Aufzeichnungen aus der Wirrnis des Alltags

Monat: Mai 2017

Pokalfieber

Mehr noch als durch eine erschreckend erfolglose Rückrunde wurde die Vorfreude durch die Ankündigung gedämpft, wer als Pausenprogramm für das Endspiel verpflichtet wurde. Da habe ich ja nur drauf gewartet. Aber als Eintracht-Fan hat man schließlich schon tiefere Täler durchschritten. Was uns nicht umbringt, macht uns stärker, heißt es ja. Und außerdem war da ja noch Tankard, Frankfurts Antwort auf seichtes Gedudel. Musikalisch stand es also schon vor dem Anpfiff 1:0 für uns. Wer hätte das gedacht?!

1981 war an den Auftritt einer Metal-Kapelle im Rahmen des Pokalfinales ebenso wenig zu denken wie an Helene Fischer. Tankard gründeten sich ein Jahr später, Helene Fischer war noch nicht einmal geboren. Aber 1981 war mein Jahr. Mit meinen neun Jahren das erste große Spiel, bei dem ich bewusst eine neue Rolle für mich generierte: Die Rolle als Eintracht-Fan. Nur echt mit dem Eintracht-Teddy neben mir auf dem Sessel vor dem Fernsehgerät.

„Das müsste jetzt ein Tausender sein“, meinte ich noch, als ich eines der Lose öffnete, die mein Schulfreund und ich auf der Kerb am Offenbacher Mainufer gekauft hatten. Es war ein Tausender. Und ich weiß nicht, was sonst alles zur Auswahl gestanden hatte für dieses Los, aber eigentlich war es so klar wie selten etwas so klar gewesen ist in meinem Leben, daß es dieser Teddy sein muss. Kein besonders schöner Teddy, aber es war dieses Wappen drauf. Die Eintracht war vor kurzem UEFA-Pokal-Sieger geworden, mein Vater würde also stolz darauf sein, wie ich mein Taschengeld umgesetzt habe.

Auf dem Heimweg ist der Bär etwas nass geworden. Der Himmel über Offenbach begann offenbar zu weinen, weil sich an diesem Tag unumkehrbar manifestierte, daß der nächste junge Bub aus dieser Stadt in diesem Leben für den ortsansässigen niederklassigen Verein für alle Zeit verloren geht.

Daß aus dem Grundschüler mit Teddybären bei der nächsten Endspielteilnahme ein ungestümer Jugendlicher geworden sein wird, ahnte ich damals nicht. Ich hatte tatsächlich angenommen, goldenen Zeiten entgegenzusehen. Sieben Jahre waren eine Ewigkeit. Und so fiel der nächste Pokalsieg 1988 standesgemäß mit dem ersten Vollrausch meines Lebens zusammen.

Nach dem Pokal kann ich mich als nächstes erst wieder an ein Aufwachen in meinem vollgekotzten Bett erinnern. Ein Anblick noch unschöner als das Spiel am Vortag, aber wir waren Pokalsieger!

Wie mir hinterher zu Ohren kam, war ich auf der Heimfahrt noch Verursacher einer Rangelei an der Bushaltestelle am Bieberer Ostendplatz. Mein Kumpel, bekennender Fußballbanause, skizzierte den Anlass der Auseinandersetzung hinterher ungefähr so: „Du hast die ganze Zeit von einem Spieler erzählt, dem Du ein Denkmal hinstellen wolltest.“ Daraufhin hätten einige Helden in unsere Richtung gepöbelt. Und da ich mich schon ohne Fremdeinwirkung kaum auf den Beinen halten konnte, war der Ausgang dieser Partie voraussehbarer als der der vorangegangenen Begegnung zwischen meiner Eintracht und dem VfL Bochum. Der Spieler, von dem ich an dem Abend sprach, kann eigentlich natürlich nur Karl-Heinz Körbel sein, späterer Rekordhalter für die Ewigkeit in Sachen Bundesligaeinsätze und an allen vier Pokalsiegen zwischen 1974 und 1988 beteiligt.

