Aufzeichnungen aus der Wirrnis des Alltags

Monat: April 2021

Nobody is perfect

Eins, zwei, drei, vier, Eckstein, alles muss perfekt sein! Sei es das perfekte Dinner, der perfekte Pizzateig oder die perfekte Welle – unterhalb von Vollendung und Makellosigkeit ist scheinbar kein Hund mehr hinter dem Ofen vor zu locken. Der inzwischen schon einmal bis zum Ende und wieder zurück erklärte, diskutierte, verurteilte Trend, dass jede noch so erbärmliche Existenz auf Instagram und Co zum Goldstandard hochstilisiert wird, hat es nicht eben leichter gemacht, einfach nur durchschnittlich zu sein.

Dabei ist die Welt voll von Dingen, die wir fasziniert betrachten, obwohl sie alles andere als einwandfrei sind: Pfusch am Bau wird als schiefer Turm von Pisa eine weltbekannte Touristenattraktion. Dummheit und Ignoranz sind kein Hindernis, höchste politische Ämter zu bekleiden (und waren es im übrigen nie gewesen). Längst ist der Nachweis wirklich relevanter Fähig- oder Fertigkeiten zumindest hierzulande keine Voraussetzung mehr, um das Attribut „prominent“ zu erhalten. Und warum technische Unzulänglichkeiten dem kommerziellen Erfolg eines Produktes nichts anhaben können, sobald dort irgendwo ein angebissener Apfel draufgeprägt wird, gehört zu den bestgehüteten Geheimnissen der modernen Welt.

Diese Kluft zwischen der oberflächlich inszenierten Perfektion und der Neigung, dort wo gerade niemand zusieht, fünfe gerade sein zu lassen, muss man überhaupt erst einmal aushalten können. Es darf dabei niemanden ernsthaft wundern, dass dies leicht fällt, solange man selbst der Akteur ist, während das Urteil umso härter ausfällt, wenn man solche Disgruenzen bei anderen Menschen entlarvt.

Und zwischen den Stühlen sitzen die Perfektionisten.

Kurze Zusammenfassung: Perfektionisten müssen eigentlich immer alles selbst erledigen, weil das Ergebnis bei weitem nicht so gut werden kann, wenn es von anderen gemacht wird. Im Delegieren von Aufgaben sind diese Leute demnach schonmal alles andere als perfekt, sondern ziemliche Nieten.

Weil man als Perfektionist nicht nur sich selbst, sondern eben auch den Menschen um einen herum das Maximum abverlangt, um den angestrebten Grad der Perfektion zu erreichen, gehen wir unserem Umfeld nicht nur manchmal gehörig auf den Zeiger.

Dass die selben Menschen auch noch unseren Frust darüber aushalten müssen, dass alle Anderen nicht im Ansatz so perfekt sind wie wir, kommt oft noch erschwerend hinzu, ist aber nicht einmal das Schlimmste.

Indem wir nämlich gleichzeitig an vielen anderen Stellen kapitulieren und unzählige Aufgaben und Projekte gar nicht erst beginnen, weil diese mit den momentan vorhandenen Ressourcen sowieso nicht gut genug werden können, müssen Freunde, Familie und Kollegen auch noch aushalten, dass wir in vielerlei Hinsicht ganz und gar nicht perfekt sind.

Ja, Perfektionisten können anstrengend sein. Aber Perfektionist zu sein, ist mindestens genauso anstrengend: Wir sind als Perfektionisten ja konstant unzufrieden. Was kein schöner Zustand ist. Ich möchte auch ´mal mit wenig zufrieden sein. Möchte ein absolut windschiefes Gebilde ansehen, welches nur mit einigem gutem Willen überhaupt als Raumteiler zu erkennen ist, möchte darauf zeigen und der Welt voller Stolz mitteilen: „Alles selbst gemacht.“ Ich möchte auch einmal einfach in die Tasten hauen und einen wütenden Kommentar mit wenig Information und umso mehr Ausrufezeichen und Großbuchstaben ungefiltert in die sozialen Netzwerke schicken und nicht immer nur über all die Anderen denken: Wenn die doch so schlau sind und alles wissen, warum können die das nicht in ganzen, zusammenhängenden Sätzen ausdrücken?

