Aufzeichnungen aus der Wirrnis des Alltags

Monat: November 2020

Es gibt viel zu tun

Hauptsache, der Bub hat Beschäftigung. Immer mehr Menschen erstellen sich im Kampf gegen ihre Langeweile eine sogenannte bucket list, im Deutschen sinngemäß eine Löffelliste. Auf ihr werden Dinge fixiert, die man noch zu erledigen gedenkt, bevor man den Löffel abgibt. Der Hype um solche Listen begann wohl mit dem Film „Das beste kommt zum Schluss“, der von zwei dem Tod geweihten Patienten erzählt, die sich kurz vor knapp noch drauf und dran machen, ein paar viele letzte Wünsche zu erfüllen. Man kann allerdings eine Löffelliste auch dann erstellen, wenn man noch gar keine Ambitionen hat, demnächst das Zeitliche zu segnen. Wenn´s hilft, das Leben besser in den Griff zu bekommen, haben ja am Ende alle etwas davon.

Ich hatte mir den Film auch vor einiger Zeit auf DVD gekauft und mir das Vorhaben, diese zu gegebener Zeit anzusehen, auf meine bis dato nur in meinem Schädel existente Liste relativ weit nach oben gesetzt. Alsbald habe ich den Titel verliehen und nie zurückbekommen. Mein bislang nicht uneingeschränkt positives Verhältnis zu solchen Listen könnte mit diesem Vorgang zusammenhängen, aber auch anderen Ursprungs sein. Wer weiß das schon so genau beziehungsweise wer will das schon so genau wissen? Jedenfalls bräuchte ich persönlich eher eine Liste mit Angelegenheiten, die ich besser nicht mehr mache. Zum Beispiel eben Dinge an Freunde zu verleihen, die nicht einmal mehr wissen, dass sie noch im Besitz weiterer Gegenstände aus meinem (ehemaligen) Inventar sind. Es sei denn, es handelt sich bei diesen Dingen um Tonträger der Kelly Family, alte Reifen, die Ehegattin oder sonstige Sachen, die ich ohnehin irgendwann loswerden wollte.

Zumindest hat sich zwar besagte DVD niemals in meinem Player gedreht, dafür seitdem aber die Erde diverse Male, ohne dass ich in all dieser Zeit jemals auf den Gedanken gekommen wäre: Hätte ich eine Löffelliste, wäre alles viel besser.

Es ist ja auch nicht so, dass mein Lebenslauf bis jetzt ein leeres Blatt Papier wäre. Meine größten Erfolge chronologisch sortiert: Abitur, Diplom, Staplerschein. Das toppt zwar nicht den dritten Platz beim Christbaumwerfen, den meine Exgattin einst errungen hatte. Dafür habe ich in so gut wie jedem Verein oder anderen Zusammenhang, in dem ich mehr als einmal bei einer Zusammenkunft war, eine Funktion übernommen oder sagen wir besser übernehmen müssen. Ich habe mehrere Male politische Reden geschrieben und selbst vorgetragen und damit mindestens einmal dazu beigetragen, dass öffentlich darüber debattiert wurde, weshalb ausgerechnet dieser Redner eingeladen wurde. Ich habe ein Gewerbe angemeldet und dabei neben für meine Verhältnisse viel Geld viel wertvolle Lebenszeit verloren, die ich für andere Punkte auf meiner nicht vorhandenen Liste wahrlich besser hätte nutzen können. Ich habe Wände mit Parolen besprüht und mich gefreut wie ein kleines Kind zu Weihnachten, als ich tags darauf den Nazi-Tankwart gesehen habe, wie er mein Werk überstreichen musste. Als Jan Aage Fjörtoft im Mai 1999 seinen Übersteiger performte, stand ich im Block L und hielt kurz die Luft an, um Sekunden später die Erfahrung zu genießen, was Ekstase heißt. Ich habe Pete Townshend unplugged im autonomen Zentrum spielen sehen und The Offspring in Hanau, als sie noch die unbekannte Supportband von No FX waren.

Nichts davon hat jemals auf einer Liste der unbedingt zu erlebenden Dinge gestanden. Demnach kann man theoretisch auch ohne gut leben. Mit Liste hätte ich andere Dinge erlebt, aber ob das dann besser oder schlechter geworden wäre, kann niemand sagen. Deswegen: Hört auf, immer diese Listen auf einen Sockel zu heben. Mag sein, dass das Thema Löffelliste ein schönes Thema für einen Blogeintrag ist, aber niemand wird ein besserer Mensch, weil er eine bucket list führt.

