Aufzeichnungen aus der Wirrnis des Alltags

Monat: September 2017

P + (5 x E) + (3 x H)

Es ist ja beileibe nicht so, dass hier im Blog Woche für Woche das Rad neu erfunden würde. Demnach wird auch der nur in Maßen originelle Gedanke, wonach es in den Lebenszielen fast aller Menschen um das Gleiche geht, zurecht nur bescheidene Euphorie auslösen.

Bevor jetzt alle angesichts des vermeintlichen nächsten Beitrags über Geld und Sex gähnend abwinken, löse ich lieber auf: Glück ist das Thema, das uns beschäftigt. Hier im Text wie im alltäglichen Dasein.

Das Thema ist bereits seit einigen Jahrtausenden anhaltend trendy, und als ich diese Woche auf die Schlagzeile aufmerksam wurde, wonach Bier glücklich machen soll, hielt ich das auch erst für verkappte Werbung für die nächste bierselige Trachtenveranstaltung. Ich ließ mich dann aber schnell davon überzeugen, dass hier das Forschungs-Design für einen Zufallsfund sorgte. Zum Timing der Veröffentlichung – ich schätze ´mal, dass der Mitnahme-Effekt der Aufmerksamkeit für Oktoberfest-ähnliche Veranstaltungen wenigstens billigend in Kauf genommen wurde. Kann man ´mal machen.

Bevor jetzt aber alle Welt losrennt und einen Bierlaster kapert, um sich die persönliche Wochenration vors Haus zu stellen – das ist bis jetzt alles Theorie. Es sind zunächst noch weitere Untersuchungen notwendig, ob die enthaltenen Mengen Hordenin, so heißt der Botenstoff, ausreichend sind. Nun hat es natürlich Zeiten gegeben, in denen ich mich ganz spontan in den Dienst der Wissenschaft gestellt hätte, um mitzuhelfen herauszufinden, was und wieviel dran ist am Glücklichtrinken. Da ich aus diesem Alter aber mittlerweile heraus bin, sage ich das, was man in meinem Alter immer sagt, wenn es droht, lustig zu werden: Da müssen jetzt eben ´mal die Jüngeren ´ran!

Wenn mich mein Gedächtnis nicht gar zu sehr trübt, meine ich mich nämlich erinnern zu können, dass ich nach sechs bis sieben Litern Bier nicht immer glücklich gewesen bin. Müde trifft es eher. Viel hilft offenbar nicht immer viel.

Unabhängig vom Ausgang wäre auch noch zu klären, was Glück bedeutet. Wenig überraschend werden wir da keine einheitliche Antwort erhalten. Während es die einen zu schätzen wissen, ihr Telefon für ein paar Stunden ohne schlechtes Gewissen ausgeschaltet zu haben, würden sich bei anderen schon bei dem Gedanken an ein solches Szenario Gefühle breit machen, die von Glückseligkeit weit entfernt sind. Dass Glück zum guten Teil eine Frage der Einstellung ist, war so sicher nicht gemeint, ist aber auf dieses Beispiel auch anwendbar.

Ein tugendhaftes Leben und ausreichend äußere Güter sollen nach Aristoteles grob gesagt den Weg zum Glück weisen. Ich entreiße den Begriff der äußeren Güter hier einmal bewusst seinem Zusammenhang und mutmaße folgendes: Dass nämlich die Frage, welche und wie viele äußere Güter als „ausreichend“ bezeichnet werden können, heutzutage zum Beispiel von Franz-Peter Tebartz-van Elst, formerly known as Bischoff von Limburg, anders beantwortet wird als von einem kambodschanischen Reisbauer. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.

Robert Geiss wäre vermutlich ein weiterer kompetenter Ansprechpartner zu diesem Thema.