´Mal verliert man, ´mal gewinnen die anderen…

Bis 2006 musste ich danach warten, bis es wieder einmal gereicht hat. Gegen den FC Bayern zwar, aber da man als Fußballfan irgendwann aufhört, an Zufälle zu glauben, dachte ich, das wäre eine klare Angelegenheit. Für uns, selbstredend. Weil nämlich die SGE noch jedes Mal, wenn im selben Jahr ein fußballerisches Großereignis in Deutschland stattgefunden hat, das Pokalendspiel gewonnen hatte, konnte das angesichts der bevorstehenden WM natürlich nicht anders sein.

War es natürlich nicht. Das Ergebnis habe ich vergessen. Obwohl ich da schon nicht mehr getrunken habe. Eher verdrängt also. Aber daß wir gespielt haben, das weiß ich noch. Tankard waren übrigens auch dabei.

Es blieb dabei: Was definitiv fehlte, war ein Titel. Es gab eine geklaute Meisterschaft, doch das Label „Meister der Herzen“ wurde damals noch nicht vergeben. Ich habe an dem Tag viel getrunken. Hätten wir die Schale geholt, hätte ich vermutlich ebenfalls viel getrunken. Streng genommen hätte ich auch viel getrunken, wenn die SGE vier Spieltage vor Ende jenseits von Gut und Böse gelandet wäre und es an diesem Tag um überhaupt nichts mehr gegangen wäre. Trotz allen Trinkens um des Vergessens Willen gab es Hoffnung, die geplatzte Meisterschaft könne eventuell nachgeholt werden. Die Liga war zu jener Zeit ja bei weitem noch nicht so zementiert wie heutzutage. Allein: Die Träume wurden sehr bald beiseite gewischt. Stattdessen gab es Abstiege. Echte Abstiege. Nicht nur Beinahe-Abstiege wie wir es gewohnt waren.

Nicht daß die Zeit langweilig oder ohne jegliche Höhepunkte gewesen wäre. Im Gegenteil. Es gab Herzschlagfinals, furiose Europapokal-Auftritte, Last-Minute-Nichtabstiege sowie Last-Second-Aufstiege.

Und es gab dieses eine schönste aller Erlebnisse nach dem 6:3 gegen Reutlingen, als ich mit einer Bekannten mit OFC-Hintergrund irgendwann nach der Übertragung des letzten Spiels dieser Zweitligasaison an der Konstablerwache auf Teile meiner Bezugsgruppe wartete. Nach einem zwischenzeitlichen 3:3 bei gleichzeitiger hoher Führung der Kontrahenten im Fernduell war der ersehnte Aufstieg Mitte der zweiten Spielhälfte in so weiter Ferne, daß es als eines der Frankfurter Fußballwunder in die Geschichte einging, wie das in allerletzter Sekunde doch noch zu einem Happy End gedreht wurde. Entsprechend stand nach dem Abpfiff Frankfurt Kopf: Autokorsos, Fahnenmeere, die halbe Stadt war auf den Beinen. Von all dem äußerlich scheinbar relativ unbeeindruckt kam eine Seniorin an uns vorbeigelaufen und fragte mich ernsthaft: „Habbe se wenigstens gewonne?“

Ich habe nicht geantwortet, daß wir auch unsere Niederlagen auf solche Weise feiern. Weil, genau: Die besten Antworten, immer hinterher und so.

So schön das alles allerdings auch gewesen ist – das ist ja nichts, was man sich als Verein auf den Briefbogen schreibt. Titel müssen her. Leider hat der Verlauf des gestrigen Abends dieses Ansinnen erneut auf unbestimmte Zeit verschoben. Doch die Eintracht wäre nicht die Eintracht, wenn sie nicht für solche Frustrationsmomente einen allzeit gültigen Spruch recyceln könnte, der seinerzeit von einem der größten Entertainer kreiert wurde, den sie jemals als Trainer beschäftigt hatte: Lebbe geht weider! Passend auch für alle Lebenslagen abseits des Rasens mit Ausnahme vielleicht des eigenen Ablebens.

Da für mich die größere Enttäuschung der Woche sowieso jenseits des Fußballs stattgefunden hat, sollte es nicht allzu schwer fallen, das so bald als möglich abzuhaken und den Blick nach vorne zu richten. Gerade nachdem meine letzten Texte ihren geheimen Schwerpunkt mehrheitlich in der Rückschau auf Vergangenes hatten, würde dem Blog eine Hinwendung zu aktuellen Themen und Storys sicher gut zu Gesicht stehen. Schließlich fängt genau jetzt die Vorfreude auf die nächste Saison an. Darüber hinaus ist heute der erste Tag vom Rest meines Lebens.

