Es stand zu befürchten, dass es an jenem Abend um die Wurst gehen würde. Wenn Freunde, die ich über ein halbes Leben lang kenne, zum Grillen laden, ist mit besonderem Rechtfertigungsdruck zu rechnen, wenn ich plötzlich Vollkornbratlinge und vegetarische Steaks und Bratwürste aus Mycoprotein auflege. Also rechnete ich damit, dass ich neben dem Grillgut auch Ernährungsmythen aufgetischt bekomme und bereitete mich auf ausufernde Diskussionen vor, die mein coming out als Quasi-Vegetarier begleiten würden. Um die Angelegenheit nicht zusätzlich zu verkomplizieren, hätte ich im Falle eines Falles unterschlagen, dass ich nach wie vor Fisch esse.

Überraschenderweise durften meine Sachen auf dem selben Grill wie die „echten“ Steaks und Bratwürste gegart werden, ohne dass ich Fachvorträge über ausgewogene Ernährung serviert bekam. Mein Fleischersatz wurde gleichberechtigt mitüberwacht und gewendet, egal wer gerade vor dem Grill stand und diese Aufgabe übernahm. Keine Diskussionen, kein Glaubenskrieg. Fast war ich ein bisschen enttäuscht. Ich kann mir vorstellen, dass das die Momente sind, in denen Angehörige der „Seit ich mich fleischlos ernähre“-Fraktion so sehr beleidigte Leberwurst sind, dass sie zur Vorwärtsverteidigung übergehen und beginnen, ungefragt allen anderen Anwesenden mitzuteilen, dass und warum und mit welchen Auswirkungen auf ihren Körper bis hin zu Details über ihre Darmentleerung und wie lange sie bereits auf Fleisch verzichten. Und damit die Diskussion, die ihnen angeblich so gar nicht schmeckt, überhaupt erst anzetteln und sich damit ins eigene Fleisch schneiden.

Vielleicht war es mangelnder meinerseitiger Missionseifer, der an jenem Abend zu einer friedlichen Koexistenz, einem Leben-und-leben-Lassen führte. Angst, dass ich irgendwem etwas wegesse, kann es ja wohl kaum gewesen sein. Vielleicht war es auch einfach Zufall oder Glück. Denn dass ich überhaupt nirgends auf Leute treffe, die ein Problem damit habe, wie ich mich ernähre, kann ich ja auch nicht behaupten.

Das eigentlich Nervende dabei ist, die Auseinandersetzung an mehreren Fronten führen zu müssen. Man will einfach nur ein wenig bewusster leben und wird dafür von beiden Seiten angemacht: Auf der einen Seite die „Erleuchteten“, die – sorry wegen der folgenden Verwendung dieser überstrapazierten Redewendung – eingefleischten Vegetarier und Veganer. Die sich nicht im Klaren darüber sind, dass nicht wegen, sondern trotz ihnen immer mehr Menschen in diesem Land fleischlos oder wenigstens fleischarm ernähren.

Auf der anderen Seite die Betonköpfe. Denen der Slogan „Fleisch ist ein Stück Lebenskraft“ von vor vierzig Jahren in Fleisch und Blut übergegangen ist. Die auch sonst Probleme mit Veränderungen haben, die sie aus ihrer Komfortzone zwingen.

Den Tieren wiederum, die nicht ihr Leben gelassen haben, weil sich einer oder mehrere Menschen für ein Schnitzel aus Soja anstelle eines aus Schwein entschieden haben, wird es wurst sein, ob sich deswegen irgendwelche Leute ihre Köpfe einschlagen. Das – immerhin – ist die eigentlich gute Nachricht.

Dass ich mich in den letzten zwei Jahren beinahe vollständig von Fleisch losgesagt habe, liegt ja zuallerletzt daran, dass mir das Zeug plötzlich nicht mehr geschmeckt hätte. Klar: Manche Bratwürste, auf irgendwelchen Festen im Brötchen dargereicht, waren geschmacklich schon eher zum Abgewöhnen. Die waren keinen Deut besser als die ersten Sojabratwürste, die ich probiert habe und die in mir angesichts ihrer absoluten Geschmacklosigkeit den Verdacht nährten, dass die von der Fleischindustrie absichtlich auf den Markt geworfen wurden, um der Welt zu beweisen, dass das Original der fleischlosen Kopie immer überlegen sein wird.

Und trotzdem: Wenn es mir nicht über 40 Jahre lang gut geschmeckt hätte, hätte ich es auf dem Teller gelassen. Da ich aber im großen und ganzen zufrieden war und satt geworden bin, bin ich geschmacklich und emotional natürlich geprägt. Hier kommen dann die Imitate ins Spiel. Und da sind im Laufe der Zeit immer bessere dazu gekommen, und deswegen steht mir jetzt irgendein armes Würstchen gegenüber, nuckelt an seiner E-Zigarette irgendwas, das nach Beere riecht, und erklärt mir, dass das, was ich esse, nicht „echt“ sei.

Ist es auch nicht. Muss es aber auch nicht. Mir persönlich reicht aus, eine Alternative zu haben, mittels derer ich zudem gelegentlich die wunderbare Formulierung „Es ist nicht das, wonach es aussieht“ ihrem eigentlichen Kontext entreißen kann.

Ansonsten würde ich höchstens noch empfehlen wollen, sich bei der Diskussion nicht gegenseitig zu zerfleischen, und beende den Text mit der beliebten Formel: Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei.