Aufzeichnungen aus der Wirrnis des Alltags

Monat: September 2020

Offenbach ist überall

Sollte das Gerücht stimmen, wonach jeder das bekommt, was er verdient, müsste ich demnächst dringend abklären, aufgrund welcher meiner Vergehen mir diese Woche folgende Begegnung widerfuhr: Auf dem Weg zu einer Verabredung kam ein fremder älterer Mann mit der Frage „Wo ist Offenbach?“ auf mich zu.

Während ich auf der Arbeit inzwischen oft höchstens noch dann überhaupt angesprochen werde, wenn es sich gar nicht vermeiden lässt, scheine ich in der Freizeit eine gewisse Kompetenz auszustrahlen, die jedem Dahergelaufenen signalisiert: Dem da vorne kannst Du jeden Mist erzählen. Als ich einmal in einem großen Fahrradgeschäft – wie ich zugeben muss: relativ uninspiriert – ein bestimmtes Modell betrachtete, wurde ich von einer Frau unvermittelt in ein Gespräch darüber verwickelt. Das ging ein paar wenige Sätze hin und her, bis sie mir einigermaßen diplomatisch zu verstehen gab, dass ich für einen Verkäufer erstaunlich schlecht über dieses Rad informiert wäre.

Es gibt ja unter Verkäufern unterschiedliche Typen. Ein paar wenige Übermotivierte sprechen Dich in einem je nach Sichtweise geeigneten oder ungünstigen Moment an, in dem Du noch nicht einmal ahnst, dass Du am Ende des Gesprächs wieder irgendwas gekauft hast, was Du an und für sich nicht gebraucht hättest. Einen guten Verkäufer zeichnet es auch aus, dass ihm eigentlich egal ist, welches Produkt er unter die Leute bringen soll – er macht es einfach. Einem schlechten Verkäufer ist es eigentlich auch egal, was er – in diesem Fall: nicht – verkauft. Im Wissen, dass er sehr wahrscheinlich auch dann nicht besser bezahlt wird, wenn er seine Kundschaft seriös und kompetent berät, bemüht er sich nach Kräften, so abwesend wie gerade möglich zu wirken. Und für so jemanden hatte diese Frau mich gehalten! Ich habe nie darüber gesprochen, was das in mir ausgelöst hat, habe aber mit einer für mich typischen Verzögerung von drei bis vier Jahren daraufhin begonnen, an meiner Wirkungskompetenz zu arbeiten.

Das freilich hat mich, wie man sieht, nicht davor bewahrt, mitten in Offenbach plötzlich einem Menschen gegenüberzustehen, der sich von mir eine befriedigende Antwort auf seine Frage, wo Offenbach ist, erhoffte. Er deutete auf einen Wegweiser an der Straßenkreuzung und sagte: „Rechts ist Frankfurt und Heusenstamm.“

Tatsächlich war auf dem Schild nicht ein einziger Hinweis auf Offenbach zu finden. Was in diesem Fall zwar streng genommen eher ein beruhigendes Zeichen ist, mich aber dennoch dazu brachte, mich einen angemessenen Augenblick lang mit den Fragen „Wo bin ich hier eigentlich“, „Warum sind wir hier“ und „Wer wird Meister, wer steigt ab“ zu beschäftigen.

Aber was bitteschön sollte ich dem Mann jetzt antworten? Solch eine bescheuerte Frage habe ich selbst auf der Arbeit noch nicht gehört, wo bei so manchem Kollegen der Support fürs Betriebssystem ganz offensichtlich bereits vor einiger Zeit eingestellt wurde. Ich erinnerte mich daran, dass Goldfischen stets nachgesagt wird, nach nur drei Sekunden all ihr innerhalb dieser Zeit angeeignetes Wissen wieder vergessen zu haben. Ich erinnerte mich jedoch auch daran, dass man inzwischen weiß: Ein Goldfisch kann sich sogar an Dinge erinnern, die drei Monate zurückliegen. Die Theorie, dass dem fremden Mann versehentlich oder vorsätzlich ein Goldfischgehirn eingesetzt worden sein könnte und er deswegen einfach nur vergessen hat, dass er sich bereits in Offenbach befindet, konnte ich demnach verwerfen. Gleichzeitig vergegenwärtigte ich mir in diesem Moment zum ersten Mal, wie weit ein Goldfisch mit dieser Gedächtnisleistung einigen Kollegen tatsächlich überlegen ist. Das ist einem ja oft gar nicht so bewusst. In anderem Zusammenhang hatte ich erst kürzlich die Überlegung geäußert, wenn ich sagen dürfte, was ich wollte, hätte sich schon so mancher Kollege genauer überlegt, ob er sich noch einmal irgendwo als Lagerist bewerben soll.

Genau genommen würde sich womöglich der eine oder andere niemals wieder überhaupt irgendwo bewerben.