Falls man sich dennoch dazu entschließt, eine solche Liste zu führen, wird man schnell merken, dass es nicht allein von der Lebenserwartung und dem allgemeinen gesundheitlichen Zustand, sondern nicht unwesentlich auch von der Fülle des Geldbeutels abhängt, welche Punkte man noch wird abhaken können. Da sich nicht zuletzt auch Interessen verschieben können, wird man gelegentlich Punkte von der Liste streichen können, ohne dass man sie vollendet hat. Und damit die Entscheidung leichter fällt, welche Punkte das sein könnten, habe ich wieder einmal wertvolle Vorabrecherchen getätigt und präsentiere:

5 Punkte, die auf Deiner bucket list getrost fehlen dürfen

1. Eine Barttransplantation

Ich warte auf das Zeitalter, in welchem der moderne Mann endlich die richtigen Antworten auf die Frage gibt, wie unlogisch es eigentlich ist, sich im Gesicht Haare zu wünschen. Dass Gestrüpp an Kinn und Wange äußerst lästig sein können, weiß man doch nicht erst seitdem wir angehalten sind, in Gesellschaft Mund und Nase zu bedecken. Selbst auch nicht mit dem üppigsten Wuchs ausgestattet, kann ich mit gewissem zeitlichen Abstand sagen, dass unvollständige Gesichtsbehaarung meiner Männlichkeits- wie Persönlichkeitsentwicklung im weiteren Verlauf nicht allzu sehr geschadet hat. Sagt jedenfalls meine Mutter. Wer also gerade mit dem Gedanken an eine Gesichtsaufforstung spielt, sollte sich deswegen keine grauen Haare wo auch immer wachsen lassen.

2. Mit Delfinen schwimmen

Kann man machen. Größeren Nervenkitzel verspricht aber das Tauchen mit Haien. Georgina Harwood hat dies getan. Was es so besonders macht, ist allerdings nicht etwa ein tragisches Unglück, sondern folgendes: Sie tat das wenige Tage nach ihrem 100. Geburtstag. An besagtem Ehrentag selbst hatte sie besseres zu tun: einen Fallschirmsprung. Es war das dritte Mal in ihrem Leben, dass sie sich aus einem Flugzeug gestürzt hat; ihr erstes Mal war 2007 mit zarten 92 Jahren. Das hinterlässt einen größeren Eindruck als es das Schwadronieren eines 18-jährigen Möchtegern-Influencers über Löffellisten jemals könnte.

3. Der Fallschirmsprung

Mit dem Fallschirmsprung wurde im Absatz vorher auch schon der Klassiker schlechthin angesprochen, der auf keiner Löffelliste fehlen darf. Ich hatte bis heute nicht das Bedürfnis, einen zu absolvieren, aber was nicht ist, kann ja noch werden. Vermutlich werde ich allerdings erst dann reif für einen Sprung, wenn ich keine Angst mehr vorm Sterben habe. Deshalb: Folgt diesem Blog! Denn wenn es irgendwann einmal so weit ist, wird man es hier zuerst erfahren.

4. Reiseklassiker

Der Helicopterflug durch den Grand Canyon klingt nicht nur massiv beeindruckender als die Alpaka-Tour durch den Odenwald, sondern hat vermutlich in der Tat einen besonderen Erinnerungswert. Unbestritten ist auch Hawaii attraktiver als der Bodensee. Das Problem bleibt allerdings: Möchte man der übernächsten Generation statt haufenweise Wüsten auch noch sehenswerte Flecken hinterlassen, sollte man allmählich ´mal auf den Trichter kommen, dass man den eigenen Aktionsradius vielleicht doch irgendwann ´mal etwas einschränkt anstatt weiterhin viermal im Jahr in Urlaub zu jetten.

5. Der Halbmarathon

Bevor man irgendwann mit Mitte Vierzig feststellt, dass als größte sportliche Herausforderung höchstwahrscheinlich nur Dart übrigbleibt, ist ein auf Bewegung setzender Lebenswandel natürlich in jeglicher Hinsicht vorzuziehen. Aber muss man es deshalb immer gleich übertreiben? Kann man nicht einfach regelmäßig mit dem Rad seine 10 Kilometer zur Arbeit fahren? Wer das tagtäglich über Jahre hinweg macht, ist doch die coolere Sau als derjenige, der sich einmalig ein halbes Jahr auf etwas vorbereitet hat und danach 15 Jahre lang seine Umgebung mit seinem „Finisher“-T-Shirt nervt.

