Aufzeichnungen aus der Wirrnis des Alltags

Monat: April 2018

Generation Unauffällig

Zu den dringendsten Problemen der Menschheit gehört die Frage sicherlich nicht. Sie darf einen aber schon beschäftigen. Und sie beschäftigt jeden. Irgendwann ist man nämlich zu alt, um sich täglich mit Freunden an einem belebten Platz zu betrinken und dort Passanten anzupöbeln. Andererseits ist man definitiv noch nicht in dem Alter, in dem einem gar nichts anderes übrigbleibt als zum Bingo-Nachmittag zu gehen. Wohin also geht man mit Mitte 40, das ist die Frage.

Jenseits von bierseligen Zusammenkünften auf unbequemen Festzeltbänken auf Festplätzen – eine überbezahlte Coverband ist hierbei noch das günstigste musikalische Szenario – fallen spontan zunächst fast ausschließlich Gelegenheiten ein, bei denen man auffällt. Man weiß zum Beispiel, dass man zu alt ist, wenn man vor einem Tanzlokal von anderen Wartenden mit der irgendwo zwischen Frage und Feststellung angesiedelten Bemerkung konfrontiert wird: „…und Sie wollen sicher nur jemand abholen…“

Da ich zum Glück erstens nicht tanze und zweitens meinen erlesenen musikalischen Geschmack nicht mit der breiten Masse teile, sind solche Probleme für mich theoretischer Natur. Doch auch jenseits von Discos und Clubs gibt es Veranstaltungen, bei denen zumindest die Frage gestattet ist, ob es nicht eventuell doch unangebracht wäre, diese aufzusuchen. In der Regel sagt zwar niemand etwas. Das macht die Angelegenheit aber nicht zwangsläufig besser. Die Erinnerung an die Zeit, als ich um die 20 war, ist natürlich nicht mehr glasklar. Aber eines haben wir angesichts doppelt so alter Menschen bei solchen Anlässen bestimmt nicht gedacht: Coole Sau, ich hoffe, ich gehe in diesem Alter auch noch regelmäßig auf solche Veranstaltungen wie diese hier.

Niemand hat so gedacht. Das waren Fremdkörper. Auch wenn sie niemanden ernsthaft gestört haben, war es schon zumindest so, dass sie einem aufgefallen sind. Ernst genommen hat die jedenfalls niemand. Die konnten nur verlieren. Entweder haben sie so teilgenommen wie wir, dann waren sie peinlich. Oder sie haben sich altersgerecht verhalten. Ihre Biere geschluckt und sich ansonsten zurückhaltend verhalten. Dann waren sie etwas weniger peinlich, aber eben trotzdem noch alt. Und passten demnach dort nicht hin. Klingt hart, aber das war einfach so. Und jenseits von blöden Witzen haben wir uns zumindest in meinem Umfeld niemals ernsthaft der Frage gestellt, was wir eigentlich machen, wenn wir dereinst die Seiten gewechselt haben würden.

Etliche Jahre später ist auch diese Frage geklärt und mit dem alten Sprichwort „Was juckt es die Eiche, wenn sich die Sau an ihr kratzt“ zutreffend beschrieben. Wenn Jüngere ein Problem mit unserer Anwesenheit haben, ist es vor allem eines: ihr Problem nämlich. Sicher kommt uns dabei heute zugute, dass die Zeiten sich allgemein etwas gewandelt haben und man heutzutage vieles mehr als früher ungestraft tun darf, wenn man ein bestimmtes Alter überschritten hat. Die Möglichkeiten der Teilhabe sind größer geworden. Beispiel Konzerte: Es gibt Kapellen, die treiben seit 30 oder 40 Jahren ihr Unwesen. Oder nach 35 Jahren seit zwei Jahren wieder. Da darf man auch als alter Mann ´mal hingehen. Wenn man sich bemüht, rechtzeitig vor Ort zu sein, bekommt man je nach Örtlichkeit eventuell auch einen Sitzplatz. Sanitäter sind in aller Regel bei solchen Veranstaltungen vor Ort. Was also soll schon passieren?! Natürlich spielt bei Musikanten, die sich in noch gehobenerem Alter befinden als man selbst auch ein Stück Angst mit, einer von ihnen könne den Zugabenteil verpassen, weil er vorher das Zeitliche segnet. Da man den vollen Eintrittspreis bezahlt hat, wäre das ein unbefriedigendes Ende eines solchen Abends. Aber dabei sein ist bekanntlich alles.