Allerdings soll hier nicht mehr als für die Dramaturgie des Textes notwendig ist polarisiert werden. Denn die Wahrheit kennt wie so häufig zwischen Schwarz und Weiß noch andere Schattierungen. Die vormals gültige konsumkritische Lesart lautete bis vor kurzem in etwa: Konsumgüter jenseits der Grundbedürfnisse würden vom wahren Glück eher ablenken. Zwar – Drogen nicht unähnlich – ein kurzes Stimmungshoch erzeugen, welches aber schneller wieder absinkt als das Zeug überhaupt bezahlt ist. Neuere Ansätze unterscheiden zwischen Besitzen und Benutzen: Kritisch wird es hauptsächlich dann, wenn sich unüberlegt Dinge zugelegt werden, man aber nicht dazu kommt, diese auch zu nutzen

Smartphone schlägt Buch

Auch wenn mir das Ergebnis nicht gefällt – so gesehen kann offenbar der Kauf eines Smartphones in der Tat nachhaltig glücklich machen. Während meine stets so hoch geschätzte gefüllte Bücherregalwand diesbezüglich erst dann richtig Sinn macht, wenn ich endlich beginne, die Dinger auch alle zu lesen. Man lernt nie aus.

Weiter in der Bestandsaufnahme. Zu den unumstrittenen Faktoren von Glück zählen folgende Punkte:

  • Eine stabile Liebesbeziehung. Wenn meine Vermutung richtig ist, dass stabil hier nicht allein auf die Dauer abzielt, sondern auch solche Nebensächlichkeiten wie Gegenseitigkeit umfasst, wäre Eintracht Frankfurt an dieser Stelle genauso ´raus wie die eine oder andere Frau. Man kann nicht alles haben. Dafür habe ich die Nase beim nächsten Thema vorn, der
  • Gesundheit. Immer wenn ich mitbekomme, was Gleichaltrige und manch Jüngere diesbezüglich vorzuweisen haben, überrascht mich wahrhaftig, wie ich trotz langjähriger nicht anders als als ungesund zu bezeichnenden Ernährungsgewohnheiten so lange von so vielem verschont geblieben bin. Fair geht anders, aber solange ausnahmsweise ich davon profitiere, stelle ich die Dinge nicht in Frage.
  • Ein den eigenen Fähigkeiten entsprechender Beruf. Bei einem Diplom-Politologen, der als Lagerist arbeitet, wird man nicht drum herum kommen, dass an schlechten Tagen auch schon ´mal die „Was wäre, wenn“-Frage gestellt wird. An guten Tagen wird er dafür auf folgender Sichtweise insistieren: Im Lager brauchst Du nicht nur Krieger. Du brauchst auch einen Häuptling. Nichts spricht dagegen, diese Aufgabe dem Besten zu übertragen.
  • Freunde. Deren Bedeutung kann gar nicht genug hervorgehoben werden. Wenn Bier tatsächlich glücklich macht, kann es natürlich im Einzelfall auch daran liegen, dass der Konsum in Gesellschaft guter Freunde vonstatten geht. Kurios: Eine amerikanische Studie ergab, dass 48 Prozent glauben, andere hätten mehr Freunde als sie selbst. Unabhängig davon, ob diese Einschätzung wahr ist oder nicht, waren diese Teilnehmer unglücklich und unzufrieden. Daher folgender Tipp: Wenn Ihr das nächste Mal voller Neid auf die 800 Facebook-Freunde der anderen schaut, vergesst eines nicht: Britische Evolutions-Psychologen behaupten, überdurchschnittlich intelligente Menschen haben weniger Freunde.
  • Sport und Bewegung. Setzen Dopamin frei. Also einen Botenstoff, der Glücksgefühle erzeugt. Ganz ähnlich dem eingangs erwähnten Bierbeispiel, nur anstrengender. Kann also nachvollziehen, weshalb viele lieber viele Biere trinken.