Ich bin bei diesem Thema natürlich auch befangen, da ich in meinem bisherigen Leben nicht direkt als Sportskanone aufgefallen bin. Wenn man 13 lange Jahre nicht über ein „befriedigend“ im Schulsport hinausgekommen ist, ist Schießen die richtige Entscheidung, wenn man den Eindruck vermitteln möchte, dass man sich überhaupt sportlich betätigt. So (aber eigentlich auch aus jeder anderen Richtung) betrachtet ist Schießen auch nur der große Bruder von Dart.

Ich weiß nicht, wie ich jetzt darauf komme, aber falls ich einmal jemanden erschieße (und sei es nur mich selbst, wenn ich noch einmal eine derart schlechte Überleitung verfasse), würde ich mit etwas Glück sozusagen nebenbei noch einen weiteren wichtigen Wunsch erfüllen: einmal auf der Titelseite einer bedeutenden Zeitung zu landen. Man muss dann natürlich mit der Konsequenz leben können, dass diese eine Aktion die Verwirklichung anderer Ziele tendenziell verunmöglicht. Denn auch wenn diese vergleichsweise bescheiden daherkommen –

Ich habe noch etwas vor

So habe ich Besuche im Miniatur Wunderland sowie einer Eisskulpturen-Ausstellung neben der bereits angesprochenen Alpaka-Tour auf meinem imaginären Zettel stehen. Ich war zunächst selbst etwas erschrocken darüber, wie wenig ich noch vom Leben erwarte. Doch es müssen nicht im Wochentakt Knaller der Güteklasse Niagarafälle auf dem Programm stehen. Vielleicht sehe ich das in zehn Jahren anders, so wie ich es mir vor fünf Jahren nicht vorstellen konnte, jemals ein Leben ohne Luftballons führen zu können. Vielleicht beiße ich mir eines Tages in den Arsch, dass ich mir keine höheren Ziele gesetzt habe, aber vielleicht ist es auch genau andersrum und ich sehe mich eines Tages darin bestätigt, dass die kleinen Dinge die wirklich großen Momente sind. Und da wir gerade von wirklich großen Momenten sprechen: Weiterhin gute Texte schreiben und die besten davon regelmäßig auf Bühnen vortragen und die Leute damit so gut unterhalten, dass andere Leute sich auf ihre Löffellisten schreiben: Einmal Micky auf der Bühne sehen. Das wäre nochmal etwas, wofür es sich morgens aufzustehen lohnt.

Falls mich irgendjemand bei diesem Vorhaben unterstützen kann und will – gerne!

Die unendliche Geschichte

Kleine Ursache, große Wirkung: Im Jahr 2001 sank in Deutschland der Pro-Kopf-Verbrauch an Bier gegenüber dem Vorjahr von 125,6 auf 115,3 Liter. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es die Statistik dermaßen in die Knie zwingt, wenn ich mit dem Saufen aufhöre. Da behaupte nochmal jemand, als Einzelner könne man in diesem Land sowieso nichts bewirken.

Die ersten zehn Jahre sind die schwersten. So vernahm ich es in der Selbsthilfegruppe und nahm mit diesem Hinweis zumindest eine brauchbare Sache daraus mit: Abstinent zu leben ist kein Spaziergang. Inzwischen bin ich sogar 20 Jahre trocken. „Darauf einen Korn“, möchte ich mir zurufen, bevor mir wieder einfällt, dass ich weder der erste noch der einzige war, der diesen Gag in den letzten 20 Jahren gebracht hat.

20 Jahre. Zur besseren Einordnung: Bier gab es zu jener Zeit noch nicht in Plastikflaschen und erst recht nicht mit Schraubverschluss. DJ Ötzis Hit „Anton aus Tirol“ wurde vor 20 Jahren veröffentlicht. Eine gewisse Laura Müller wurde im Sommer dieses Jahres geboren, aber noch vermochten sich selbst die kühnsten Trendforscher nicht vorzustellen, dass zwei Jahrzehnte später „Influencerin“ ein Beruf geschweige denn überhaupt eine gesellschaftlich relevante Tätigkeit werden könnte. Immerhin: Der Hype um die Anfang desselben Jahres gestartete erste Staffel von „Big Brother“ gab einen ersten Fingerzeig, dass es künftig leichter als jemals zuvor möglich sein würde, ohne nennenswerte Fähigkeiten Berühmtheit zu erlangen.

