Eins, zwei, drei, vier, Eckstein, alles muss perfekt sein! Sei es das perfekte Dinner, der perfekte Pizzateig oder die perfekte Welle – unterhalb von Vollendung und Makellosigkeit ist scheinbar kein Hund mehr hinter dem Ofen vor zu locken. Der inzwischen schon einmal bis zum Ende und wieder zurück erklärte, diskutierte, verurteilte Trend, dass jede noch so erbärmliche Existenz auf Instagram und Co zum Goldstandard hochstilisiert wird, hat es nicht eben leichter gemacht, einfach nur durchschnittlich zu sein.
Dabei ist die Welt voll von Dingen, die wir fasziniert betrachten, obwohl sie alles andere als einwandfrei sind: Pfusch am Bau wird als schiefer Turm von Pisa eine weltbekannte Touristenattraktion. Dummheit und Ignoranz sind kein Hindernis, höchste politische Ämter zu bekleiden (und waren es im übrigen nie gewesen). Längst ist der Nachweis wirklich relevanter Fähig- oder Fertigkeiten zumindest hierzulande keine Voraussetzung mehr, um das Attribut „prominent“ zu erhalten. Und warum technische Unzulänglichkeiten dem kommerziellen Erfolg eines Produktes nichts anhaben können, sobald dort irgendwo ein angebissener Apfel draufgeprägt wird, gehört zu den bestgehüteten Geheimnissen der modernen Welt.
Diese Kluft zwischen der oberflächlich inszenierten Perfektion und der Neigung, dort wo gerade niemand zusieht, fünfe gerade sein zu lassen, muss man überhaupt erst einmal aushalten können. Es darf dabei niemanden ernsthaft wundern, dass dies leicht fällt, solange man selbst der Akteur ist, während das Urteil umso härter ausfällt, wenn man solche Disgruenzen bei anderen Menschen entlarvt.
Und zwischen den Stühlen sitzen die Perfektionisten.
Kurze Zusammenfassung: Perfektionisten müssen eigentlich immer alles selbst erledigen, weil das Ergebnis bei weitem nicht so gut werden kann, wenn es von anderen gemacht wird. Im Delegieren von Aufgaben sind diese Leute demnach schonmal alles andere als perfekt, sondern ziemliche Nieten.
Weil man als Perfektionist nicht nur sich selbst, sondern eben auch den Menschen um einen herum das Maximum abverlangt, um den angestrebten Grad der Perfektion zu erreichen, gehen wir unserem Umfeld nicht nur manchmal gehörig auf den Zeiger.
Dass die selben Menschen auch noch unseren Frust darüber aushalten müssen, dass alle Anderen nicht im Ansatz so perfekt sind wie wir, kommt oft noch erschwerend hinzu, ist aber nicht einmal das Schlimmste.
Indem wir nämlich gleichzeitig an vielen anderen Stellen kapitulieren und unzählige Aufgaben und Projekte gar nicht erst beginnen, weil diese mit den momentan vorhandenen Ressourcen sowieso nicht gut genug werden können, müssen Freunde, Familie und Kollegen auch noch aushalten, dass wir in vielerlei Hinsicht ganz und gar nicht perfekt sind.
Ja, Perfektionisten können anstrengend sein. Aber Perfektionist zu sein, ist mindestens genauso anstrengend: Wir sind als Perfektionisten ja konstant unzufrieden. Was kein schöner Zustand ist. Ich möchte auch ´mal mit wenig zufrieden sein. Möchte ein absolut windschiefes Gebilde ansehen, welches nur mit einigem gutem Willen überhaupt als Raumteiler zu erkennen ist, möchte darauf zeigen und der Welt voller Stolz mitteilen: „Alles selbst gemacht.“ Ich möchte auch einmal einfach in die Tasten hauen und einen wütenden Kommentar mit wenig Information und umso mehr Ausrufezeichen und Großbuchstaben ungefiltert in die sozialen Netzwerke schicken und nicht immer nur über all die Anderen denken: Wenn die doch so schlau sind und alles wissen, warum können die das nicht in ganzen, zusammenhängenden Sätzen ausdrücken?
Früher, als bekanntlich alles besser war, konnte ich im Verhalten erwachsener Menschen spannende Beobachtungen machen, unter welchen Voraussetzungen man komplett unvollkommen sein durfte und so ziemlich jeder Fehler gestattet war: Wenn man Alkohol zu sich genommen hatte, durfte man fast alles tun. Man durfte laut, ordinär, aggressiv oder verletzend sein, aber hinterher hieß es: Schwamm drüber, der hat das nicht so gemeint. Man durfte sich absolut peinlich verhalten, ohne danach von den anwesenden Zeugen schräg angeschaut zu werden. Im Gegenteil wurde man für manche Aktion sogar beglückwünscht. Wer als Kind ebenfalls die eigene Mutter zu schlechter Schlagermusik, die von Big Harry auf seiner Wersi-Orgel interpretiert wurde, auf dem Tisch hat tanzen sehen, bekommt eine Ahnung, wovon ich rede.
