Manches kann man recherchieren, anderes wird man nur schwer noch herausfinden können. So findet man zwar dank des www in wenigen Sekunden heraus, bei der wievielten Rechtschreibreform der Spontaneität ihr ´e´ abhanden gekommen ist. An der viel aufschlussreicheren Frage, wann man selbst seiner Spontanität verlustig gegangen ist, wird jedoch noch die leistungsfähigste Suchmaschine glorreich scheitern.

Weil es arg ungerecht wäre, wenn es mir in dieser Hinsicht besser ginge als dem Rest der Welt, kann auch ich heute nur schwer verorten, wann genau in meinem ohnehin ereignisarmen Leben ich ein letztes Mal spontan gewesen bin. Vielleicht war es der Abend im Mai 2005, an dem ich mich entschied, mir bei ebay eine gebrauchte Profi-Hüpfburg zuzulegen und diese Investition als Start in eine hoffnungsfrohe Zukunft im Veranstaltungs-Business zu betrachten. Jahre später weiß ich: Etwas mehr Überlegung hätte an dieser Stelle nicht direkt geschadet.

Auf solche oder ähnliche Weise hat wahrscheinlich ein jeder schon einmal seine Erfahrungen mit spontanen Anschaffungen gemacht, von denen er wenig später festgestellt hat, dass man sie streng genommen wenig bis gar nicht braucht. Viele Haustiere zum Beispiel wissen von dieser Form der Spontanität ein Lied zu singen.

Es hilft alles nichts: Um jetzt noch spontan zu werden, bin ich wohl schon fast zu alt. Nein, natürlich hat mangelnde Spontanität nichts mit dem Alter zu tun. Aber mit dessen Begleiterscheinungen: Vollzeitjob, Kinder, Paarbeziehung sind ja so einige der üblichen Verdächtigen, wenn es um Spontanitätshemmer geht. Womit nicht behauptet werden soll, dass es scheiße ist, das Genannte alles zu haben. Aber man sollte eben aufhören, so zu tun, als könne man gleichzeitig auch noch spontan in seinem Handeln sein. Nehmen wir die Paarbeziehung: Wenn man beispielsweise das Ende der Zusammenkunft mit Freunden spontan um drei Stunden nach hinten verschiebt, weil das Bier gerade ganz gut läuft, kann man sich sehr sicher sein, dass bei der Heimkehr garantiert nicht die Spontanität gelobt wird. Spontanität ist sowieso ein Kampfbegriff, der übersetzt so viel heißt wie: Mach´ doch bitte etwas mehr von dem, was ich möchte. Ich denke, das bildet die Realität in den meisten Haushalten eher ab als irgendwelche Lippenbekenntnisse, man wünsche sich einen spontanen Partner.

Nein, es bleibt schwierig, im Nachhinein noch herauszufinden, wann das alles angefangen hat. Wer damit angefangen hat. Man muss es genau genommen auch gar nicht so genau wissen. Waren wir nicht alle ein bisschen stolz auf einen prall gefüllten Terminkalender, der uns bescheinigte, wichtig zu sein. Unabkömmlich. Doch manches, was früher das Selbstwertgefühl festigte, ist 25 Jahre später einfach nur noch nervend: Du brauchst vier Vorschläge und drei Wochen, um Dich mit einem Freund zu verabreden. Wenn Du Dich mit gleich zwei anderen Menschen verabreden willst, brauchst Du eine Whats-App-Gruppe, zwölf Terminvorschläge und acht Wochen. Zeit. Spontanität hat ja nicht ganz unwesentlich mit Zeit zu tun. Zeit, die niemand mehr hat.

Das Leben ist durchgetaktet und weitgehend organisiert. Spontanität wird verschoben. Aber auf wann eigentlich? Auf den Urlaub? Die Rente? Oder auf die Zeit, in der man spontan gar nicht mehr kann und man dankbar ist, wenn wenigstens ein Nachbar hin und wieder spontan fragt, ob er etwas vom Supermarkt mitbringen soll. Nächster Schritt ist das Pflegeheim, das so spontan ist wie ein von A bis Z durchgestylter Instagram-Post eines beliebigen Möchtegern-Influencers.

Doch Rettung naht: Spontanität lässt sich lernen. Einfach immer öfter ´mal „Ja“ sagen, lautet das Heilsversprechen, von allerlei Fach- und Nichtfachleuten zigfach reproduziert und in youtube-Tutorials oder zwischen Buchdeckel gepackt. Das hört sich gut an. Doch spätestens wenn durch das Ja zu Überstunden, zu Tanzkurs und zur Kandidatur als Elternbeirat die Woche noch voller ist als sie ohnehin schon war, sollte man die Anschaffung des Bestsellers „Die Kunst, ´Nein´zu sagen“ als Ausgleich wenigstens in Erwägung ziehen.

Als ob das alles noch nicht reichen würde, den Wahnsinn rund um Spontanität zu beschreiben, hat sich in den letzten Jahren eine neue Form der Spontanität rasant ausgebreitet, vielmehr eine als Spontanität getarnte Unverbindlichkeit, nicht selten einhergehend mit einem individuellen Unvermögen, vernünftig zu planen.

Spontanität bedeutet nach dieser Lesart weniger, sich kurzfristig zu entschließen, etwas zu tun. Sondern es bedeutet, sich alle Möglichkeiten offen zu halten und erst kurz vor knapp eine Entscheidung zu treffen. Im Kern beinhaltet diese Pseudo-Spontanität demnach die Praxis, geplante Aktivitäten kurzfristig abzusagen und dabei in Kauf zu nehmen, andere Menschen dadurch zu verärgern. Wer das mit Spontanität verwechselt, darf das gern weiter so handhaben, muss dann allerdings damit leben, dass ich das nicht unbedingt als positive Charaktereigenschaft bezeichnen würde.

Kommen wir abschließend zur würdelosesten Form der Spontanität. Jene nämlich, bei der Menschen in meinem Alter, wirklich „irre“ Sachen machen, um sich selbst und anderen zu beweisen, wie cool und vor allem jugendlich sie noch sein können. Demonstrativ Spaß haben. Manch einem mögen da spontan Junggesellenabschiede in den Sinn kommen. Das Phänomen lässt sich aber genauso gut bei stinknormalen Mädelsabenden oder Zusammenkünften midlife-crisis-geplagter Männer beobachten. Gemeinsames Merkmal ist ein erwachsenen Menschen unwürdiges Verhalten, das auf Außenstehende eine Wirkung irgendwo zwischen peinlich und verstörend hat. Sich selbst und der Gruppe gegenüber bestätigt man sich allerdings gegenseitig, einfach nur „total verrückt“ zu sein. Was ich als Selbstzuschreibung schon immer verdächtig fand und bis heute finde. Was daran liegen kann, dass es bis heute niemandem gelungen ist, mir zu erklären, was genau jetzt besonders „crazy“, „abgefahren“ oder eben „spontan“ sein soll, sich zu Klängen einer Coverband auf einem beliebigen Stadtfest dieser Republik unrhythmisch zu bewegen. Dass das in dieser Formvollendung zumeist nur unter Zuhilfenahme von reichlichen Mengen Alkohol überhaupt gelingt, macht die Angelegenheit ja nicht weniger peinlich.

Das sind dann die Momente im Leben, in denen es eine untergeordnete Rolle spielt, wann genau die eigene Spontanität verloren gegangen ist. Denn wenn das Spontanität bedeuten soll, muss man im Grunde froh sein, sie überhaupt losgeworden zu sein.