Angesichts dieser kulturellen Großwetterlage hätte es mir im Grunde niemand wirklich übelnehmen können, wenn ich einfach weiter gesoffen hätte.

Andererseits ging es ja gerade darum, eben nicht mehr wie in den Jahren zuvor jeden noch so sehr an den Haaren herbeigezogenen Grund gelten zu lassen. Die fetten Jahre waren vorbei.

Eine der ersten Lektionen, die ich lernen durfte: Wie gut Alkohol beim Einschlafen hilft, war mir nicht bewusst, solange ich allabendlich in so ziemlich jeder nur erdenklichen Position und vor allem auch ohne größere Rücksicht darauf, wo genau ich mich gerade befand, teils ohne größere Vorankündigung wegratzen konnte. Sieben bis acht Feierabendbiere helfen definitiv zuverlässiger, ein gesundes Maß an Bettschwere zu erreichen, als andere Hausmittel wie Autogenes Training, Schäfchenzählen oder Wichsen.

Ich benötigte einige Zeit, bis ich eher zufällig auf ein simples, aber effektives Mittel stieß: Einfach ´mal wieder ein schlechtes Buch lesen. Genre ist egal, Hauptsache langweilig. Ich möchte in diesem Rahmen eigentlich keine Werbung machen, aber Ludo Kaisers Regionalkrimi „Seipels Geheimnis“ hat diesen Zweck seinerzeit voll und ganz erfüllt.

Solange man sonst keine Sorgen hat. Ich vernehme diese Zwischenrufe, merke dazu aber an: Die Probleme bei des Alkoholikers Trockenübungen fangen ja bereits ganz woanders an, nämlich schon bei der Vorbereitung zum Schlafengehen: Man sieht sich eine beliebige Show im Fernsehen an. Irgendwann im Verlauf der Sendung kommt ein Programmpunkt, dem man nicht allzu großes Interesse schenkt. Noch vor wenigen Wochen hatte man bei solcher Gelegenheit einen der mit erhöhtem Biergenuss zwangsläufig einhergehenden regelmäßigen Toilettengänge vorgenommen und auf dem Rückweg die logistische Meisterleistung vollbracht, die leere Flasche gegen eine volle umzutauschen. Die Erde muss sich schließlich weiterdrehen. Nach überstandener Entgiftung entfällt plötzlich im schlimmsten Fall beides. Infolgedessen sieht man Programminhalte, auf die man gut und gern hätte verzichten können. Wenn man weiß, dass vor rund 20 Jahren auch die Karriere eines hyperaktiven Berliner Komikers namens Mario Barth Fahrt aufnahm und dieser also sehr viele Fernsehauftritte hatte, bekommt man eine Ahnung, dass der auf diese Weise entstandene psychische Schaden unter Umständen nur schwer wiedergutzumachen ist.

Genug gejammert – kommen wir zu den Vorteilen: Weil das durchschnittliche Erstheiratsalter hierzulande jenseits der Dreißig liegt, wurde ich bei den allermeisten Junggesellenabschieden in meinem Umfeld als trockener Alkoholiker schon nicht mehr berücksichtigt. Seinerzeit fand ich nicht immer gerecht, nicht mehr zur Zielgruppe solcher Veranstaltungen zu gehören. Im Rückblick geht das aber wohl in Ordnung. Schließlich laden diese größtenteils misslungenen Versuche, alte Zeiten „ein letztes Mal“ aufleben zu lassen, zum Alkoholmissbrauch quasi ein. Betroffene Trauzeugen berichten, dass sie angesichts der meisten Vorschläge zur Gestaltung dieses Tages bereits in der Planungsphase ein erhöhtes Bedürfnis nach Alkohol verspürt hatten. Andere stellten ernüchtert fest: Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr. Das Missverständnis scheint darin zu bestehen, dass viele Teilnehmer an solchen Veranstaltungen die Ansicht vertreten, das freiwillige Abgeben der persönlichen Würde ginge schon irgendwie in Ordnung, wenn sich nur angemessen viele Leute daran beteiligen.

