Aufzeichnungen aus der Wirrnis des Alltags

Monat: Januar 2021

Nachts ist es kälter als draußen

So etwas sagt man doch nicht! Jedenfalls nicht mehr. Dachte ich zumindest. Entsprechend bin ich regelrecht zusammengezuckt, als ich die Tage einen Mann, als dieser zu einem anderen Mann ins Auto stieg, zur Begrüßung sagen hörte: „Was bringst denn Du für ein Wetter mit?“

Donnerwetter, dachte ich, das sind ja Aussichten. Schließlich sagt es nicht eben wenig über den Zustand einer Gesellschaft aus, wenn Einzelne mit Sprüchen, die vor 40 Jahren einmal originell waren, heute noch andere beeindrucken wollen.

Aber ich übe Nachsicht. Weil Smalltalk ein Grundbedürfnis und das Wetter dafür nach wie vor ein geeigneter Einstieg ist. Man darf halt nur nicht zu viel erwarten. Das gilt für den Smalltalk genauso wie für den Versuch eigentlich spaßbefreiter Zeitgenossen, einfach ´mal einen lässigen Spruch ´rauszuhauen.

In diesem Punkt Milde walten zu lassen bedeutet allerdings nicht, gleich jegliche Überlegung zu unterdrücken, warum zum Henker ein völlig zu Recht in Vergessenheit geratener Spruch wie dieser aus der Mottenkiste gekramt werden muss, obwohl der Typ ja seit dem Aufstehen Zeit genug gehabt hätte, sich einen originelleren Gesprächseinstieg auszudenken. Und bei genauerem Hinsehen stellt man auch rasch fest, dass es sich dabei mitnichten um einen Einzeltäter handelt, sondern dass dahinter eine gewisse Methode erkennbar ist und solche Jahrzehnte alten Phrasen nämlich häufiger recycelt werden als der oberflächliche Blick vermuten lässt:

Bleiben wir zunächst beim Wetter. Einer der Kalendersprüche meiner Generation überhaupt ist ja die Behauptung, es gebe kein schlechtes Wetter, nur falsche Kleidung. „Am Arsch die Räuber“ kann ich dazu nur sagen. Wer schon einmal dabei zusehen musste, wie ein Tornado schön das Dach über dem Kopf abfräst, wird anerkennen müssen, dass es sehr wohl schlechtes Wetter gibt. Wenn also das nächste Mal irgendwer mit dieser unhaltbaren These vom Wetter und der Kleidung um die Ecke kommt, darf man ihm getrost ein „Erzähl´ mir nichts vom Gipskrieg“ entgegen schmettern. Das ist die Universalformulierung, um eine Behauptung zurückzuweisen.

Wem da der rhetorische Feinschliff fehlte, der drückte seine Zweifel an einer Aussage gerne auch mit einem trocken vorgetragenen „Da lacht die Koralle“ aus. Das klingt weniger offensiv, funktioniert allerdings nur unter gewissen Voraussetzungen: Während die Formel mit dem Gipskrieg zur Kennzeichnung jedweden Unfugs als Unfug taugt, bezieht sich die Redewendung mit der Koralle speziell auf jemandes Erklärungen, in Zukunft dies oder jenes zu tun oder zu unterlassen. Typisches Anwendungsbeispiel wäre als Entgegnung auf die Ankündigung des notorischen Säufers, er wolle seine Exzesse von nun an nur noch sehr sparsam dosiert einsetzen, wenn man genau weiß, dass er drei Tage später von diesem Vorsatz nicht mehr viel wissen möchte. Jeder kennt ja mindestens einen dieser Ankündigungsweltmeister („Ich komm´ morgen vorbei, geht nicht, gibt’s nicht“), die auf kleinste Irritationen ihrer gewohnten Abläufe mit Sprüchen wie „Ein alter Mann ist kein D-Zug“ oder „Ich bin auf der Arbeit, nicht auf der Flucht“ reagieren. So Leute halt, die man eben doch irgendwann auf Augenhöhe ertragen muss, wenn stets der Klügere nachgibt.

