Im Rückspiegel betrachtet war mit Sicherheit nicht jede Entscheidung in meinem Leben besonders glücklich getroffen. Jedoch bin ich in Zeiten wie diesen einigermaßen erleichtert, nicht auch noch zu Filmen oder Serien eine ausgeprägte Leidenschaft entwickelt zu haben. Wo der ganz normale Wahnsinn, der mich tagtäglich umgibt, für sich genommen schon ausreichen würde, um zwei weitere Leben zu ruinieren, wäre es nicht auszuhalten, wenn sich dazu noch die ständige Sorge gesellte, irgendjemand könne mir durch Preisgabe wesentlicher Details aus kinematografischen Produktionen, welche ich erst noch vorhatte anzuschauen, vorsätzlich oder fahrlässig den Spaß an denselben verderben.

Natürlich würde ich dieses Desinteresse gern als das Ergebnis einer rationalen und weitsichtigen Entscheidung darstellen. Wenn ich es aber den Tatsachen entsprechend als zufällige Fügung des Schicksals charakterisiere, erklärt sich auch meine spontane Reaktion auf die um sich greifende Angst vor Spoilern: Unverständnis.

Und wie so oft, wenn ich etwas nicht verstehe, finde ich es kindisch.

Diese Einordnung könnte auch daran liegen, dass ich meine erste Erfahrung mit Spoilern meinem früheren Mitbewohner verdanke, dem man bestimmt kein Unrecht tut, wenn man ihn als einen zu damaliger Zeit einigermaßen unreifen Zeitgenossen beschreibt.

Jener Mitbewohner also verbat es sich, dass ich ihm gegenüber an einem Samstagnachmittag Ergebnisse oder sonstige Details des gerade beendeten Bundesligaspieltages andeute, bevor er die Zusammenfassung des Spieltages am Abend fertig geschaut hat.

Zwar bin ich mir sehr sicher, dass es weniger an meinem geistigen Unvermögen gelegen hat, aber im Ergebnis läuft es auf das Gleiche hinaus: Ich habe es – damals wie heute – nicht verstanden. Die Spiele waren schließlich vorbei, die Ergebnisse demnach bekannt. Als Fan in dieser Situation dennoch zu warten, bis man Stunden später einen aufgewärmten Zusammenschnitt der besten Szenen serviert bekam, hat doch mit Sport nichts mehr zu tun.

Im Zeitalter von Push-Benachrichtigungen kann man 20 Jahre später die Angst vor Spoilern unter anderen Vorzeichen erfahren: Man muss schon einiges an Energien aufwenden, um noch nicht erwünschte Informationen auch noch nicht zu erhalten. Es darf getrost als Treppenwitz bezeichnet werden: Ausgerechnet Angehörige einer Generation, die den Zustand offline überhaupt nicht mehr oder höchstens als unbedingt zu vermeidendes Katastrophenszenario kennt und die sich die aktuelle Temperatur lieber von einer App abliest anstatt vor die Tür zu treten und zu spüren, wie warm oder kalt es ist – ausgerechnet Angehörige dieser Generation unterwirft sich freiwillig dem Härtetest der Internet-Abstinenz, sobald ein Film oder eine neue Staffel einer Serie zu sehen ist, man selbst aber noch keine Gelegenheit zum Ansehen hatte. Nur um bloß nicht vorab darüber informiert zu werden, wer beispielsweise in Serie XY alles stirbt. Als ob nicht sowieso früher oder später alle sterben. In besagter Serie wie im echten Leben.

Und weil sie in ihrer Panik Unterhaltungen abwürgen oder das Radio leise machen, sobald sie auch nur den Verdacht haben, es könnte etwas gesagt werden, was sie nicht wissen wollen, gehen sie den meisten anderen Menschen einigermaßen auf die Nüsse.