Couch oder glücklich

Leider finden nicht ständig gute Konzerte genau dann statt, wenn man auch Zeit hat. Manche Künstler erdreisten sich ja sogar, unter der Woche aufzutreten. Dann können da ja nur die Jüngeren hingehen. Darüber hinaus muss natürlich auch das Finanzielle im Auge behalten werden, weil der lässige Mittvierziger zu seinen monatlichen Fixkosten inzwischen auch Ausgaben für Cremes und Medikamente zählt. Die günstige Alternative, schon früher gern gepflegt: Nachwuchsbands. Da gab es meistens was zu lästern, da gab es aber auch Riesenüberraschungen. Aber im Alter nimmt man vom Besuch weiterer solcher Veranstaltungen spätestens dann Abstand, wenn man einmal von einem anderen älteren Anwesenden angesprochen wird: „Und – bei welcher Band spielt Ihr Nachwuchs mit?“

Wenn es denn wenigstens so wäre! Theoretisch könnte es mir noch bevorstehen, zumal sich kürzlich erst herausstellte, dass Fußball bei meinem Kleinen mangels Talent schon einmal keine Option sein wird. Ganz der Papa eben. Dass aber eine schon im Ansatz gescheiterte fußballerische Karriere nicht zwangsläufig zu einer Zukunft als Rockstar führt, ist leider ebenso klar. Ich knabbere heute noch dran.

Aus all diesen bis hierhin aufgezählten Gründen besuche ich hauptsächlich Veranstaltungen mit mindestens ´mal gemischtem Publikum. Am besten solche, die wochenends stattfinden und vor Einbruch der Dunkelheit enden. Meines Erachtens die bessere Alternative als es sich komplett zuhause einzurichten. Couch, TV, Hund, Erdnüsse. Eben so, wie manch andere aus unserem Jahrgang das bereits zu einer Zeit als Erfüllung betrachteten, als wir die Wochenenden noch durchgemacht haben. Das klingt nicht nur gemütlich, das ist auch gemütlich. Falls uns doch ´mal jemand animieren will, dies oder jenes mitzumachen, können wir immer noch hanebüchene Ausreden erfinden oder kurzfristig relativ unglaubwürdig krank werden.

Probleme mit diesem Lebensentwurf ergeben sich nur dann, wenn man nicht den Rest des Lebens ohne Partner an der Seite verbringen möchte. Denn zuhause sinken die Chancen beachtlich, jemanden zu treffen, der diese Rolle erfüllen könnte. Schon deshalb empfiehlt es sich, die eigenen vier Wände hin und wieder zu verlassen. Sehr gelegentlich soll diese Methode zum gewünschten Ergebnis führen. In diesem Fall wäre es jedoch der falsche Ansatz, anzunehmen, jetzt sei alles gut, man hat einen Partner und also brauche man das Haus nicht mehr verlassen. Abwegig? In einer britischen Studie aus dem vergangenen Jahr gaben 70 Prozent der 5000 Befragten an, so zu denken. An einem sehr ähnlichen Punkt befand ich mich schon einmal, weiß daher: Als Grundlage für eine Beziehung ist eine solche Denkweise nur bedingt tauglich.

Viele Menschen sterben mit 25, werden aber erst mit 75 begraben“, urteilte schon Benjamin Franklin. Sein an sich generell auf mangelnde Bereitschaft zur persönlichen Weiterentwicklung bezogene Spruch kann in meinen Augen problemlos aufs Weggehen angewendet werden. Regelmäßige Unternehmungen bestätigen mir, dass ich noch am Leben bin. Gerade seit dem letzten Jahr habe ich eine ganze Reihe sehr unterschiedlicher Orte und Veranstaltungen aufgesucht und nur selten hinterher bereut, dass ich es getan habe. Manchmal hätte ich die besten Ausreden gehabt: Alleine macht es keinen Spaß, das Wetter ist nicht so der Hit, der Hund, der Kater, schlecht geschissen, alles zusammen, was auch immer. Und natürlich war ich auch glücklich, wenn ich später wieder bei Hund und Herd war. Aber ich war froh, weg gewesen zu sein. Mich währenddessen gar amüsiert zu haben. Mich nicht davon beeindrucken lassen zu haben, dass es unter Umständen keine meinem Alter angemessene Veranstaltung war.

Was wäre, wenn..?