Schießen lernen, Freunde treffen

Ein kurzes Anwerfen der Suchmaschine bestätigt, was erstaunen müsste: Daß diese Parole nicht eben selten nach wie vor mit ernsthaften Absichten verwendet wird. Alleine das sollte an und für sich zu denken geben.

Daß ich nach guten 30 aktiven Jahren mit dem Thema Schießen durch war, lag nicht oder jedenfalls nicht ausschließlich daran, daß ich zwei Dinge nach all den Jahren zum Schluss nicht mehr hören wollte. Zum einen war das exakt der Slogan, der hier als Überschrift den Gegenstand des folgenden Beitrags ankündigt; zum anderen waren das angebliche Versprecher sowie sämtliche Wortspiele, die den Akt des Schießens durch Platztausch des vierten mit dem fünften Buchstaben durch einen anderen, nicht minder hohe Konzentration erfordernden Vorgang ersetzten.

In wenigen Wochen ist dann also die Saison vorbei. Das erste Jahr ohne mich, nachdem ich voriges Jahr eine Angelegenheit über Bord warf, die ich seit meinem 14. Lebensjahr ausgeübt hatte und damit bis dato eine der wenigen Konstanten in meinem Leben darstellte.

Habe ich das bis jetzt bereut? Eher nicht.

Wer denkt, daß das Schießen sowieso nie zu mir gepasst hat, dem sei gesagt, daß das Schießen mit dem Luftgewehr auf eine Distanz von gerade fünf Metern eine Offenbacher Eigenart ist, die bundesweit sonst nur noch in einer weiteren Region gepflegt wird oder wurde. So gesehen ist es fast schon wieder konsequent, daß ich so lange Zeit mittendrin statt nur dabei gewesen bin.

Weil wir praktisch nichts anbieten können, was sich nicht jeder sowieso legal beschaffen kann, hatten wir auch nie mit fragwürdigen Personen zu tun. Wenigstens nicht mehr als der Durchschnitt der Gesellschaft.

Zur Traditionspflege der seit 1914 bestehenden Schützenvereinigung als Dachverband gehört die Erwähnung, daß man sich seinerzeit in expliziter Abgrenzung zu den militaristischen übrigen Schützenvereinen gegründet habe. Es gibt unsympathischere Szenarien. Daß die geistige Verwurzelung im obrigkeitsstaatlichen Denken dennoch bis ins späte 20. Jahrhundert nachwirkte, kann anhand einer der skurrilsten Geschichten, die ich in diesen 30 Jahren erlebt habe, nachgezeichnet werden. Weil ich nämlich irgendwann einmal den Präsidenten der Vereinigung nach einem zugegeben etwas ausgearteten Disput über die Auslegung der Schießbestimmungen unter anderem als Affen bezeichnet habe, bin ich bis heute das einzige Mitglied der Vereinigung, dem gegenüber jemals ein Verweis ausgesprochen wurde. Das ist bis jetzt natürlich noch nicht so außergewöhnlich. Das eigentlich Unfassbare war das Setting: In einer Präsidiumssitzung wurde dieser Verweis beschlossen, ohne daß mir als Betroffenem Gelegenheit gegeben wurde, mich zu der Sache zu äußern, während andererseits Zeugen geladen wurden, die das gar nicht mitbekommen haben können, weil sie zum Zeitpunkt der Eskalation auf dem Stand gewesen sind, während draußen ein Wort das andere gab und es schließlich in dieser Majestätsbeleidigung gipfelte.

Daß ich nicht nach diesem Vorfall schon Schluss gemacht habe, unterstreicht den Stellenwert, den das Schießen für mich lange Zeit hatte. Auch sonst – sollte man meinen – hätte ich ja gerade in jüngeren Jahren freitagabends eigentlich besseres zu tun gehabt als zum Ballern zu gehen. Worin also besteht der Reiz?