Das Gesamturteil nach einer Woche noch intensiveren Nachdenkens als sonst über dieses Thema kann eigentlich nur lauten: Noch reichlich Luft nach oben. Entsprechend habe ich in der mathematischen Berechnung nach der in der Überschrift angegebenen Formel einen Wert von 74 von 100 herausbekommen. In einer Schulnote ausgedrückt, wäre das eine Drei. Befriedigend.

Ich muss gestehen, dass ich mich eigentlich weiter wähnte. Ich finde aber auch, diese Form von Durchschnittlichkeit passt zu mir. Außerdem gibt es ja auch noch Schokolade. In diesem Sinne: Don´t worry, be happy!

Endlich Herbst!

Irgendwann reicht es auch ´mal. Wir haben lange genug auf besseres Wetter gewartet; der Sommer hat seine Chancen bekommen und nicht genutzt. Jetzt ist der Herbst am Zug und gibt zum Einstand sofort Gas wie ein Bundesliga-Debütant bei seiner Einwechslung in der 70. Spielminute, dem Moment seines Lebens.

Im Gegensatz zum Newcomer steht der Herbst allerdings deutlich besser da, muss er doch längst niemandem mehr etwas beweisen. Da sind die Erwartungen an ihn nicht allzu hoch. Ans Wetter nicht, an die Stimmung nicht, an die Gesundheit schon gar nicht. Jetzt, da die Tage nasser, kälter und dunkler werden und sich also auch niemand mit übertriebener Begeisterung im Freien aufhält, darf man auch ´mal ohne Reue depressiv verstimmt sein. Schnell eine Packung Gewürzspekulatius besorgt, und dann soll sich die Erde draußen allein weiterdrehen. Um die erste Portion dieser Saison zu sein, kommen diese Spekulatius jedoch um Wochen zu spät. Doch Halt! Wetter, Weihnachtsartikel, über die auch der letzte Witz schon erzählt ist – wie tief soll der Text noch sinken?!

Was das Niveau meiner Beiträge betrifft, geht es natürlich immer noch niedriger. Da würde ich mit dem Urteil lieber warten, bis das Ende gelesen wurde. Aber auch was Lebkuchen und Co anbelangt, bleibe ich dabei: Wenn das Zeug mithilft, die Masse an überflüssigen Oktoberfest-Accessoires einzudämmen, mit der man momentan allenthalben konfrontiert wird, hat es seine vornehmste Aufgabe eigentlich bereits erfüllt. Oktoberfest-Kleidung, Oktoberfest-Essen, Oktoberfest-Bier, Oktoberfest-Musik, Oktoberfest-was weiß-ich, nichts bleibt einem erspart. Wie schrieb ich weiter oben noch: Die Erwartungen sind dieser Tage allenthalben im Sinkflug, warum sollte dieser Trend nun ausgerechnet bei der Freizeitgestaltung kehrt machen?!

Bevor mich jemand in einer Tracht auf so eine Veranstaltung gehen sieht, hole ich echt lieber den Frühjahrsputz nach. Und das ist schon sinnlos. Oder ich schraube endlich die Sommerräder aufs Auto. Was sich zwar jetzt definitiv nicht mehr lohnt, aber in meinen Augen immer noch die reizvollere Gegenveranstaltung zu Oktoberfest-Imitaten wäre. Außerdem liebe ich, mich selbst mit Gedanken an nicht erledigte Aufgaben zu quälen.

Gibt´s diesbezüglich noch weitere Versäumnisse? Gern: Bikinifigur! Da könnten die Spekulatius eventuell kontraproduktiv sein. Andererseits macht das den Bock jetzt auch nicht fett. Was soll überhaupt dieser ganze Körperkult? Schönheit vergeht schneller als Intellekt. Gut, hierfür laufen auch ausreichend Gegenbeispiele frei herum. Doch liegt dort eher die Vermutung nahe, dass der Intellekt von vorneherein nie in dem Maße vorhanden war wie es für den Fortschritt der Gesellschaft vielleicht gut gewesen wäre.