Ich überlegte, was dieser ältere Mann wohl in einem Bewerbungsgespräch auf die Standard-Begrüßungs-Floskel „Haben Sie gut hergefunden“ antworten würde. Ich überlegte aber auch, ob solche Gehässigkeiten am Ende gar nicht Folge, sondern wenigstens zum Teil Ursache der täglichen Negativerfahrungen in meinem Berufsalltag sein könnten. Jedoch war – das war ich durchaus bereit, mir einzugestehen – keine dieser Überlegungen bis hierhin geeignet, dem Mann bei seinem Problem in irgendeiner Weise weiterzuhelfen. Der kurzzeitig aus den Augen verlorene Leitgedanke war ja nach wie vor: Wo ist Offenbach?

Wahrscheinlich werde ich niemals mehr im Leben einen Moment erleben, in dem die Phrase „Der Weg ist das Ziel“ angebrachter sein wird als sie es in besagter Situation gewesen wäre. Stattdessen sage ich aber: „Ich kann Sie beruhigen. Rechts ist Offenbach, links ist Offenbach, geradeaus ist Offenbach. Sogar hinter Ihnen ist Offenbach.“

Insgesamt – so viel Feingefühl, dies zu erkennen, habe ich scheinbar gerade noch – schien ihn meine Antwort nicht zu überzeugen. Zwar werde ich nie erfahren, was genau er sich in dem Moment gedacht hat. Realistisch betrachtet war es allerdings sehr wahrscheinlich nichts, was irgendwie als Eingeständnis der Sinnlosigkeit seiner Frage ausgelegt werden könnte. Denn seine Ankündigung „Okay, dann frage ich nochmal jemand anderes“ kann durchaus so interpretiert werden, dass er in diesem Fall weiterhin eher Teil des Problems anstatt Teil der Lösung bleiben wollte. Mehr als geschildert konnte ich für den Mann nicht mehr tun; es trennten sich unsere Wege. Ich zog weiter durch Offenbach, er durch irgendwelche hoffentlich spannende Paralleluniversen.

Mein Fazit in fünf Thesen:

1. Viele Wege führen nach Offenbach

2. Noch viel mehr Wege führen durch Offenbach

3. Zur Klärung der Frage, ob jeder das bekommt, was er verdient, kann diese Anekdote leider nichts beitragen

4. Ohne wirklich etwas dafür zu können, habe ich es erneut geschafft, am Ende so dazustehen, als ob ich der Idiot wäre und nicht der Typ

5. Dass viele Männer so ungern nach dem Weg fragen, könnte damit zusammenhängen, dass sie sich nicht vorstellen können, eine befriedigende Antwort zu erhalten

Unbeeindruckend!

Sollte ich irgendwann einmal behaupten, ich würde in erster Linie für mich selbst schreiben, bliebe für diese Mitteilung nur wenig Interpretationsspielraum. Koketterie oder Resignation – zwischen diesen beiden Polen gibt es schlicht keinen Anlass, eine solche Aussage zu treffen. Entweder hat man ein Publikum mit einer gewissen Größe aufgebaut (oder auch durch Zufall erlangt). Dann erinnert eine solche Phrase an die gern ebenfalls ungefragt in den Raum geworfene Bemerkung, Geld sei nicht das wichtigste im Leben. Eine Aussage, die umso leichter über die Lippen geht, je mehr davon vorhanden ist und also hauptsächlich von Leuten getätigt wird, die sich über dieses Thema keine Gedanken machen müssen. Einen Standpunkt muss man sich eben auch erst einmal leisten können.

Am anderen Ende steht die Masse der Erfolglosen und klagt über mangelnde Reichweite als eine der wichtigsten Kennzahlen der Gegenwart. Wenn aus dieser Ecke der Spruch kommt, man schreibe lediglich für sich selbst, mag man das im Falle der Untalentierten als konsequent und im Falle der Unentdeckten als ungerecht empfinden. In jedem Fall aber steckt mehr Wahrheit in der Behauptung als einem lieb sein kann. Hier noch von einer bewussten Entscheidung zu sprechen, erfordert entweder ein gehöriges Maß an Realitätsverdrossenheit oder einen recht speziellen Humor.

Denn natürlich will wahrgenommen werden, wer Stunden, Tage, Wochen an einem Text gesessen hat. Niemand bringt seine Gedanken zu Papier, um selbiges anschließend in einer Schublade abzulegen. Ohne die Existenz eines entsprechenden Bedürfnisses nach Aufmerksamkeit wäre die Menge an Information nicht dermaßen explodiert, seit die Möglichkeiten, sich (nicht nur schriftlich) auszutoben, so einfach geworden sind, dass selbst ich regelmäßig meine Gedanken der uninteressierten Öffentlichkeit präsentieren kann. Dass ein großer Teil vielleicht besser unausgesprochen oder unveröffentlicht geblieben wäre, ändert daran zunächst nichts. Aber selbstverständlich geht es um Bestätigung. Um Anerkennung zu erlangen, tun die meisten Menschen sogar Dinge, die weit weniger Aufwand erfordern.