Muppets meet Volkssturm

Die Vereinsfreunde? Ich glaube, ich war ungefähr fünfzehn Jahre lang der mit weitem Abstand Jüngste im Verein. Was streng genommen schon alles, aber auch wirklich alles über die Attraktivität des Schießens in der Stadt aussagt. Alte Herren, die freitags einen Grund benötigen, den Abend nicht zuhause mit ihrer Gattin verbringen zu müssen. Oder von ihrer Gemahlin zum Schießen geschickt werden, damit diese auch ´mal ihre Ruhe haben. Wer kann das schon so genau sagen? Irgendwann ist dann konsequenterweise auch das Ergebnis zweitrangig. An Trainingsabenden wurde manchmal nicht einmal mehr das Licht im Stand eingeschaltet, weil ohnehin niemand trainierte.

Ich glaube, es waren einzelne Momente wie auf dem Stuhl eingeschlafene Standaufsichten, die mich bei der Stange gehalten haben. Augenblicke, welche ich sicher auch an jedem beliebigen anderen Ort gehabt hätte, aber durch Zufall eben im Kontext des Schießens in Hinterzimmern von Schankwirtschaften. Unvergessen auch der Schützenbruder, der als Angehöriger des sich manchmal selbst so bezeichnenden Volkssturms und also wenigstens in Sachen Selbstironie Treffsicherheit beweisend eigentlich für Ergebnisse jenseits von Gut und Böse prädestiniert ist. Dieser hatte an einem Abend ein Ergebnis für die Ewigkeit erzielt, das er vorher nie erreicht hatte und hinterher mutmaßlich auch nie mehr. Jeder normale Mensch hätte auf dem Tisch gestanden, die Fäuste nach oben gereckt, in Gedanken „One Moment in Time“ abgespielt und sich feiern lassen. Der aber kam ´raus wie immer mit einem der beiden Gesichtsausdrücke, die er in seinem Repertoire bereithält, hat das eben Vollbrachte abgehakt als wäre es sein durchschnittliches Resultat und ist, wie sonst jeden Freitag auch, ein paar Minuten danach und noch vor der Auswertung seines Ergebnisses gegangen, als ob nichts gewesen wäre. Coolness-Faktor 11 von 10!

In Zeiten, in denen der Erhalt der Arbeitsfähigkeit oberstes Gebot jedes Einzelnen ist, muss dringend noch diese eine Frage geklärt werden, die alle sich stellen, nämlich: Ist diese Form der Freizeitgestaltung nicht sehr gefährlich?

Im Prinzip überhaupt nicht. Schließlich ist das Schießen ein Sport, der ohne jeglichen Körperkontakt auskommt.

Klar könnte ich mein Sportgerät auch dazu benutzen, es dem Gegner über den Schädel zu ziehen. Aber das macht man nicht. Das ist so selbstverständlich, daß es in keinem Regelwerk extra erwähnt wird.

Ein gewisses Restrisiko besteht allerdings trotz alledem. Es nützt auch niemandem, das hier zu unterschlagen zu versuchen. Und zwar ist natürlich jederzeit damit zu rechnen, daß angesichts der Altersstruktur jemand während des Schießens einfach ´mal umkippt. Ist zum Glück nie geschehen, wäre aber keine Überraschung gewesen. Genau andersherum folgender Vorfall: Ist tatsächlich passiert, aber niemand konnte damit rechnen.

Was wir wissen: Ein Schütze hat sich in den Finger geschossen.

Was überliefert ist: In der Annahme, das Geschoss würde irgendwo klemmen, habe er die Hand vor den Lauf gehalten und gaaanz laaangsaaam den Abzug betätigt.

Worüber wir nichts wissen: Die Reaktion des behandelnden Arztes.

Worüber wir froh sind: Daß er um der genaueren Feststellung wegen, an welcher Stelle genau es klemmt, nicht in den Lauf hineingeschaut hat, während er abdrückte.

Was wir daraus für die Zukunft ableiten können: „Wir können nichts dagegen tun, daß wir älter werden, aber wir können verhindern, daß es langweilig wird.“ (Unbekannter Verfasser)

Die Luftballonmodellage-FAQ

Angesichts der beginnenden Saison für Freiluftveranstaltungen und der damit einhergehenden steigenden Nachfrage nach meiner Befähigung als Ballonkünstler sollte ich mir demnächst neue möglichst geistreiche Antworten auf die in dieser Eigenschaft häufigst gestellten Fragen einfallen lassen. Die eine oder andere meiner typischen Reaktionen auf wiederkehrende Fragen nach acht Jahren intensiven Gebrauchs lediglich als abgestanden zu bezeichnen, wäre im Einzelfall unzulässig euphemistisch.