Vielleicht komme ich zum Lesen. Also nicht nur als Kontrastprogramm zum Oktoberfest, sondern allgemein im Herbst. Dann komme ich wenigstens wieder auf so dumme Gedanken wie mein ganzes Leben umkrempeln zu wollen, nochmal etwas ganz Neues zu starten oder wenigstens solche Projekte wie letztens als ich Brennesselsamen gesammelt habe. Was für ein Aufwand für ein paar Gramm „Superfood“

Brennesselsamen..! Sicher, die Vitamine sind nicht zu verachten. Vitamine sind wichtig. Gerade im Herbst. Aber die aphrodisierende Wirkung – wozu? Bei Selbstbedienung ist ein Aphrodisiakum so sinnvoll wie ein Kamm für den Skinhead. Und eigentlich ist die Welt sowieso schon voll genug mit Dingen, die sie nicht benötigt. Die Stichworte Bieraufschäumer oder Selfie Brush sollten hier als Hinweis genügen, dass wir offenbar tatsächlich keine dringenderen Probleme haben. Manch einer würde zu diesen Beispielen gern Spekulatius im September ergänzen und hätte vermutlich nicht ganz Unrecht damit. Jedenfalls kann ich beim Rattern auf ein Aphrodisiakum genauso verzichten wie auf die Zigarette danach. Die übrigens tatsächlich ungesund ist im Gegensatz zur stets nur behaupteten schädlichen Wirkung der Selbstbefriedigung an sich. Ich mache das ja jetzt bereits seit einiger Zeit, auch und vor allem weil es dem Stressabbau förderlich sein soll, und ich fühle mich zwar nicht kerngesund, aber meine Wehwehchen stammen mit Sicherheit nicht davon. Trotzdem dürfen die Gefahren nicht verschwiegen werden: So musste diese Woche in Worms die Feuerwehr mit allerhand Werkzeug tätig werden, weil jemand eine 2,5-kg-Hantelscheibe auf ein für diesen Zweck eigentlich nicht vorgesehenes Körperteil geschoben hat. Dumm oder nur dumm gelaufen, wer kann das schon seriös beurteilen?!

Ich weiß gerade nicht, wie ich von „seriös“ zum nächsten Thema überleiten soll, aber in der Men´s Health stand irgendwann die mindestens so überraschende wie schmeichelnde Aussage: „Alle Statistiken belegen es: Die Hinwendung zur Selbstbefriedigung steigt mit dem Bildungsgrad.“

Konsequent zu Ende gedacht erübrigen sich nach dieser Lesart bald die Verwendung mancher Ausdrücke als Schimpfwörter. Wenn man zum Beispiel demnächst den Ausruf „Was für ein Wichser!“ hört, könnte es demnach sein, dass damit niemand beleidigt wird, sondern ihm lediglich Glückwünsche zur bestandenen Doktorprüfung übermittelt werden sollen.

Das schönste an dem ganzen Thema ist jedoch, dass für diesen Vorgang eine Vielzahl an mitunter kreativen Fachausdrücken existiert. Da kann selbst ich ´mal den Überblick verlieren und auf diese Weise für heiterstes Kopfkino sorgen: Indem ich nämlich auf der Arbeit rufe „Wir sind hier alle am Keulen“ und dabei natürlich die mir geläufige Bedeutung „schwer arbeiten“ im Kopf habe. Der Kollege kannte diese Bedeutung nicht, wohl aber eine andere, die wiederum ich vorher nicht kannte.Wir sind schon ein geiles Team! Each one teach one.

Um diesem Blogeintrag auf den letzten Metern doch noch so etwas wie eine tiefgründigere Aussage zu verpassen: Onanieren mag schön, anregend und gesund sein. All das ist die Beschäftigung mit einer guten Lektüre aber auch. Und obendrein abendfüllender. Insofern ist ein gutes Buch allemal vorzuziehen. Jetzt in der dunklen Jahreszeit.