Nehmen wir die berüchtigten sozialen Netzwerke. Sofern ich meine Bemühungen bei der Suche nach Bestätigung zutreffend analysiert habe, unterscheidet mich in dieser Hinsicht zunächst weniger von anderen Akteuren als ich mir eigentlich einzugestehen bereit bin. Nehme ich allerdings meine Blogeinträge, kann ich mir die Situation leichter schönreden. Auffällig: Ich investiere mehr Zeit. Viel Zeit. Aus der Literatur zum Thema Zeitmanagement ist ja die 80/20-Regel geläufig. Sie besagt, dass mit 20 Prozent des Einsatzes bereits 80 Prozent des Ergebnisses erzielt werden. Um die weiteren 20 Prozent herauszukitzeln, müsste man unverhältnismäßig hohe 80 Prozent aufwenden.

Ich könnte also mit einem Fünftel des zeitlichen Aufwandes einen soliden Text schrauben. Bloß sind es meiner Erfahrung nach gerade die restlichen 20 Prozent, die aus einem soliden, meinetwegen auch sehr guten Text einen hervorragenden Text machen, weshalb der zeitliche Mehraufwand von 80 Prozent aus meiner Sicht absolut gerechtfertigt ist.

Für etwas Bestätigung wäre es einfacher, sich in ein Café zu setzen und ein Foto der Plörre, die einem dort serviert wird, zu posten, selbstverständlich nicht ohne den Hashtag „quality time“. Ein einzelnes gewöhnliches Bild kommt der durchschnittlichen Aufmerksamkeitsspanne eben eher entgegen als ein Text von 1.500 Wörtern.

Natürlich hat auch ein Bild mitunter seinen Preis. Wer hätte zum Beispiel noch vor zehn Jahren geahnt, dass es heutzutage ein Geschäftsmodell sein kann, einen Privatjet zu vermieten, ohne dass dieser überhaupt abhebt. Um sich für ein instagrammables Foto aus dem Flugzeuginnern in Szene zu setzen, muss die Kiste auch nicht fliegen, so weit reicht der Einfluss der Umweltbewegung inzwischen immerhin schon.

Man könnte an dieser Stelle etwas von der „Jugend von heute“ murmeln und den Fall somit als erledigt betrachten. Immerhin gibt es Phänomene der Gegenwart, die unsere Gesellschaft ernsthafter bedrohen als der Umstand, dass gegenwärtig Influencer als Berufswunsch so selbstverständlich ist wie es für unsere Generation Astronaut oder Schauspieler gewesen ist, bevor man letzten Endes Busfahrer oder irgendwas in der Art wurde. Genauso wird auch die Mehrheit der Generation Instagram schon noch rechtzeitig lernen, wie man das Bedürfnis nach Bestätigung etwas subtiler auslebt. Thema bleibt es so oder so:

In meiner Eigenschaft als Vorgesetzter bekam ich ja auch schon zu hören, ich müsste meine Kollegen mehr loben. Das sei wichtig. Also tat ich, was jeder charismatische Leader in dieser Situation tun würde: Theorie wälzen. In einer Statistik, die ich nicht selbst gefälscht habe, wurde ich fündig: Zwei Drittel der Beschäftigten bekommen niemals gesagt, dass sie einen guten Job machen, dass sie wichtig für das Unternehmen sind. Jetzt kann ich aus dem betrieblichen Alltag folgende Beobachtung gegenüberstellen: Fast zwei Drittel der Beschäftigten machen keinen guten Job und sind für das Unternehmen nicht wichtig. Zufälle gibt’s. Motivieren kann ich. Kann man eben nicht lernen. Man hat´s drauf oder eben nicht.

Ich möchte nicht ungerecht erscheinen: Es liegt in der Natur der Sache, dass die Beurteilung, ob es die Vorgesetzten oder die Untergeordneten sind, die alle keine Ahnung haben, im wesentlichen davon abhängt, welche Seite man fragt. Fakt ist aber auch, dass gerade im Bereich Lagerlogistik verstärkt mit Kollegen zu rechnen ist, deren Kernkompetenz darin besteht, anderen die Luft wegzuatmen. Eigentlich müsste also ich gelobt werden, nämlich für die Selbstbeherrschung, nach 20 Jahren Lagererfahrung immer noch keine Anklage wegen eines Tötungsdelikts auf dem Konto zu haben. Ob ich im Laufe dieser Zeit ruhiger geworden bin oder das Gegenteil der Fall ist, sollten andere, am besten vielleicht kompetente Nervenärzte, beurteilen. Aber eines – immerhin – ist geblieben: Nach wie vor weigere ich mich, bloße körperliche Anwesenheit schon als anerkennenswerte Leistung zu betrachten.

Sollte ich also irgendwann einmal behaupten, ich würde in erster Linie für mich selbst schreiben, ist es nicht einmal unwahrscheinlich, dass das Schreiben dann therapeutischen Zwecken dient.

Vielleicht tut es das ja aber auch bereits jetzt, und ich weiß nur noch nichts davon.

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