Nehmen wir folgendes Beispiel: Ob das schwer sei. Als klassische Reaktion hierauf habe ich inzwischen ungezählte Male einen Ballon in der Hand gewogen, als ob ich das erste Mal im Leben das Gewicht eines Modellierballons prüfte. Um nach langem Überlegen dann zu erwidern: „Nein, eigentlich sind die ganz leicht. Ein paar Gramm höchstens.“

Billiger Gag? Vielleicht. Aber funktioniert. Zumal vor Kindern und solange ich ihn selbst gut finde. Er gelingt natürlich nicht, sobald mir anzumerken ist, daß ich ihn bereits so häufig wiederholt habe, daß er mir eigentlich zum Hals ´raushängt. Und weil nichts unlustiger ist als unlustig auf andere zu wirken, während man eigentlich lustig sein will, müssen neue Gags her. Nicht nur für die erwähnte, sondern auch für die anderen oft gestellten Fragen.

Kostet das etwas?

Mit einem Augenzwinkern und Verweis auf die Warteschlange: „Ja – einen Augenblick Geduld.“ Das musste ich schon immer mit Bedacht einsetzen, da nach dieser Äußerung schon so manches Kind schon nach dem ersten Wort schneller enttäuscht kehrt machte als ich hinterherschieben konnte, daß es außer Zeit nichts kostet, weil ich vom Veranstalter bezahlt werde. Sicher gibt es auch Tage, an denen es mehr kostet, nämlich mich unendlich viel Nerven. Jahre meines Lebens sozusagen.Aber wer möchte heutzutage schon ehrliche Antworten hören? Geschweige denn geben..?

Wie lange machen Sie das schon?

Die Standardantwort bisher: „Seit 13 Uhr.“ Wahlweise eine andere Zeit, idealerweise die Zeit, zu der ich an dem Tag am Einsatzort begonnen habe. Je nach Gesichtsausdruck und sonstiger Reaktion des Gegenübers kann auch hier das Nachschieben einer gescheiten Antwort notwendig sein.

Das wird schwierig zu ersetzen sein. Ich spüre langsam, daß es auf die Schnelle nichts wird mit neuen Antworten, bei denen sich die Leute einen grinsen. Spricht ja auch irgendwie für die alten Sprüche. Dabei müssen die neuen Sprüche nicht einmal derart beschaffen sein, daß sich die Umstehenden johlend auf die Schenkel klopfen oder das gerade im Rachen befindliche Getränk unfreiwillig durch die Nase entweichen lassen, weil sie sich nicht trauen, es der Einfachheit halber dem Vordermann in den Nacken zu prusten. Sie sollen einfach nur die Situation des Wartens auflockern. Wenn aber die Steuererklärung, die einen nach Feierabend derzeit dummerweise auch noch beschäftigt, nur stark eingeschränkt geeignet ist, einen kreativen Schub zu verpassen, ist vielleicht auch einfach Saure-Gurken-Zeit in puncto Humor. Muss ich vielleicht einfach ´mal akzeptieren.

Wie lange haben Sie gebraucht, um das zu können?

Was ich sage: „Ich probiere das seit 8 Jahren, aber wie Sie ja gerade sehen, kann ich es immer noch nicht richtig gut.“

Was ich meine: Wenn Ihr eine Ahnung hättet, wie schnell das erlernt werden kann. Sofern man natürlich kein kompletter Grobmotoriker ist. Viele andere Dinge sind nicht so leicht zu erlernen. Gags schreiben zum Beispiel. Meine ersten Einsätze diesen Sommer werden eben noch ohne neue Sprüche auskommen müssen. Man ist ja zu Kompromissen fähig. Also werden die nicht en bloc, sondern nach und nach durch neue ersetzt. Allerdings bevor ich wie so manch anderer zur Karikatur meiner selbst degeneriere. Das werde ich in noch höherem Alter ohnehin, das muss ich nicht bereits jetzt schon forcieren.Wie lange will ich das eigentlich noch machen mit den Ballons? Merke ich rechtzeitig, wenn es keinen Spaß mehr macht? Schwere Frage, nächste Frage.

Wie kamen Sie drauf, das zu machen?