Understatement. Das klingt gut, dachte ich mir noch so, als ich das bei einer Frau mit auch ansonsten aussagekräftigem Profil bei einer Online-Singlebörse unter „Ich mag“ entdeckte. Untertreibung, das ist ein schönes Stilmittel, das in meinem rhetorischen Alltag seinen festen Platz hat und auch hier in meinen Texten ab und zu Verwendung findet, wenn ein Sachverhalt unangemessen unspektakulär beschrieben werden soll.

Wenn das so ist – da schreibe ich ´mal hin!

Ich hatte glücklicherweise vorher noch zufällig herausgefunden, dass Understatement auch einen Trend beschreibt, nach dem auf das Zurschaustellen von Statussymbolen verzichtet wird, obwohl das Geld dafür vorhanden wäre.

Das hätte schnell peinlich werden können. Also musste ich mein Anschreiben anders formulieren. Musste davon schreiben, dass mir Statussymbole rein gar nichts bedeuten. Würden. Wenn ich mir welche leisten könnte. Ich musste glaubwürdig vermitteln, dass mir zwar aktuell einfach ein paar Groschen fehlen, ich meine Meinung aber auch nicht ändern würde, sollte ich eines Tages in die komfortable Lage kommen, von meinem Lageristengehalt Rolex, Porsche und Yacht finanzieren zu können. Dass ich auf einen Flugzeugträger spare, sollte ich vorerst nicht erwähnen. Um das Ganze noch einmal ernsthaft anzugehen: Ich musste dabei verschweigen, dass es eine Sache gäbe, die mit viel Geld umzusetzen mir eine Herzensangelegenheit wäre: einen eigenen Park nämlich, den ich als standesgemäß empfinden würde.

Kurzum: Ich habe die Frau nicht angeschrieben.

Da ich es gewohnt bin, in solchen Portalen auf meine Nachrichten keine Antworten zu erhalten, macht es aber streng genommen so oder so keinen Unterschied, ob einer solchen Nicht-Reaktion eine Nachricht meinerseits vorausging.Selbst wenn theoretisch natürlich die Möglichkeit besteht, dass sie mit Understatement eigentlich tatsächlich gemeint hat, was ich als erstes vermutet hatte. Aber so schnell gebe ich Leuten gewöhnlich keine zweite Chance, wenn ich mir erst ´mal ein Urteil gebildet habe. Die nur gedachte Nachricht endete also wie so manch anderes Anschreiben an andere Single-Frauen, das ich nicht abgesendet habe, weil ich mir schon im Vorfeld darüber im Klaren war, aus welchen Gründen diese Frau gerade nicht zu mir passen würde. Weil ich sie – zum Beispiel – als oberflächlich, humorlos oder FCB-Fan eingeschätzt habe. Chancen, mich vom Gegenteil zu überzeugen, haben sie auf diese Weise nicht direkt bekommen. Ich muss gestehen: Richtig durchdacht ist das alles nicht.

Aber was ist das überhaupt wieder für ein Trend?! Understatement! War es nicht seit jeher so, dass Menschen mit normal ausgeprägtem Selbstwertgefühl es sich leisten konnten, auf das Präsentieren von Haus, Auto, Boot zu verzichten? Und dass andere Menschen sich strecken und verschulden, um in Sachen Prestigeobjekte mit den Vorbildern gleichzuziehen? Es mag zutreffen, dass eine prollige Armbanduhr im Jahr 2018 kaum jemanden mehr beeindruckt. In Zeiten von smarten Armbändern schon gleich gar nicht. Dagegen ist die Verfügbarkeit darüber, was die Dinger anzeigen: Zeit nämlich, schon eher sexy. Man kann es also drehen und wenden, wie man möchte – dass Autos und anderer Schnickschnack allmählich ausgedient haben, ist noch längst kein Abgesang auf Status und seine Symbole an sich, weil gleichzeitig andere Dinge an deren Stelle getreten sind.

Weil die Welt aber eben so ist, wie sie ist,

hadere ich weiterhin damit, dass Frauen sich wenn vielleicht nicht unbedingt von Symbolen, so doch aber zumindest von Status beeindrucken lassen. Auch wenn sie beides noch so vehement leugnen. Mir als armer Sau bleiben da als Dinge, die ins Schaufenster zu stellen sich ernsthaft lohnen würden, lediglich solche übrig, welche diese Gesellschaft für ihre Loser eben im allgemeinen für solche Zwecke bereit hält. Aufrichtigkeit zum Beispiel. Oder Humor. Wozu dann ja gegebenenfalls wieder Understatement in seiner anderen Bedeutung zählt.

