehr gut sein, um Generationen danach wenigstens dem Namen nach noch eine feste Größe im kollektiven Gedächtnis zu sein. Man hat also entweder das Telefon erfunden oder ist auf dem Mond gelandet, hat Kriege geführt oder ein Attentat auf Menschen verübt, die Kriege geführt haben. Dagegen kann ich mit ein paar Zeilen Prosa nicht anstinken. Überhaupt auf die Idee zu kommen, irgendeine Sau außerhalb der familiären Blase würde sich auch nur 10 Jahre später noch wohlwollend an einen erinnern, ist vermessen! Und: Nein, der geniale Text über die misslungene Entsorgung der vollgeschissenen Unterhose am Baum im Hof ändert an diesem Sachverhalt leider nur wenig. Es mag sein, dass das alles gerade extrem harter Stoff für einen Blog ist, der eigentlich der Unterhaltung dienen soll. Aber für jemanden, der eigentlich keinen Kaffee mag, ist sowieso schon länger Schluss mit lustig. Es hätte mich ehrlich gesagt auch gewundert, wenn der Satz „das war alles eigentlich ganz anders geplant“ ausgerechnet hier einmal nicht anzuwenden gewesen wäre.

Es mag sein, dass die Konsequenz, die ich aus all diesen Überlegungen zu ziehen gedenke, nicht allerorten begeistert aufgenommen wird, aber: Ich benötige eine Auszeit.

Ich brauche Zeit, um mir darüber klar zu werden, wie schlau die Fortführung eines Projektes, bei dem ich seit viereinhalb Jahren auf der Stelle trete, überhaupt sein kann. Denkbar, dass ich während dieser Auszeit zu dem Schluss komme, dass alles keinen Sinn mehr macht, der Ertrag den Aufwand dauerhaft nicht rechtfertigt. Ebensogut kann es passieren, dass mir plötzlich oder allmählich ein richtig guter Plan einfällt, wie ich für den Meilensteinbildhauer irgendwie doch noch einen angemessenen Zuwachs an Popularität generieren kann. Möglicherweise steigt meine Motivation schneller als erwartet wieder an, weil einige meiner treuen Leser mir sehr gute Ideen zukommen lassen, wie dieser Blog endlich die Aufmerksamkeit bekommen kann, die er verdient.

Es könnte aber natürlich auch die Aufdringlichkeit, mit der hier mit dem Zaunpfahl gewunken wurde, als gar zu offensiv empfunden werden. Wer weiß das schon?! Ich bin Texter, kein Prophet. Jedenfalls bin ich dann ´mal für eine Weile weg.

Europameister der Herzen

Dass in Deutschland die Erwartungen an die soeben begonnene Fußball-EM nicht sonderlich hoch sind, ist nachvollziehbar: Nach dem frühen Aus in der Vorrunde der WM vor drei Jahren sind Demut und Bescheidenheit eingekehrt. Man hat gelernt, dass es oft, aber eben nicht immer ausreicht, einfach nur Deutschland zu sein und ansonsten irgendwelche Formeln mit dem Bestandteil „Turniermannschaft“ aufzusagen, um in jedem Wettbewerb automatisch bis mindestens ins Halbfinale vorzustoßen.

Da die erste paneuropäische EM unter dem Eindruck einer Pandemie stattfindet, ist allerdings auch andernorts die Vorfreude auf die Endrunde gedämpft. Insofern kommen Viren, auch wenn sie bereits seit einiger Zeit bereits nicht mehr neuartig genannt werden, relativ ungelegen. Andere meinen, dass umgekehrt angesichts dringenderer Probleme die EM zur Unzeit kommt. Egal von welcher Warte aus man das Ganze betrachtet – am Ende bleibt der Ersteindruck: Selten war ein fußballerisches Großereignis uninteressanter als diesmal. Kommt dann noch dazu, dass man in seinem Blog schon seit jeher über Themen berichtet, die die Welt nicht interessieren, liegt es nicht nur nahe, sondern verpflichtet einen fast schon dazu, endlich wieder einmal über Fußball zu schreiben. Ich lege bereitwillig noch einen drauf: Schon mein grundsätzliches Desinteresse an solchen Wettbewerben qualifiziert mich über die Maßen, darüber zu berichten. Wenn das alles zusammen nicht die besten Voraussetzungen für einen lesensunwerten Text sind, dann weiß ich auch nicht.

Ich bin kein Fußballfan. Ich liebe meine Eintracht, aber das war es auch schon. Wenn der Sinn und Zweck des sportlichen Kräftemessens nicht abverlangen würde, dass man wenigstens hin und wieder gegen andere Teams spielt, könnte ich schon auf andere Vereine voll und ganz verzichten. Für das Kräftemessen auf internationaler Ebene gilt das in verstärktem Maß. Das Konzept, Spielern, die man im Liga-Alltag zu Recht mit Bezeichnungen wie „Wichser“ oder „Arschloch“ schmückt, auf einmal zujubeln zu müssen, weil es um Deutschland geht, war ja schon vor rund 30 Jahren keines, das einem aufgrund seiner inneren Logik auf Anhieb einleuchten müsste. Als ob das Risiko, dass besagte Wichser und Arschlöcher irgendwann zum eigenen Verein wechseln und dann ebenfalls nicht mehr beschimpft, sondern gefeiert gehören, nicht schon ausreichte!