Es darf nicht überraschen, dass man sich mit solchen Menschen hin und wieder in einem offenen Schlagabtausch wiederfindet. Dann ist es natürlich äußerst hilfreich, eine passende Formulierung für das Zünden der nächsten Eskalationsstufe parat zu haben. Aus heutiger Sicht kaum nachzuvollziehen, hielten wir eine Zeitlang Phrasen wie „Noch so´n Spruch – Kieferbruch“ als Ankündigung einer unmittelbar bevorstehenden körperlichen Auseinandersetzung für zielführend. Fortgeschrittene benutzten Varianten wie „Noch so´n Satz – Zahnersatz“. Selten so gelacht. Eigentlich kein Wunder, dass der Angesprochene sich von solchen Sprüchen in aller Regel maximal unbeeindruckt zeigte. „Ruckzuck sind wir ein Knäuel“ war charmanter, letzten Endes aber auch nur geringfügig geeigneter, eine bessere Verhandlungsposition zu erlangen. Im Normalfall war die großspurig angekündigte zünftige Rangelei demnach weniger wahrscheinlich als es die Ausdrucksweise vermuten ließ.

Dabei hätte man ein bis zwei Anekdoten von mittleren Ausschreitungen an anderer Stelle gut gebrauchen können. Dann nämlich, wenn man ´mal wieder von irgendeinem Kegelbruder der Eltern aufgefordert wurde: „Erzähl´ doch ´mal einen Schwank aus Deiner Jugend!“

Und vielleicht hätte man anstatt schüchtern zu schweigen in solchen Momenten besser das Visier hochgeklappt. Etwa so: „Ich glaub´, mein Schwein pfeift! Nachdem Ihr mir sonst seit Jahren erfolgreich eingeredet habt, dass der Krümel zu schweigen hat, wenn der Kuchen spricht, spiele ich gewiss nicht den Pausenclown, weil Euch gerade Eure eigene Unterhaltung langweilt. In fünfzehn Jahren werde ich mit meiner Therapeutin herausgearbeitet haben, dass die Kombination dieser beiden Sprüche dazu geführt hat, nur dann zu reden, wenn ich gefragt werde. Also seht es mir nach, dass mein Bedürfnis nach Smalltalk im Moment ausgereizt ist.

Und wo wir gerade dabei sind: Mir ist und bleibt es egal, ob egal nun ein Handkäs´ ist oder nicht. Entscheidet Ihr Euch lieber endlich ´mal, ob es in meinem Zimmer aussieht wie bei Hempels unterm Sofa oder wie bei den Hottentotten. Das macht nämlich einen Riesenunterschied. Und überhaupt: Kommt Ihr erst ´mal in mein Alter!

Wenn Ihr ernsthaft etwas für meine Entwicklung tun wollt, erläutert mir doch einfach ´mal: Wie muss man sich das vorstellen, wenn ein Hamster bohnert? In etwa so, wie Hechtsuppe zieht?

Eins vielleicht noch: Das Wetter wird auch von niemandem mitgebracht, sondern das ist meistens schon da. Damit Ihr das endlich ´mal kapiert!“

Klar kann man auf das Problem, dass die meisten Sprüche nach mehrmaliger Wiederholung einfach nicht mehr witzig sind, auch diplomatischer aufmerksam machen. Aber ein bisschen Spaß muss schließlich sein.

In diesem Sinne Ende Gelände. Ich mache mich vom Acker und sage Wirsing, tschüssikowski und bis Baldrian!

Alles nur geklaut

Lassen wir den ersten Blogeintrag des Jahres einfach ´mal mit einer guten Nachricht starten: Die Zahl der Ladendiebstähle nimmt ab. Gut – es wird zur gleichen Zeit auch weniger verkauft, wenn die Läden dicht sind, aber irgendein Haar in der Suppe wird sich immer finden lassen. Damit schlechte Stimmung deswegen gar nicht erst aufkommt, schiebe ich die nächste gute Nachricht gleich hinterher: Auch Wohnungseinbrüche haben infolge vermehrten Zuhausebleibens stark abgenommen.

Doch bevor jetzt die ersten wieder mit Schaum vor dem Mund in die Tasten hauen, dass in der „Corona-Diktatur“ selbst die Langfinger „Berufsverbot“ haben – nehmt Euch an ihnen lieber einmal ein Beispiel! Die angesprochene Gruppe weiß sich schon zu helfen. Nach dem Motto „Nicht immer nur meckern, sondern auch ´mal etwas tun“ wird Pragmatismus gepflegt: Wenn man schon nichts klauen kann, was irgendeinen Gebrauchswert hätte, erweitern wir eben unser Produktportfolio kurzerhand und nehmen das, was wir bekommen können.