Die Leichtigkeit des Scheins

Als ich neulich auf der Suche nach Inspiration in alten Texten von mir blätterte, gelangte ich bald an einen Punkt, an dem mir wieder einmal gewahr wurde: Manche Lektion, die das Leben uns lehrt, hätte ich wirklich früher begreifen können.

So trug sich seinerzeit in etwa um die Jahrtausendwende zu, dass ein Bekannter, mit dem mich nicht viel mehr als ein gemeinsamer Freundeskreis verbindet, mir unerwartet seinen Respekt bekundete. Da wir uns politisch nicht unbedingt nahe stehen, wisse er zwar fast immer schon vorher: Was ich zu sagen habe, wird ihm nicht passen. Aber weil ich mich grundsätzlich gut informiere, bevor ich meine Meinung kundgebe, höre er mir stets gut zu. Als Beleg für meinen Wissensdurst betrachtete er meine Berge an Büchern, Zeitschriften und Zeitungen, die sich zuhause zu jener Zeit besonders hoch türmten. Damit hatte er mich getroffen, ohne überhaupt gezielt zu haben. Was soll ich sagen?! Weder an jenem Abend noch irgendwann danach beichtete ich ihm, dass das Besitzen dieser Bibliothek und das Gelesenhaben der Werke zwei Paar Schuhe sind.

Die Erfahrung, die mich diese Geschichte lehrt, begreife ich in ihrer gesamten Dimension auch erst heute. Und leider, so muss ich eingestehen, ist mir jetzt auch ein bisschen peinlich, dass viele andere sie vor mir verstanden und entsprechend gehandelt haben. Von mir nämlich absolut unbeabsichtigt, hat sich hier jemand aufgrund der Gestaltung meiner Wohnung ein Bild von meiner Person gemacht. Ein mehr als deutlicher Fingerzeig also in Richtung: Man kann sich nicht nicht inszenieren. Auch frühere Hinweise, dass ich auch dann auf andere Menschen wirke, wenn ich mir gar nichts dabei denke, habe ich gekonnt ignoriert. Zum Beleg, dass diese Dynamik auch in eine weniger bauchpinselnde Richtung gehen kann, sei die Bekannte erwähnt, die mich und meine damals allgegenwärtige Bierflasche in meiner Hand als siamesische Zwillinge bezeichnete.

Worauf ich mit diesen beiden Begebenheiten hinauswill: Die Leute werden so oder so ein Image von Dir zeichnen und eine passende Schublade suchen, in die sie Dich einordnen können. Insofern war es aus heutiger Sicht schon ziemlich fahrlässig, sich im Spannungsfeld zwischen Authentizität und Showbusiness seine Nische ausgerechnet an diesem einen Pol dieser Extreme zu suchen und sich um die Außenwirkung genau genommen gar nicht zu kümmern. Klar: Man hat als Jugendlicher darauf geachtet, sich genauso zu kleiden wie die anderen Angehörigen der Subkultur, der man sich zugehörig wähnte. Was ja auch eine Aussage ist. Das war es dann aber auch schon.

Dabei geht es ja überhaupt nicht darum, seinen Bedürfnissen nicht mehr zu folgen und nur noch das zu tun, von dem man erwartet, dass andere es goutieren. Sondern lediglich darum, etwas mehr Kontrolle darüber zu gewinnen, was bei den Mitmenschen welchen Eindruck hervorruft.

Denn: Der größte Fehler meines Lebens war ja wohl die Annahme, dass die meisten Menschen schon irgendwie blicken, was ich drauf habe und ich mich also um meine Positionierung – privat wie beruflich – nicht kümmern müsste. Es mag schon sein, dass nicht alle Leute ein Buch ausschließlich anhand seines Umschlags bewerten. Aber auf den ersten zwei bis drei Seiten, die sie sich eventuell die Mühe machen zu lesen, sollte irgendwo ein Brett dabei sein. Ein Argument, sich intensiver mit Dir zu beschäftigen. Es gilt, die Wirkung des Scheins für sich zu nutzen, um die Aufmerksamkeit auf das Sein zu lenken.