Wenn der Erfolg einer solchen Zusammenkunft üblicherweise daran gemessen wird, wie früh der Bräutigam den Verlust der Muttersprache zu beklagen hat, musste mein eigener Junggesellenabschied zwangsläufig etwas aus dem Rahmen fallen. Meinen Leuten musste das selbstredend nicht erst umständlich erklärt werden, warum das so ist. Mit den Erwartungen der Außenstehenden haben wir jedoch mit dieser Vorgehensweise maximal gebrochen. Allein dafür hat sich der Aufwand am Ende doch gelohnt, auch wenn es an jenem Tag Situationen gegeben hat, in denen mancher von uns die Luft anhielt: Wenn mein gelegentlich zur leichten Reizbarkeit neigender Bruder jetzt die Kontrolle abgibt, könnte die Stimmung kippen und das alles wird am Ende doch nur ein stinknormaler Junggesellenabschied. Doch Ende gut, alles gut – der Tag war gelungen, aber verlangt auch nicht zwangsläufig eine Wiederholung, selbst wenn ich nach überstandener Scheidung theoretisch nochmal die Option ziehen könnte.

Ende gut, alles gut. Nach 20 Jahren könnte man versuchen, eine solche Phrase auch für das gesamte Unterfangen Abstinenz zu benutzen. Aber auch wenn außer der Wurst alles ein Ende hat – erreicht ist dieses Ende eben auch nach 20 Jahren noch nicht. Doch selbst wenn eine Schlussstrichmentalität in dieser Situation fahrlässig wäre, kann man sich wenigstens auf die Formel einigen: Eine gute Ausgangssituation für die nächsten 20 Jahre habe ich mir damit immerhin erarbeitet.

In diesem Sinne: Prost!.

Der Flohmarkt des Lebens oder: Mein optimiertes Selbst

Wenn es nach mir ginge, hätten Trends wie Selbstoptimierung lediglich die Bedeutung, die sie verdienen, und nicht die, die sie heute haben. Es hat ja auch eine ganze Weile ohne funktioniert: Solange das Thema überhaupt niemanden wirklich interessierte, wähnte ich mein Selbst ausreichend optimiert, indem ich im Rahmen meiner Möglichkeiten permanent dazulernte. Über Gott (weniger) und die Welt (schon mehr). Und weil ich darüber viel lernte, weiß ich natürlich, dass es eben leider viel zu selten nach mir geht.

Bis heute empfinde ich das als extrem ungerecht, lernte allerdings auch, und das sogar schon recht früh: Weder Gott noch die Welt interessieren sich für mein Gerechtigkeitsempfinden.

Ich würde nicht so weit gehen, zu behaupten, die Welt wäre außer für mich auch generell eine gerechtere, wenn es denn nur öfter nach mir ginge. Aber wenigstens, so es nach mir ginge, träfe man seltener auf Zeitgenossen, die ganz gut beraten wären, wenigstens einen Teil ihrer Aufwendungen fürs Fitness-Studio in die regelmäßige Lektüre einer Tageszeitung zu investieren. So offenbart sich bereits recht früh bei der Beschäftigung mit dem Thema das Kernproblem: Wer bitte will entscheiden, welche Tätigkeit im einzelnen konkret eine Optimierung des Selbst bedeutet und welches weniger oder gar nicht? Es fehlt ein allgemeingültiger Standard zur Beurteilung der Frage: Optimierst Du noch oder verschlimmbesserst Du schon?

Selbst ein und dieselbe Person wird im Einzelfall zu dieser Frage unterschiedliche Antworten geben, sobald etwas Zeit dazwischen liegt. Zum Beispiel hat man in meiner Jugend bei einem angehenden Mann Optimierungsbedarf erkannt, wenn dieser bereits nach der achten Runde Halbliterbier durch technischen K.O. aus dem Geschehen ausschied. Mit dem Abstand von rund dreißig Jahren würde ich diese Sichtweise schlicht als nicht mehr angemessen bezeichnen.

Es leuchtet unmittelbar ein, dass die Trennschärfe des Begriffs leidet, wenn unter ihm so verschiedene Dinge wie Entspannungstechniken, Wirkungskompetenz oder sportliche Betätigung zusammengefasst werden. Selbstoptimierung ist eigentlich der Flohmarkt des Lebens: Irgendwas findet jeder, und was dem einen gefällt, würden andere mit der Kneifzange nicht anfassen. Nicht objektive Kriterien, sondern individuelle Werte sind der Maßstab dafür, ob der Effekt einer Selbstveredelungsmaßnahme als positiv einzustufen ist.