Früher, als bekanntlich alles besser war, konnte ich im Verhalten erwachsener Menschen spannende Beobachtungen machen, unter welchen Voraussetzungen man komplett unvollkommen sein durfte und so ziemlich jeder Fehler gestattet war: Wenn man Alkohol zu sich genommen hatte, durfte man fast alles tun. Man durfte laut, ordinär, aggressiv oder verletzend sein, aber hinterher hieß es: Schwamm drüber, der hat das nicht so gemeint. Man durfte sich absolut peinlich verhalten, ohne danach von den anwesenden Zeugen schräg angeschaut zu werden. Im Gegenteil wurde man für manche Aktion sogar beglückwünscht. Wer als Kind ebenfalls die eigene Mutter zu schlechter Schlagermusik, die von Big Harry auf seiner Wersi-Orgel interpretiert wurde, auf dem Tisch hat tanzen sehen, bekommt eine Ahnung, wovon ich rede.

Da man also mit einem zu tiefen Blick ins Glas offensichtlich sanktionslos Fehler begehen durfte, nahm ich mir vor, später auch die eine oder andere Gelegenheit zum Trinken wahrzunehmen. Die besondere Tragik liegt darin, dass von allen meinen Plänen ausgerechnet dieser derjenige werden sollte, den ich am konsequentesten umsetzte.

Als ich dann soweit war, empfand ich es als relativ praktisch, dass die Neigung zum Alkohol sehr gut korrespondierte mit einer Jugendbewegung, zu der ich mich etwa zur gleichen Zeit begann hingezogen zu fühlen.

Um Punk zu sein, musste nichts perfekt sein: Weder musste man perfekt tanzen noch irgendein Instrument virtuos beherrschen können. Man musste eigentlich gar nichts gut, geschweige denn perfekt können. Nicht einmal gut aussehen musste man. Genau genommen durfte man nicht nur nicht perfekt aussehen müssen, sondern man durfte sogar ausgesprochen schlecht aussehen, ohne das Punk-Sein damit zu verwirken.

Das einzige, was man als Punk wirklich perfekt können musste, war Saufen.

Zumindest galt das für die Punkfraktion, die sich bis Ende der Achtziger Jahre in Deutschland als dominante durchgesetzt hatte. Eine Situation, die perfekt für mich gemacht war.

Dabei habe ich unter all den Punks und anderen Wahnsinnigen am Ende mehr zwischen allen Stühlen gesessen als mir lieb sein durfte: Auf der einen Seite waren die, die so etwas wie Punk niemals benötigt hätten, sondern auch ohne Punk nichts auf die Kette bekommen, die Nicht-Perfektion des Punk als willkommene Ausrede für ihre Unzulänglichkeiten aber nur zu gern in Anspruch genommen haben. Auf der anderen Seite diejenigen, die ihre wilde Seite auslebten und juvenile Grenzübertritte unter dem Label Punk laufen ließen, während sie nebenher ihre perfekte Karriere offensiver planten als sie zuzugeben bereit waren.

Die eigentliche Tragik besteht allerdings darin, dass ich dieses System Alkohol selbst wieder nach dem Prinzip „Ganz oder gar nicht“ ausgelebt habe, das aber gesundheitlich betrachtet nur ein paar wenige Jahre gut gehen konnte, wollte ich nicht mit Mitte 30 bereits an einem Punkt sein, an dem gar nichts mehr perfekt ist, sondern der komplette Körper in Grund und Boden gewirtschaftet wurde. Außerdem merkt man ja irgendwann, dass der Plan, sich die Unvollkommenheit seiner selbst und seiner Mitmenschen allabendlich schönzutrinken, selbst nicht perfekt ist. Wenn es nämlich etwas gibt, das seinem Umfeld noch mehr auf den Zeiger geht als ein Perfektionist, dann ist das nämlich ein frustrierter Trinker. Vordergründig ergänzt sich das ganz gut, denn umgekehrt geht dem Trinker prinzipiell jeder auf den Senkel, der ihn auf die problematischen Aspekte seines Alkoholkonsums hinweist. Aber auf Dauer geht es eben irgendwann an die Substanz, gerade deswegen ständig perfekt sein zu müssen, weil das Umfeld jeden Fehler, den man begeht, auf das Saufen zurückführen würde und nicht darauf, dass man wie jeder andere Mensch eben nicht perfekt ist.

Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt: Entgiftung, Reset in vielen Lebensbereichen, und so reagiere ich seit 20 Jahren an manchen Tagen wieder extrem dünnhäutig auf den Umstand, dass niemand perfekt ist und man im Grunde nur von Amateuren umgeben ist. Und ich muss damit leben lernen, dass ich keine vernünftigen Antworten auf Fragen erhalte, die außer mir mutmaßlich niemand stellt: Kann man das nicht so herstellen, dass es länger als sechs Wochen hält? Warum blinkt der Simbel jetzt? Gibt es das auch in meiner Größe? Warum überlässt der Vermieter die Betriebskostenabrechnung nicht einem Profi? Warum blinkt der Simbel jetzt nicht? Ist das noch Punk? Gibt es hier im Haus auch irgendwen, der weiß, was er tut? Hat man wirklich niemand besseren gefunden, der auch gern Verkehrsminister geworden wäre? Wer hat das Klopapier verkehrt herum auf den Abrollbügel gesteckt? Ist der Text jetzt endlich fertig, oder zuckt der noch?

Nein, ich glaube, der ist jetzt gut.

„Eier, wir brauchen Eier!“

Nach allem, was ich bis jetzt über mich weiß, kann davon ausgegangen werden, dass die Teilnahme an einem Osterbrauch, bei dem Eier mittels mehr oder weniger ausgefeilter Wurftechnik über eine möglichst große Distanz befördert werden müssen, mein Gefallen fände.

Generell habe ich eine gewisse Schwäche für Brauchtümer, bei denen Gegenstände, die zunächst nicht dazu entwickelt wurden, um sie durch die Gegend zu werfen, ihres ursprünglichen Zwecks entbunden werden, um sie – durch die Gegend zu werfen. Da wird einem einiges geboten: Von Mobiltelefonen über Gummistiefel bis zu Weihnachtsbäumen gibt es neben besagten Eiern eine gewisse Vielfalt unterhaltsamer Wettbewerbe. Der Weltrekord im Handtaschen-Weitwurf liegt übrigens bei äußerst respektablen 46 Metern, der im Erdnuss-Weitwurf bei 37.

Zugegeben sehen die wenigsten Menschen bei der Ausübung solcher Tätigkeiten so anmutig aus, dass man sie sich in dieser Pose bei Gunther von Hagens Körperwelten direkt neben dem Speerwerfer vorstellen kann. Doch ging es bei diesen Randsportarten noch selten um Ästhetik, sondern vielmehr um Spaß. Und der Spaß lässt sich – allen ethischen Grundsätzen zum Trotz – noch steigern, sobald Lebensmittel zum Einsatz kommen. Als jemand, der sogar das Schleudern von Salat am liebsten zeitsparend mit Übungen im Poi-Schwingen kombinieren würde, schlussfolgere ich: Falls ich irgendwann einmal eine ausgewachsene Depression entwickeln sollte, wäre vermutlich ein relativ erfolgversprechender Therapieansatz, mir ein Katapult und dazu einen Sack Kartoffeln zu verschreiben.

Von Therapie zum jährlichen Zeltlager der Katholischen Jugend überzuleiten, klingt schwieriger als es letztendlich tatsächlich ist. Dort haben wir vor gut 20 Jahren nach der Abreise der zu betreuenden Kinder unsere eigene Tradition entwickelt: Mit Honigmelonen haben wir Rugby gespielt; Salatköpfe, Tomaten und andere Lebensmittel mit guten Flugeigenschaften wurden mit dem Baseballschläger eher klein- als weggeschlagen. In der Szene der Lebensmittelsportler galt ich zu dieser Zeit als alter Hase. Nichts war uns heilig; Berührungsängste waren – wie insgesamt in der Katholischen Kirche – nur schwach ausgeprägt. Man weiß ja, wie der Hase läuft: Heute wären viele Kirchenfunktionäre selig, wenn eine Steige verschwendeter Äpfel der einzige Skandal wäre, mit dem sie sich auseinanderzusetzen hätten.