Inzwischen habe ich sogar meinen Markenkern herausgearbeitet. Und auch wenn ich mich nicht in jeder Sekunde meines Lebens bei jeder Handlung frage, ob mein momentanes Tun auch in meine Marke einzahlt, war es mir das Nachdenken darüber wert.

Das Ende der Bescheidenheit

Manchmal muss man auf die Trommel hauen. Wie die anderen es mir vormachten und -machen.

Jeder kannte doch mindestens einen dieser Typen, die immer und überall eine Gitarre oder wahlweise zumindest ein Skateboard dabei hatten. Irgendwann, so meinte ich zu ahnen, kommt der Zeitpunkt, an dem diese Leute auch abliefern und diese Accessoires auch einmal bedienen müssen. Auch die Rede vom „best lover in town“ muss irgendwann einmal bestätigt werden. Ich dachte wirklich, dass die anderen Leute es checken werden, wenn da immer nur warme Luft aus irgendjemandes Mund kommt. Ich habe schon als Jugendlicher manche Sachen nicht gebracht, einfach nur weil ich dachte: Das muss ja irgendwann auch auffliegen. Und dann wird man älter, manche Menschen werden in dieser Zeit auch vernünftiger, man lebt so sein Leben, und irgendwann stellt man dann fest: Muss gar nicht. Die Annahme, dass dem so sei, entpuppt sich als der zweitgrößte Fehler meines Lebens. Die Blender kommen tatsächlich gut durchs Leben mit ihrer Masche, großenteils besser als ich. Weil die Anderen es nicht schnallen. Oder weil sie es schnallen, aber hinnehmen, solange es trotzdem „irgendwie“ läuft. Wie so oft bin ich mir unschlüssig, ob mich ersteres oder zweiteres mehr empören soll. Einig bin ich mit mir nur darin, dass es nicht zu spät ist, das Ende der Bescheidenheit einzuläuten. Meine nächste Geschichte wird auf folgende Weise erzählt:

Die Frauen stehen Schlange bei mir. Ihre Kinder an der Hand, rufen sie bald auch ihre Männer hinzu und befehlen ihnen: „Sieh´ genau hin, dann kannst Du das das nächste Mal auch machen.“ Die Kerle wiederum starren eher beeindruckt auf mein Arbeitsgerät statt meine Fingerfertigkeit zu bewundern. Derweil ihre Frauen weiter warten bis sie an der Reihe sind, schließlich bekommen, was sie begehren, sich bedanken und manchmal gleich noch ein zweites Mal wollen. Was ich mit Verweis auf die anderen Wartenden abschlägig bescheiden muss. Aber: Sie können sich gern noch ein zweites Mal in die Reihe stellen.

Ich spüre: Hier bin ich bei den Frauen nicht auf meinen Körper noch auf mein Geld reduziert. Deswegen macht mir die Luftballonmodellage so großen Spaß.

Bis hierhin ist ja nicht eine Silbe gelogen, aber die Geschichte so herum erzählt hat zweifelsfrei mehr Drive als die Art, wie der klassische Micky das ´rüberbringen würde: „Ich mache das halt manchmal an den Wochenenden. Macht großen Spaß, die Kids finden das auch ganz cool.“

Da ich diesen klassischen, höchstens manchmal etwas brummeligen und durchaus auch ´mal einsilbigen Micky aber im Laufe der Jahrzehnte auch schätzen gelernt habe und um auch meine ebenso geschätzte langjährige Freundin Tina zu beruhigen: Der alte Micky soll nicht ersetzt, sondern nur um einige Varianten, sich zu präsentieren, ergänzt werden.