Bei aller Unterschiedlichkeit habe ich ein vereinendes Element beobachten können: Selten wird der ganze Aufwand als Selbstzweck betrieben, viel häufiger dafür, um irgendwen zu beeindrucken. Gewiss nicht rein zufällig erstarkte mein Interesse an persönlicher Veränderung just zu dem Zeitpunkt, als ich mich einige Monate nach der Trennung von der Mutter meines Sohnes wieder in die Lage versetzen wollte, andere Menschen, hier vornehmlich weiblichen Geschlechts, von meinen manchmal eigen-, meist aber einzigartigen Eigenschaften zu überzeugen.

Ein wichtiges Ergebnis vielleicht vorweg: Nicht zwangsläufig wird das Versprechen eines gesteigerten Sozialprestiges eingelöst, bloß weil man sich eine Weile mit dem beschäftigt hat, was wesentlich ist, nämlich sich selbst. Wie so oft im Leben reicht eine gute Absicht nicht immer aus, auch ein gutes Resultat zu erzielen.

Das war alles nicht optimal, aber ein Anfang. Erstmals wurde mein Handeln entkoppelt von der Aneinanderreihung von Zufällen, die mein gut 40-jähriges Leben bis dahin bestimmt hatten. Wenigstens etwas zielgerichteter als bisher sollte es ab diesem Punkt weitergehen. Denn die wichtigste Erfahrung des vorangegangenen Jahrzehnts war: Die Wahrnehmung, ob jemand mit seinem Handeln einen eminent wichtigen Beitrag für das Zusammenleben leistet, hängt nur am Rande damit zusammen, ob jemand tatsächlich einen eminent wichtigen Beitrag für das Zusammenleben leistet, aber in erster Linie davon, dass dieser Jemand behauptet, mit seinem Tagwerk einen eminent wichtigen Beitrag für das Zusammenleben zu leisten. Klar, dass ich da nicht mithalten wollte. Allerdings hat diese meine Verweigerungshaltung mit dazu geführt, im Ansehen meiner angeheirateten Familie zum Schluss sogar noch unter dem Hund zu stehen. Das sollte mir nie wieder passieren. Folgerichtig bestand meine dringendste Aufgabe in einem Crashkurs in Selbstmarketing. Dies korrespondierte auch mit der Überzeugung, dass mein Selbst eigentlich auch vorher ganz okay war und höchstens meine Kommunikation über dieses Okay-Sein optimierungswürdig ist.

Also arbeitete ich mir in einem mehrere Wochen währenden, aber sehr aufschlussreichen Prozess nach und nach meinen Markenkern heraus und richtete anschließend jegliches Handeln danach aus, ob es „in meine Marke einzahlt“.

Viele Konzepte, auf die ich stieß, blieben mir fremd. Das lag natürlich zum einen an den Konzepten selbst, immer häufiger aber auch an den Menschen, die diese verkaufen wollten. Wenn mehr Anstrengung darauf verwendet wird, Kompetenz auszustrahlen anstatt sie zu erlangen, ist das Thema durch. Ansonsten probierte ich mich aber einmal quer durch den Garten: Mehr Charisma – kein Problem! Selbstvertrauen lernen – ja bitte! Nie wieder Aufschieben – fange ich gleich nächste Woche damit an. Berührungsängste gab es wenig, aber mit einer Sache brauchte mir von vorneherein niemand kommen: Der ganze Themenkomplex rund um Kraftsport und Bodystyling. Das bedeutete mir einerseits zu viel Aufwand und hätte mich andererseits im Authentizitäts-Ranking um einiges zurückgeworfen. Darüber hinaus hätte es nicht in meine Marke eingezahlt.

Es ist nicht so, dass ich gegen Fitness und einen halbwegs gesunden Körper irgendein vernünftiges grundsätzliches Argument vorbringen könnte. Jedoch fehlt mir, wenn man bei dem größeren Anteil der Aktiven die Motive für ihr Tun letztlich auf Eitelkeit herunterbrechen kann, gewissermaßen auch dort die Trennschärfe. Von einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive ´mal ganz zu schweigen.

Wenn es also nach mir ginge, würde ich bei der Abwägung zwischen intellektueller und körperlicher Betätigung die Prioritäten klar auf dem erstgenannten Punkt setzen. Dass man damit ungleich weniger Menschen beeindrucken können wird als mit einem gestählten Körper, nehme ich in Kauf. Aber wenn schon Selbstoptimierung, dann richtig. Wenn es nach mir ginge, hätten Fitness-Studios lediglich die Bedeutung, die sie verdienen, und nicht die, die sie heute haben.

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