Ich hatte Gelegenheit, einem Clown, der das machte, zwei Stunden lang dabei zuzusehen, als ich bei der selben Veranstaltung eine Hüpfburg beaufsichtigte. Nach diesen zwei Stunden hatte ich eine Ahnung, daß das so schwierig gar nicht sein kann. Und für mich einen ganz klaren Auftrag: Das will ich können!“

Ich werde das in Zukunft nach allen Regeln des Storytelling ausdehnen und um Konflikte und Rückschläge ergänzen, die so gar nicht existierten, die das aber interessanter machen. Ihr wisst schon: Obwohl es genau genommen gar niemanden interessiert hat, was ich da im Begriff war zu lernen, war das komplette Umfeld erstmal dagegen. Nur eine einzige Person auf dem ganzen Planeten, die mich zwar nicht unterstützen konnte, aber an mich glaubte.

Und dann das: Jeder geplatzte Ballon beim Üben ein eigenes Drama, das schnell zum vorzeitigen Ende aller meiner Bemühungen hätte werden können, hätte ich nicht diesen unbändigen Willen gehabt, wenigstens einmal im Leben etwas bis zum Ende durchzuziehen und es damit allen Zweiflern zu zeigen.

Das wird dann in jedem Fall länger. Ob es auch lustiger wird, kann ich leider noch nicht beurteilen. Für jemand wie mich, der auf ein Kompliment wie „Cooles T-Shirt“ auch schon ´mal kurz und knapp mit „Ja“ reagiert, stellt es zumindest eine gewisse Herausforderung dar, freiwillig mehr zu reden als notwendig.

Da müssen Sie sicher sehr kreativ sein…

Beim Kochen bin ich kreativer.“ Heißt nicht, daß ich in der Küche besonders kreativ bin. Eher daß ich es hier beim Modellieren besonders wenig bin. Es gibt so viele Anleitungen, daß man jahrelang bestehen kann, ohne ein einziges Design entwickelt zu haben. In Zukunft kann ich beim Stichwort Kreativität wenigstens geschickt das Gespräch auf meine Schreiberei lenken, wo ich mit unterschiedlichem Erfolg zwar, aber in der Tat schöpferisch produktiv bin. Unauffällig bis plump Werbung für den Meilensteinbildhauer machen, der ja immer zwei bis drei Leser mehr vertragen kann. Schreiben ist das neue Modellieren.

Können Sie auch ein Eichhörnchen?

Was ich sage: „Ja, aber leider habe ich keine Nüsse dabei. Deswegen kann ich ausgerechnet heute keine Eichhörnchen machen.“

Was ich meine: Ja, will ich aber jetzt nicht machen, weil das mehr Zeit beansprucht als andere Figuren. Und es bleibt ja nicht bei diesem einen Eichhörnchen, sondern ich muss für die nächsten 15 in der Reihe stehenden Kinder genau das Gleiche machen. Und alle, die schon eine Figur erhalten haben, stellen sich nochmal an, um auch ein Eichhörnchen zu bekommen, weil es so niedlich ist. Und so viel Zeit habe ich heute nicht mehr.

Das Kind da hinten hat aber eben ein Eichhörnchen bekommen…

Das war eine Katze.“

Können Sie auch einen Igel?

Nein.“ Zugegeben auch keine lustige Antwort. Dafür aber eine ehrliche. Und praktisch. Denn wenn ich bis jetzt keine witzige Antwort hatte, brauche ich auch in Zukunft keine. Kann ich auch noch ein oder zwei Jahre lang als Antwort benutzen. Auch in genau diesem Wortlaut. Noch praktischer.

Um diesem Blogeintrag zu guter Letzt noch eine Botschaft mitzugeben:

  • Gut Ding will Weile haben
  • Lasst Euch keine grauen Haare wachsen, denn die besten Einfälle kommen so oder so unter der Dusche
  • Vorausgesetzt, Ihr denkt dabei nicht gerade an die anstehende Steuererklärung

 

Wo sind die Wahnsinnigen?

Sie verstecken sich besser. Vielleicht nehme ich sie weniger als solche wahr als früher. Oder es sind wirklich weniger geworden. Was der Soziologe in mir kaum glauben kann. Das Gegenteil müsste der Fall sein. Früher jedenfalls konnte man sie an jeder Ecke finden. Heute kann es passieren, daß ich den ganzen Tag unterwegs war und nur Menschen begegnet bin, die als normal durchgehen.