Da man also mit einem zu tiefen Blick ins Glas offensichtlich sanktionslos Fehler begehen durfte, nahm ich mir vor, später auch die eine oder andere Gelegenheit zum Trinken wahrzunehmen. Die besondere Tragik liegt darin, dass von allen meinen Plänen ausgerechnet dieser derjenige werden sollte, den ich am konsequentesten umsetzte.
Als ich dann soweit war, empfand ich es als relativ praktisch, dass die Neigung zum Alkohol sehr gut korrespondierte mit einer Jugendbewegung, zu der ich mich etwa zur gleichen Zeit begann hingezogen zu fühlen.
Um Punk zu sein, musste nichts perfekt sein: Weder musste man perfekt tanzen noch irgendein Instrument virtuos beherrschen können. Man musste eigentlich gar nichts gut, geschweige denn perfekt können. Nicht einmal gut aussehen musste man. Genau genommen durfte man nicht nur nicht perfekt aussehen müssen, sondern man durfte sogar ausgesprochen schlecht aussehen, ohne das Punk-Sein damit zu verwirken.
Das einzige, was man als Punk wirklich perfekt können musste, war Saufen.
Zumindest galt das für die Punkfraktion, die sich bis Ende der Achtziger Jahre in Deutschland als dominante durchgesetzt hatte. Eine Situation, die perfekt für mich gemacht war.
Dabei habe ich unter all den Punks und anderen Wahnsinnigen am Ende mehr zwischen allen Stühlen gesessen als mir lieb sein durfte: Auf der einen Seite waren die, die so etwas wie Punk niemals benötigt hätten, sondern auch ohne Punk nichts auf die Kette bekommen, die Nicht-Perfektion des Punk als willkommene Ausrede für ihre Unzulänglichkeiten aber nur zu gern in Anspruch genommen haben. Auf der anderen Seite diejenigen, die ihre wilde Seite auslebten und juvenile Grenzübertritte unter dem Label Punk laufen ließen, während sie nebenher ihre perfekte Karriere offensiver planten als sie zuzugeben bereit waren.
Die eigentliche Tragik besteht allerdings darin, dass ich dieses System Alkohol selbst wieder nach dem Prinzip „Ganz oder gar nicht“ ausgelebt habe, das aber gesundheitlich betrachtet nur ein paar wenige Jahre gut gehen konnte, wollte ich nicht mit Mitte 30 bereits an einem Punkt sein, an dem gar nichts mehr perfekt ist, sondern der komplette Körper in Grund und Boden gewirtschaftet wurde. Außerdem merkt man ja irgendwann, dass der Plan, sich die Unvollkommenheit seiner selbst und seiner Mitmenschen allabendlich schönzutrinken, selbst nicht perfekt ist. Wenn es nämlich etwas gibt, das seinem Umfeld noch mehr auf den Zeiger geht als ein Perfektionist, dann ist das nämlich ein frustrierter Trinker. Vordergründig ergänzt sich das ganz gut, denn umgekehrt geht dem Trinker prinzipiell jeder auf den Senkel, der ihn auf die problematischen Aspekte seines Alkoholkonsums hinweist. Aber auf Dauer geht es eben irgendwann an die Substanz, gerade deswegen ständig perfekt sein zu müssen, weil das Umfeld jeden Fehler, den man begeht, auf das Saufen zurückführen würde und nicht darauf, dass man wie jeder andere Mensch eben nicht perfekt ist.
Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt: Entgiftung, Reset in vielen Lebensbereichen, und so reagiere ich seit 20 Jahren an manchen Tagen wieder extrem dünnhäutig auf den Umstand, dass niemand perfekt ist und man im Grunde nur von Amateuren umgeben ist. Und ich muss damit leben lernen, dass ich keine vernünftigen Antworten auf Fragen erhalte, die außer mir mutmaßlich niemand stellt: Kann man das nicht so herstellen, dass es länger als sechs Wochen hält? Warum blinkt der Simbel jetzt? Gibt es das auch in meiner Größe? Warum überlässt der Vermieter die Betriebskostenabrechnung nicht einem Profi? Warum blinkt der Simbel jetzt nicht? Ist das noch Punk? Gibt es hier im Haus auch irgendwen, der weiß, was er tut? Hat man wirklich niemand besseren gefunden, der auch gern Verkehrsminister geworden wäre? Wer hat das Klopapier verkehrt herum auf den Abrollbügel gesteckt? Ist der Text jetzt endlich fertig, oder zuckt der noch?
Nein, ich glaube, der ist jetzt gut.