Dass manche offenbar wirklich jeden Mist gebrauchen können, belegt nicht nur ein Blick in mein Wohnzimmer, sondern auch in die Meldungen aus aller Welt, die in der Regel in Tageszeitungen auf der letzten Seite eher der Unterhaltung als der Information dienen. Ein Einnetzgerät für Weihnachtsbäume wurde da beispielsweise vor kurzem entwendet. Falls auch nur irgendein Zusammenhang mit den andernorts gestohlenen 100 Tannen besteht, ergibt diese Aktion sogar Sinn. Wenn nicht, hat man halt ein Einnetzgerät zuviel. Und 100 Weihnachtsbäume nenne ich sowieso ambitioniert! Die verkauft man ja nicht einfach ´mal eben aus dem Kofferraum an Kollegen und die Vereinskameraden vom Handball. 100 Tannenbäume sind schon groß gedacht.

Die Weihnachtsbäume stehen dabei durchaus exemplarisch für ein generelles Problem der konsequenten Anwendung des Prinzips „Gelegenheit macht Diebe“. Denn was stellt man mit dem in Zueignungsabsicht in ein ausreichend großes Transportmittel verladenen Jagd-Hochsitz am Ende des Tages an? Der Anfangsverdacht, dass der Aufwand größer als der Ertrag ist, besteht auch bei den 90 Leitplanken-Teilen, die vergangenen Sommer in Südhessen zur Beute wurden. In Texas wurde 2018 sogar ein Hai aus einem offenen Pool eines dortigen Aquariums mitgenommen. Solche Erzeugnisse sind aufgrund ihrer Unhandlichkeit sowie ihrer „ungeklärten“ Herkunft ja auch weder für einen Flohmarkt noch für den Kleinanzeigenmarkt geeignet.

Bei einem im Frühjahr 2018 von einer Baustelle entwendeten 48 Tonnen schweren Kran ist später immerhin der Abnehmer ausfindig gemacht worden. Seitdem rätselt die Fachwelt bloß noch darüber, wie es gelingen konnte, solch schweres Gerät unentdeckt von Stuttgart nach Ägypten zu schaffen. Da kann der kleine Mann, der bestenfalls im Holiday Inn bei der Abreise versehentlich einen Bademantel mit einpackt, einfach nicht mithalten. Wobei anerkannt werden muss, dass die Diebstähle aus Hotels in letzter Zeit durchaus etwas einfallsreicher wurden: Matratzen, ein Rudergerät aus dem Fitnessraum oder ein Piano aus der Bar sind in dieser Hinsicht schon ´mal recht eindrucksvolle Beispiele, was möglich ist. Denn Gegenstände solcher Größenordnung müssen ja unbeobachtet nicht nur an der Rezeption vorbei, sondern vor der Tür auch noch unter Beachtung sämtlicher Aspekte von Ladungssicherung auf ein geeignetes Fahrzeug kommen. Der gewöhnliche Dachgepäckträger scheint mir da nicht ´mal die zweitbeste Lösung zu sein.

Angesichts dieser und anderer Schwierigkeiten darf es nicht verwundern, dass die weniger kreativen Diebe den vermeintlich einfacheren Weg gehen und zum Beispiel versuchen, Geldautomaten um ihren Inhalt zu erleichtern. Das geschieht dann wahlweise durch Abtransport des kompletten Gerätes oder durch Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion direkt vor Ort. (Wobei Fachleute keine pauschale Empfehlung für eine der genannten Methoden abgeben, sondern zur Beurteilung, welche der beiden die effektivere ist, die Einzelfallabwägung bevorzugen.) Wie auch immer man sich am Ende entscheidet – zu beachten bleibt in jedem Fall, dass Zeitdruck die Fehleranfälligkeit erhöht. Nicht wenige Gangster, die sich zunächst diebisch gefreut hatten, dann aber in einer abgelegenen Lagerhalle vor einem profanen Kontoauszugsdrucker standen, werden dies bestätigen können. Betrachtet man zudem die beim Umgang mit explosiven Stoffen nicht unerhebliche Verletzungsgefahr, ergibt sich oft genug das Bild, dass auch bei Geldautomaten Aufwand und Ertrag in keinem besonders gesunden Verhältnis stehen.

Zum Glück arbeitet man aber in einem Milieu, das wie kein zweites Brüche im Lebenslauf duldet, vielleicht sogar erwartet. Wo Lücken in der Vita nicht krampfhaft als Auslandsaufenthalte beschönigt werden müssen, kann man leichter einfach noch einmal neu anfangen. So wie der Protagonist des folgenden fiktiven Dialogs, der dem Klischee entsprechend im Hinterzimmer einer verrauchten Kneipe stattfindet. Dort versucht unser Antiheld, nennen wir ihn „Kickers-Schorsch“, bei einer Art Job-Interview beim „Lächelnden Joe“ die ersten Sprossen seiner Karriereleiter zu erklimmen.