Daß ein jeder dieses „normal“ anders definiert, macht es nicht leichter, darüber zu schreiben. Auch weil es natürlich Menschen gibt, die unter diagnostizierten Störungen leiden, ist das hier gerade ein relativ schmaler Grat zum Wandern.

Unterhalb der Schwelle von Behandlungswürdigkeit existieren jedoch Grauzonen menschlichen Verhaltens, die für die Betroffenen überhaupt kein Problem darstellen und von denen nicht die geringste Gefahr für irgendjemand ausgeht.

Ein sehr anschauliches Beispiel ist der junge Mann, der vor Jahren auf dem Campus der Frankfurter Goethe-Universität bekannt wie ein bunter Hund gewesen ist und den alle den nackten Jörg nannten. Wer ihn nicht kennt: er wurde so genannt, weil er vermutlich Jörg heißt, was auch ein Gerücht sein kann. Es hieß immer nur: „Da kommt der nackte Jörg“ Ich wüsste auch nicht, daß er seinen Personalausweis stets mit sich geführt hätte, um diesen Sachverhalt zur Not belegen zu können. Falls doch, will ich lieber nicht wissen, wo. Ein Gag, den ich machen kann, weil die eigentliche Pointe an dieser Stelle bereits durch ist. Denn daß er stets unbekleidet daherkam, dürfte niemanden mehr überraschen. Lediglich der Walkman, den er als einziges Utensil trug, soll Erwähnung finden. Meine damalige Freundin wusste zu berichten, wie sie als Studentin der Heil- und Sonderpädagogik in einem Seminar saß, als sich plötzlich die Tür öffnete und er halb im Raum stand, mit dem Dozenten noch zwei drei Sätze wechselte und wieder verschwand. Diesmal die Pointe an der richtigen Stelle: das Seminar hatte das Thema Verhaltensstörungen.

Ein anderes Beispiel ist der Typ, der eines Abends in unserem kirchlichen Treff für junge Erwachsene auftauchte. Für seinen Hund hatte er den passenden Namen „Schnitzel“ gefunden, was als Hinweis absolut ausreicht, die Güteklasse auch seiner sonstigen Äußerungen zu charakterisieren. Dazu: Der Mann hat so gesprochen wie wir, wenn wir die Sprachfindungsstörungen eines Besoffenen imitieren wollten. Bloß daß er zwischendrin mehrere Sätze nacheinander völlig normal gesprochen hat. Von so einigen, die später erst dazukamen, für einen Versprengten aus der nebenan stattfindenden Aktion Essen und Wärme für Bedürftige gehalten, war die Freude natürlich besonders groß, als offenbar wurde, daß er der neue Freund einer Angehörigen unserer illustren Runde ist.

Immerhin hat der Mann etwas erreicht, das vor ihm und nach ihm kein anderer mehr geschafft hat: Daß nämlich der nächste Treff eine Woche später so voll wie selten gewesen ist, weil etliche aus unserer breit gestreuten Gruppe extra erschienen sind, nur weil sie gehört haben, daß es jemand Neuen gibt, den sie gesehen haben müssen.

Es war wie im Zoo.

Nur tausendundeinmal geiler!

Die Beziehung hielt übrigens nicht allzu lange, möchte ich erwähnt haben, um die Ehre unserer Freundin wenigstens zum Teil wiederherzustellen.

Pausenclown – Gruppenleiter – Offenbacher Original

Aus in etwa dem selben Dunstkreis wie der Offene Treff rekrutierte sich das Personal für das alljährliche Sommerzeltlager für Kids und Jugendliche. Weil von den Fähigen nicht alle Lust oder Zeit hatten, 14 Tage ihres Urlaubs für die gute Sache zu opfern, galt das Prinzip: Diejenigen Teilnehmer mit den größten Verhaltensauffälligkeiten haben beste Chancen, später einmal das Gruppenleiterteam adäquat zu ergänzen. Also beobachtete man, welche der Kinder oder Jugendlichen die klassische Karriere einschlagen würden.