Noch dazu können ein paar Hände voll vorsätzlich zertrümmerter Grundnahrungsmittel in puncto Scheinheiligkeit Gott sei dank mit folgender Praxis nur schlecht als recht mithalten: Man nehme ein in Deutschland millionenfach verbreitetes niedliches Haustier, baut es über die Jahre zu einem Markenrepräsentanten für das Osterfest auf, lässt ihn Eier bunt bemalen und verstecken und zieht ihm als Belohnung nach getaner Arbeit das Fell über die Ohren, um ihn der versammelten Familie als Festtagsmahl aufzutischen.

Dass die Kaninchen inzwischen vermehrt „aus Bodenhaltung“ angeboten werden, macht den Braten auch nicht fett: Die Tiere haben ihr gewünschtes Gewicht nach etwa drei Monaten Lebenszeit erreicht, werden also zu einem Zeitpunkt geschlachtet, zu dem ihre Kollegen, die fürs Kinderzimmer bestimmt sind, überhaupt erst von der Mutter getrennt werden. Ein lebendiges Kaninchen beim Züchter oder im Zoofachgeschäft gibt es für 50 Euro aufwärts. Ihre tiefgefrorenen Artgenossen gibt es in der Osterwoche für 7,99 Euro bei Netto. Niemand muss also befürchten, dass sich die Tiermastbetriebe bei der Produktion dieser Kaninchen in besondere Unkosten gestürzt hätten. Wie rohe Eier werden die Jungtiere dort jedenfalls mitnichten behandelt. Dies sollte man sich gelegentlich vor Augen halten, wenn Eier und Hasen wie an Ostern als Symbole für immerhin nicht weniger als Fruchtbarkeit und Entstehung des Lebens benutzt werden. Nach allem, was ich bis jetzt weiß, kräuseln sich mir da regelmäßig die Haare.

Auch von hier ist die Überleitung zum nächsten Thema maximal einen Eierwurf weit entfernt. Den Schaumfestiger meiner Wahl gibt es neuerdings „wieder mit Lieblingsduft“. Das steht tatsächlich exakt so drauf.

Die erste Frage ist dabei natürlich: Wessen Lieblingsduft? Meiner ist es jedenfalls nicht. Soviel kann ich, nach allem, was ich bis jetzt über mich weiß, bereits sagen. Was nicht tragisch ist, denn ich hielte es auch in vielen Alltagssituationen für nicht angemessen, wenn meine Haare nach Pizza riechen würden.

Theoretisch könnte sogar der Lieblingsduft eines Hundes gemeint sein. Inwieweit man dann als Mensch davon profitiert, bleibt fraglich. Als Arbeitshypothese würde ich folgende Annahme in den Raum stellen: Wenn man in einer Metzgerei arbeitet, ist es in Ordnung, wenn das Haupthaar nach Fleischwurst riecht. In jeder anderen Situation würde ich einen etwas weniger aufdringlichen Duft vorziehen.

Die Probleme sind jedoch weitaus komplexer als diese oberflächliche Annäherung andeutet. Wenn der Schaumfestiger nämlich jetzt endlich wieder mit Lieblingsduft erhältlich ist, muss ja als produktpolitische Maßnahme irgendwann vorher einmal die Entscheidung gestanden haben: Okay, das ist zwar jetzt der Lieblingsduft (von wem oder was auch immer), aber wir arbeiten ab jetzt trotzdem mit einem weniger beliebten Duft weiter. Meistens sind solche Angelegenheiten ja keine einsamen Entscheidungen eines einzelnen Akteurs. Im Normalfall muss das ja in irgendeinem Gremium zur Sprache gekommen und diskutiert worden sein. Was war da der Grundgedanke?

Ich kenne mich in solchen Fragen nicht wirklich aus, beanspruche für mich aber eine gewisse Kompetenz, wenn es darum geht, Bewährtes in Zukunft schlechter zu machen. Mein Vorschlag wäre daher gewesen, wenn man einen sinnfreien Spruch auf der Packung überhaupt für nötig hält, diesen hier zu nehmen: „Das kannst Du Dir in die Haare schmieren!“

Nach allem, was ich bis jetzt über mich weiß, kann davon ausgegangen werden, dass ich einen mit einem solchen Slogan beworbenen Schaumfestiger sofort kaufen würde.

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