Kickers-Schorsch: „Bist Du Joe?“

Der lächelnde Joe: „Wer will das wissen?“

„Theo sagt, wenn ich Bares für Rares haben will, soll ich bei Dir vorstellig werden.“

Der lächelnde Joe zieht skeptisch eine Augenbraue hoch. „Der gute alte Terror-Theo… dieser Nichtsnutz! Ist er diesen 48-Tonnen-Kran eigentlich inzwischen losgeworden? Aber gut, lassen wir die alten Geschichten. Was kannst Du für mich tun?“

Kickers-Schorsch beginnt etwas zögerlich: „Haftcreme…?!“

Der lächelnde Joe: „Haftcreme!“

„Ja, 140 Tuben.“

„Du stiehlst mir meine Zeit.

Pablo“, bedeutete er dem stumm neben ihm stehenden Typ der Marke Knochenbrecher, „geleite den Herrn hinaus.“

„Warte! Ich mache ein Super-Angebot“, sucht Kickers-Schorsch seine letzte Chance.

„Nun gut, was ist letzte Preis?“

„50 Cent pro Tube.“

„Pablo, richte ihm aus, dass ich nicht interessiert…“

„…nein, warte! Das sind 25 Prozent des Ladenpreises.“

„Jetzt hör´ mir ´mal zu, Du Wicht! Ich weiß nicht, seit wann Theo mit Kindern Geschäfte macht, aber ich habe heute schon ein Piano sowie ein Rudergerät gekauft und vor ein paar Minuten noch 100 Weihnachtsbäume von einem Geschäftspartner angeboten bekommen. Das ist heißer Scheiß! Komm´ wieder, wenn Du mir ein Angebot in dieser Größenordnung machen kannst. Ansonsten kannst Du mir gestohlen bleiben.“

„Ich werde sehen, was sich machen lässt.“

„Das hoffe ich für Dich. Enttäusch´ mich nicht noch einmal!

Pablo…bitte!“

Bevor unser sympathischer Antiheld von Pablo mit einer gewissen Verbindlichkeit zur Tür herausgebracht wird, richtet der lächelnde Joe noch einmal das Wort an ihn:

„Wenn Du mir Leitplanken besorgen kannst, sind wir im Geschäft.“

„Leitplanken? Echt jetzt?“

„Sehe ich so aus, als wäre mir nach Witzen zumute?“

„Mit Verlaub – bei einem permanenten Lächeln im Gesicht kann man das nicht immer zweifelsfrei ausschließen.“

„Touché! Doch Spaß beiseite: Ich plane eine Autobahn, um schneller von einem Teil unseres Anwesens zum anderen zu gelangen.“

„Ich werde sehen, was sich machen lässt.“

„Oder einen Hochsitz. Die Wildschweine in meinem Wald entwickeln sich allmählich zur Plage.“

Vor der Tür wird Pablo plötzlich unerwartet redselig: „Eins muss man Dir lassen: Mut hast Du. Früher hätte ich Typen wie Dir beide Beine brechen müssen. Aber seit der Boss bei der Detonation eines Kontoauszugdruckers fast draufgegangen wäre, als er zufällig am Automat nebenan Geld abheben wollte, hat er sich vorgenommen, jedem Tag mit einem Lächeln zu begegnen. Außerdem hinterfragt er sein eigenes Konsumverhalten ständig und denkt vermehrt darüber nach, worauf es im Leben wirklich ankommt und welche Dinge man wirklich gebrauchen kann und welche dagegen nur eine – wie er es beschreibt – kurze Illusion eines Glücksgefühls verschaffen.

Naja, dann trotzdem viel Erfolg!

Und noch was: Leg´ Dir einen Namen zu, bei dem nicht jeder Narr sofort checkt, dass Du nur ein harmloser Kleinkrimineller bist!“

Man merkt eventuell, dass ich keinen Schimmer habe, wie in dieser Branche Geschäfte angebahnt werden. Was ich allerdings weiß: Wenn die Bevölkerung noch länger zuhause bleiben soll, droht großen Teilen dieses Wirtschaftszweigs das Aus. Deswegen: Denkt dran, dass Diebe, Einbrecher und andere in diesem Gewerbe Tätigen meistens selbstständig sind und also auch in Pandemie-Zeiten kaum staatliche Hilfen erwarten können. Seid also solidarisch mit diesen Menschen und verlasst hin und wieder trotz Home-Office, Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen Eure vier Wände, damit die Langfinger dort ihr Tagwerk verrichten können. Ein Ausflug zum Feldberg ist völlig ausreichend. Der garantiert momentan einen ganzen Tag Abwesenheit. Das sollte Euch Euer Lieblings-Gauner einfach wert sein.

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