Und wer es darüber hinaus bis zum Offenbacher Original schaffen könnte. Um irgendwann eventuell die würdige Nachfolge des Kerls anzutreten, der in meiner Kindheit durch die Innenstadt lief und alle paar Meter laut ein langgezogenes „Aaaa-ha!“ ausstieß. Oder welche eher in Richtung traurige Existenz mit Neigung zum allabendlichen Stammgast in einer der sich hartnäckig haltenden Eckkneipen der alten Schule neigen.

Einer, der es nicht zum Gruppenleiter, allerdings ins Langzeitgedächtnis aller derjenigen geschafft hat, die in jenem Jahr dabei waren, war der Junge, den ich zur Anonymisierung an dieser Stelle „Mr. Bean“ nenne. (Manche Ähnlichkeiten machen es wirklich schwer, noch an Zufälle zu glauben.)

Mr. Bean hatte keine größere Lust auf Kontakt, keine größere Lust auf Reden allgemein. Aber er hatte Lust, monoton rhythmisch mit einem Stock auf eine Schüssel einzuschlagen. Den ganzen Tag. Man konnte auf dem ganzen Zeltplatz hören, wo ungefähr er sich gerade befand. Entwicklungspsychologisch sowieso, gemeint ist gerade die örtliche Eingrenzung. Ein großer Vorteil, wenn man die Verantwortung für so ein Kind hat. Der hat sich auf dem Zeltplatz sein Paralleluniversum geschaffen. So wie man 14 Tage Camp mit manchen Leuten sowieso schon als eine Art Parallelgesellschaft bezeichnen kann, ja muss. Das alles unter Dach der katholischen Kirche, ihrerseits ja bekanntermaßen schon weltfremd genug. „Das passt“, müssen sich seine Eltern gedacht haben, als sie ihn ohne weitere Vorwarnung in unsere Obhut gaben. Da sieht man, wie die Grenzen zwischen „normal“ und „verrückt“ verschwimmen.

Die Frage allerdings, die bis hierhin noch immer nicht geklärt ist: Liegt es am Ende tatsächlich allein an meinem gegenüber früher radikal veränderten Alltag, daß solche Galanummern menschlichen Verhaltens Tarnkappenbombern gleich auf meinem persönlichen Radar nicht erscheinen? Oder hat sich meine Umwelt auch an diesem Punkt schneller geändert als ich selbst?

Ja, warum sollte es den Kaputten auch anders gehen als Telefonzellen, Tribal Tattoos und Modern Talking? Die wünscht man sich auch nicht unbedingt zurück. Und doch fällt irgendwann auf, daß sie fehlen.

Trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, daß es so viel weniger geworden sind. Sie sind vermutlich wirklich einfach weniger präsent. Schließlich können auch nicht alle irgendwo Staats- oder Regierungschef geworden sein.

Auch außerhalb der im Text erwähnten Zusammenhänge waren die Bekloppten ehemals großzügig gestreut. Man konnte sich eigentlich gar nicht dagegen wehren, mit ihnen in Kontakt zu geraten. Mit einigen der Schrägsten von ihnen war ich sehr gut befreundet.

Oder verwandt.

Heute muss man schon zum Fußball gehen, neben gewissen Polit-Szenen eines der letzten Reservate für Wahnsinnige jedweder Art. Dort bekommt man noch live und in Farbe echte Kaputte geboten.

Und in der Tat: Allen Veränderungen zum Trotz, die der Fußball in den letzten knapp 30 Jahren durchgemacht hat – hier haben die Bekloppten noch im besten Wortsinn Narrenfreiheit. Im Stadion findet man sie alle wieder: die Trommler und die Dummschwätzer. Natürlich die mit der Trinkfestigkeit als Kernkompetenz. Oder die, die sonst nichts auf die Kette bekommen, aber mit der Inselbegabung ausgestattet sind, sozusagen auf Knopfdruck Aufstellung beider Teams, Ergebnis, Schiedsrichter, Karten und Einwechslungen des 8. Spieltages der Saison 1992/93 aufsagen zu können. Auch den Tabellenplatz nach dem Spieltag sowie die Zuschauerzahl bis auf die 5. Nachkommastelle. Nicht zu vergessen das Wetter und Gesamtumsatz des Bratwurststandes.

Sie waren also tatsächlich nie weg. Nur woanders. Ein auf gewisse Weise auch beruhigender Tatbestand.

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