Alles andere wäre mir auch viel zu anstrengend.

Spontan blamiert

„Bei Dir kann ich mir inzwischen alles vorstellen.“
Es reichten ein bis maximal zwei Mikrosekunden, um zu erkennen, dass der soeben ausgesprochene Satz wohl eher kein Meilenstein der Diplomatie von mir gewesen ist. Grenzwertig wäre treffender. Zumal wenn der an sich harmlose Gesamtzusammenhang einbezogen wird: „Die Katzen haben mich nicht geweckt. Ich habe bis 11 Uhr geschlafen. Kannst Du Dir das vorstellen?“

Es kommt ja noch verschärfend hinzu, dass dieser Dialog nach erst einer Woche des Kennenlernens im Rahmen des zweiten persönlichen Aufeinandertreffens stattfand. Nein, ich fürchte, das ist nicht das, was sie in jenem Moment hören wollte. Das ist nicht das, was auch nur irgendeine Frau als Antwort würde hören wollen. Dabei war sie es doch gewesen, die von mir mehr Spontanität eingefordert hatte. Weil Geduld ja zu den Primärtugenden jeder Frau gehört, ist ihr offenbar auf den Zeiger gegangen, dass ich häufig länger überlege als dem Gesprächsfluss gut tut, bis ich einen Satz herausbringe. (Der dann aber wenigstens auch druckreif ist.)

Dabei weiß ich an und für sich, dass ich meine stärksten Momente dann habe, wenn ich spontan und unüberlegt losrede oder handele. Blöderweise habe ich aber auch meine schwächsten Momente, wenn ich spontan und unüberlegt losrede oder handele. Also muss schon eine besondere Atmosphäre des Vertrauens herrschen, wenn ich meine Bedenken, einen unpassenden Spruch zu machen, hintanstelle und einfach ´mal ungefiltert ausspreche was ich denke.

Aber versucht ´mal
1. in dieser Situation
2. einer Frau
zu erklären, dass meine Antwort aus diesem Grund tief in meinem Herzen Ausdruck einer extrem hohen Wertschätzung ist. Richtig: Es kann nur schiefgehen, und mit jedem Wort, das Du jetzt noch aussprichst, reitest Du Dich weiter in die Scheiße ´rein. Relativ spontan erinnere ich mich daran, wie ich in einem früheren Leben meinem Körper regelmäßig gewaltige Mengen Alkohol zugeführt habe, um vor mir selbst auch ´mal fünf gerade sein zu lassen. Die Methode war bombensicher, denn wenn mein spontanes Tun nicht auf ungeteilte Gegenliebe gestoßen war, hatte ich wenigstens spontan die passende Entschuldigung.

Zum Gespött machen kann man sich allerdings sehr wohl auch, ohne zu trinken. Als ich mich das letzte Mal blamiert habe, weil ich Unüberlegtes getan habe, spielte ebenfalls mein Mund eine entscheidende Rolle. Aber nicht um etwas zu sagen, sondern um dort einige mit Schokolade ummantelte Erdnüsse hineinzuschieben. Als ich erkannte, dass es sich bei den ummantelten Erdnüssen um Oliven handelte, die ich praktisch gar nicht esse, hatte ich dann buchstäblich den Salat. Denn getreu dem Motto „Klotzen, nicht kleckern“ hatte ich mir eine große Handvoll davon gegriffen. Und die mussten jetzt irgendwohin, egal wohin. Alles außer meinem Mund war erlaubt.
Also habe ich mich zunächst ´mal allein in eine Ecke gesetzt.
Es war dunkel, es war eine Party. Und seit ich nicht mehr trank, stand ich bei solchen Gelegenheiten auch viel seltener im Mittelpunkt des Geschehens. Deswegen hatte auch niemand von meinem Fehlgriff Notiz genommen. Und je weiter der Abend voranschreiten würde, umso häufiger würden dank der Macht des Alkohols noch weitere solch spontaner Aktionen wie Oliven in der Blumenvase stattfinden, ohne dass es jemand als anstößig empfinden wird. Dieses Problem hatte ich gelöst, nicht aber das grundsätzliche mit meinen Schnellschüssen.