Um dieses Problem zu umschiffen, beschloss ich irgendwann, mir eine andere Auswahlmannschaft zu suchen, mit der ich guten Gewissens mitfiebern konnte, weil keine oder wenigstens nicht so viele Unsympathen aus München, Stuttgart oder Dortmund Teil des Ensembles waren. Ein weiteres Kriterium war: Halbwegs regelmäßige Teilnahme an Welt- und Europameisterschaften. Weswegen es zugegeben auch etwas verwundert, dass es am Ende die Niederlande wurden. Aber nach den ersten fruchtlosen Diskussionen, wieso ich bitte nicht für Deutschland halte, war klar, dass ich dieser Borniertheit eine maximale Provokation entgegenzusetzen hatte. England hatte sich angeboten, zumal nach Kanzler Kohls verbalem Nachtreten nach dem für Deutschland siegreichen WM-Halbfinale 1990, man habe die Engländer in ihrem Nationalsport besiegt. Der Konter der damaligen britischen Premierministerin war hingegen weltmeisterlich: „Richten Sie ihm aus, dass wir die Deutschen in diesem Jahrhundert schon zweimal in ihrem Nationalsport besiegt haben.“ Das hatte Charme und Klasse, doch ein Problem blieb bestehen: Außer ein paar Hooligans interessierte sich in Deutschland nämlich kaum jemand für die seitens der Engländer recht einseitig gepflegte Rivalität. Wenn ich nachhaltig provozieren wollte, mussten schärfere Geschütze aufgefahren werden. Und glücklicherweise gab es zu jener Zeit eine andere bedeutende Fußballnation, die sich mächtig dafür ins Zeug gelegt hat, von den Deutschen abgrundtief gehasst zu werden: Dem ein´ Rudi Völler in die Locken zu spucken oder, zwei Jahre zuvor, sich am Hintern zu kratzen, während man das soeben getauschte deutsche Trikot noch in der Hand hält – beim Fußball hat schon weniger ausgereicht, um sich nachhaltig unbeliebt zu machen.

Letzten Endes konnte weder England noch Niederlande verhindern, dass Deutschland 1990 den Titel gewann. In einem Jahr also, das für dieses Land durch die nur noch einen Abwurf weit entfernte Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten ohnehin besonders große Bedeutung hatte. Das Zusammenspiel von Fußball-WM und bevorstehender Einheit ließ das Bedürfnis wachsen, fahnenschwenkend auf den Straßen zu feiern. Das, was heute als Party-Patriotismus bezeichnet wird, wurde im Grunde 1990 geboren. Und das hatte Folgen: Weil Autokorsos und deutsche Lebensart ungefähr gar nicht zusammenpassen, hat man das Ganze erstmal von der Spontanität befreit und zum Ritual verkommen lassen, das in den darauffolgenden Jahren auch dann noch durchgeführt wurde, wenn man trotz einer indiskutablen Vorstellung durch Zufall gerade noch so die nächste Runde erreicht hat. Da rollt man nicht einfach so die Fahnen zusammen und geht nach Hause – da muss auf die Kacke gehauen werden! Schließlich hatte einer für diese Zeremonie extra nüchtern bleiben müssen, und in solchem Zustand waren noch die wenigsten Spiele mit deutscher Beteiligung ein Genuss.

Beseelt von WM-Titel und bevorstehender Wiedervereinigung kündigte beziehungsweise drohte Teamchef Beckenbauer eine „auf Jahre unschlagbare“ deutsche Nationalelf an. Andere betrachteten den nationalen Taumel argwöhnisch als die geöffnete Büchse der Pandora; es stand zu befürchten, dass bei weitem nicht alle ihre Fahnen brav wieder einrollen, sobald der Ball nicht mehr rollt. Kurze Zeit später wurden Flüchtlingswohnheime in Brand gesteckt, dafür aber bereits wieder wichtige Fußballspiele verloren. Ich hatte es geahnt, und dennoch: Hätte mir damals irgendjemand gesagt, dass nur eine dieser beiden Aussagen definitiv zutreffen wird, die andere dagegen ebenso definitiv nicht, wäre meine Schadenfreude angesichts der deutschen Endspielniederlage gegen Dänemark nicht so groß gewesen.

Zurück zum Sport: Mit den Jahren veränderte sich mein Verhältnis zur niederländischen Elftaal. Aus einem Zweckbündnis wurde echte Zuneigung. Das lag nicht nur daran, dass mir orange einfach sehr gut steht, sondern auch an einer Einsicht: Denn nach und nach begriff ich, dass es bei der ganzen Rivalität nur am Rande um den 2. Weltkrieg und die deutsche Besatzung geht. In Wirklichkeit verbirgt sich dahinter ein viel tiefer sitzender Konflikt. Er lautet Feingeist gegen Zweckmäßigkeit. Während in Deutschland Titel erkämpft werden, sind die Niederländer meistens die Titelträger der Herzen: Ineffizient, aber geil. Erfolglos, aber schön.

Für jemand wie mich bedeutet das natürlich ausreichend Projektionsfläche.

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