In Hongkong wurde ein Mann verprügelt, weil er die in der Schlange vor dem Kino stehenden durch lautstarkes Schildern von Details aus dem Film provoziert hatte. Klar mussten schon Leute für weniger angezählt werden. Andererseits gibt es sicher edlere Gründe, jemandem ein Klotz zu schicken. Irgendwann wird noch einer getötet mit der Begründung, er wusste zu viel. Entsprechende Drohungen, Festnahmen und dazu gehörende Schulschließungen hat es tatsächlich schon gegeben. Und manch einer wünscht sich bereits die gute alte Zeit zurück:

Solange das klassische Fernsehen dominierte und man sich noch nicht jederzeit überall alles anschauen konnte, begann ein Film, eine Serie, eine Show oder sonst irgendeine Sendung zu einer bestimmten Zeit. Wer eine Folge der Lindenstraße verpasst hat und zu blöd, zu faul oder zu vergesslich war, den Videorekorder zu programmieren, war ohne Wiederholung und Mediathek im Grunde sehr dankbar, wenn jemand ihm erzählen konnte, was passiert war, damit er sich nicht am nächsten Sonntag den Lauf der Dinge erst erschließen musste.

Bei Kinofilmen waren es gerade die Spoiler, die uns eine regelrechte Vorfreude beschert hatten. Die uns als besten Teile geschilderten Szenen konnten wir kaum abwarten, sie selbst zu sehen. Wer es nach sechs Wochen immer noch nicht ins Kino geschafft hatte, wartete bis der Film eineinhalb Jahre später im TV gezeigt wurde und hatte ansonsten keine Schwierigkeiten damit, dass ihm in der Zwischenzeit schon alles Wichtige und Unwichtige über den gewünschten Film erzählt wurde.

Dass in Drei Amigos in einer Szene versehentlich der unsichtbare Krieger erschossen wird, war Allgemeinbildung. Genauso verhielt es sich mit dem Kampf der Ritter der Kokosnuss gegen den Schwarzen Ritter, der selbst dann noch dachte, die Auseinandersetzung gewinnen zu können, als ihm bereits alle Gliedmaßen abgetrennt waren. In beiden Fällen (und etlichen anderen) sorgte dieses Wissen mitnichten dafür, dass wir gähnend darüber hinweg sahen. Im Gegenteil ging das Gejohle schon los, als wir wussten: Jetzt! Gleich! Ist es so weit!

Dass hier gerade Äpfel mit Birnen verglichen werden, mag ich gar nicht abstreiten. Mir geht es um das Aufzeigen von Möglichkeiten. Wir haben das stressfrei überlebt. Wir haben niemandem eine Schelle verpassen müssen, nur weil er uns vor dem Kino mit Inhalten des Films zugetextet hat. Wenn wir jemandem eine Schelle verpassen mussten, hatte das triftige Gründe. Aber ich hatte noch nie das Gefühl, mir fehlt etwas, weil ich vorab zu viel über einen Film wusste. Und ich hatte noch nie schlaflose Nächte, weil ich Angst hatte, jemand könne etwas verraten.

Ich war andererseits wie erwähnt nie ein Filmfan. Kann mich also nur bedingt hineinversetzen. Ich habe im Zuge der Beschäftigung mit diesem Thema – teilweise – nachvollziehen können, dass es bestimmte Filme gibt, die ein unvoreingenommenes Konsumieren erfordern. Was ich nicht nachvollziehen werde können, ist die Hysterie. Wenn Einzelheiten aus einem Film oder einer Serie in den Rang eines Staatsgeheimnisses erhoben werden, geht das alles manchmal zu weit.

Es bleibt ´mal wieder das Übliche: Solange das noch Thema ist, kann es den Leuten nicht wirklich schlecht gehen. Niemand wird sterben, weil er Dinge erfahren hat, die er nicht kennen wollte.

Da ist der ganz normale Wahnsinn um uns herum schon eher geeignet, jemandes Leben zu zerstören.