Was läuft verkehrt?

Natürlich bin ich zuzugeben bereit, dass irgendwas in meiner Entwicklung schief gelaufen sein könnte, eigentlich sogar muss, wenn ich mich spontan an etliche Fettnäpfchen erinnern kann, nicht aber an meine größten Erfolge, wenn ich ´mal ohne vorher einen inneren Dialog zu führen gehandelt habe. Na gut, eine Sache vielleicht: Wie ich bei der Maifeier des DGB während der Podiumsdiskussion spontan den Stecker gezogen habe, ist mir aus irgendeinem Grund in Erinnerung geblieben.

Trotzdem sollte ich demnächst ernsthaft ein paar Gedanken darüber verschwenden, ob meine bisherige Maxime, wonach Spontanität wohlüberlegt sein sollte, sich im Laufe der Jahrzehnte eventuell etwas aufgebraucht hat. Denn immerhin ist es ja kein Einzelfall, dass eine Frau, die ich gerade kennenlerne, mir „vorwirft“, stets ein wenig besonnen zu sein. Und solche Sachen arbeiten sich ja tief in mein Selbstverständnis hinein. Bin ich am Ende tatsächlich uncool geworden? Was heißt das eigentlich, wenn man mit 45 uncool ist? Wie so oft habe ich mehr Fragen als Antworten.

Spontanität erfordert manchmal Mut. Davon stünde mir etwas mehr mit Sicherheit gut zu Gesicht. Es kann aber natürlich auch sein, dass Spontanität für die Leute nur exakt so lange geil ist, wie ich spontan das tue, was sie für richtig halten. Ansonsten wird es gern mal „naiv“. Was ja der kleine Bruder von spontan und mutig ist. Beispiel: Sollte ich bei einem Besuch eines Fußballspiels das dringende Bedürfnis haben, im Fanblock der Heim-Mannschaft ganz spontan ein Tor des Gastes ordentlich zu feiern, wäre das einerseits mutig, andererseits naiv. Polonäse im Fanblock funktioniert allein ungefähr so gut wie auf dem Feld ein Doppelpass mit sich selbst: Man wird damit nicht weit kommen.
Aber wer entscheidet, ob etwas richtig oder falsch ist? Generell kann Spontanität ohne ein dahinterstehendes Wertesystem kaum gedacht werden. Andernfalls würden hier täglich vermutlich mehr Leute spontan ihren Nachbarn am nächsten Baum aufknüpfen, weil der Müll nicht korrekt getrennt wurde. Dieses Wertesystem ist individuell verschieden. Was auch gut so ist. Insofern kann ich wiederum gut mit meiner Rolle leben, weil ich einordnen kann, dass die Aufforderung „Sei doch ´mal spontan!“ oft eigentlich nur „Sei doch ´mal, wie ich es gern sehen würde“ bedeutet. Und irgendwann ist man auf einmal unspontan, weil man nicht wie alle anderen lauthals „Atemlos durch die Nacht“ mitgrölt. Wenn Spontanität derart beliebig wird, verzichte ich liebend gern auf diese Eigenschaft und bleibe wie ich bin. Wenn es sein muss, auch ohne Partnerin.

Und irgendwann, wenn es aus dem einen oder anderen Grund sowieso nichts mehr ausmacht, werde ich der eingangs Erwähnten auch spontan beichten, dass ich seinerzeit vier Stunden überlegt habe, mit welchen Worten ich sie am besten anschreibe.
Beziehungsweise hat sie es ja jetzt sowieso schon gelesen.
Das kommt davon, wenn man die Sätze so unbedacht herausrotzt.

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