Die genannten Eigenschaften wenigstens können ständig mit sich geführt werden und sind insofern absolut tauglich als Statussymbol. Weil bekanntlich das schönste Zeichen nichts einbringt, wenn niemand davon etwas mitbekommt. Dieser Hinweis nur für den Fall, dass tatsächlich jemand geglaubt hat, eine Luxus-Uhr wäre aufgrund einer anderen Funktion so beliebt als der, dass sie eben immer und überall mehr oder weniger unauffällig vorgezeigt werden kann. Eine Uhr ist auf Anhieb sichtbar; eine Kreuzfahrt hingegen muss immer erst umständlich erwähnt werden. Ein übrigens häufig unterschätzter Grund für die Beliebtheit von sozialen Netzwerken, weil man dort auch für in ihnen geteilte Dinge Rückmeldung erfahren kann, von denen sonst nur wenige überhaupt etwas mitbekommen hätten.

Ohne solche Verschiebungen würde auch der Bedeutungsschwund von noblen Fahrzeugen in dieser Form nicht funktionieren.

Als jemand, der eine Karre hauptsächlich als Möglichkeit betrachtet, unbeeinflusst von Fahrplanverspätungen, überteuerten wie überfüllten öffentlichen Verkehrsmitteln sowie der mit letzterem einhergehenden Gefahr der Ansteckung mit allerlei Krankheiten zur Arbeit und zurück zu gelangen, habe ich den Fetisch Auto noch nie verstanden. In jungen Jahren schätzte man zusätzlich noch die Möglichkeit, viele Bierkästen gleichzeitig vom Getränkemarkt nach Hause zu transportieren. Etwas später sollte das Auto als Minimalanforderung groß genug sein, um sich nicht bei jedem Ikea-Einkauf ein anderes ausleihen zu müssen. Das war es dann aber auch schon, mehr musste ein Auto nicht draufhaben. Wenn man es vorzeigen will, muss es sowieso auch gepflegt sein. Arbeit, die man sich nicht machen muss, wenn man ansonsten mit sich selbst im Reinen ist. Dass ein schickes Auto ja auch nicht zwangsläufig dazu führt, dass man damit besser fährt, eher das Gegenteil zu beobachten ist, verstärkt bis heute meine Antipathie gegen das Kraftfahrzeug.

Doch nicht nur das Fahrvermögen, auch die Intelligenz des Halters steht in keinem logischen Zusammenhang mit dem Preis der Karre. Als ich mir zu Zwecken der Recherche auf youtube ein Video zum Verhältnis Status und Auto ansah, das den Titel „Warum günstig wenns auch teuer geht?“, kommentierte unter anderem der Nutzer James Bond 007: „weil Dacia lächerlich aussieht. Ich fahre Mercedes weil die Stylisten ausehen“ Sämtliche Fehler stehen original so da. Genau so wie die einzig wahre Antwort auf diesen Kommentar. Da hat dann nämlich tatsächlich einer als Reaktion auf diese Meinungsbekundung ganz trocken geschrieben: „Schade, dass kein Duden mitgeliefert wird.“

In einem Anflug von Wehmut stelle ich fest: Weil es wenig gibt, über das sich so herrlich lästern lässt wie über Autos und ihre Besitzer, würde mir am Ende womöglich sogar etwas fehlen, wenn das Auto als Statussymbol irgendwann tatsächlich ausgedient hätte.

Das ist jetzt ausnahmsweise einmal nicht untertrieben.

Stillleben

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte – niemals war diese Praxis wertvoller als in den heutigen Zeiten schwindender Aufmerksamkeitsspannen. Wenn ich mich in meinem liebsten aller sozialen Netzwerke umschaue, entdecke ich zur Zeit pro Tag etwa ein Dutzend Fotos von Grills in allerlei Variationen. Das wären dann 12000 Wörter, die zu lesen wären, wenn es eben diese Fotos nicht gäbe. Unterstellen wir bei mir eine durchschnittliche Lesegeschwindigkeit von 300 Wörtern pro Minute, habe ich 40 Minuten kostbarer Lebenszeit gespart. Anschaulicher: 40 Minuten ist etwa die Zeit, die Holzkohle benötigt, bis sie ausreichend durchgeglüht ist. Wer einmal mit leerem Magen Kohle entzündet hat und diese Zeitspanne abwarten musste, bis er sein Grillgut überhaupt auflegen konnte, weiß: 40 Minuten können sich ziehen. Insofern: ein Hoch darauf, dass man heutzutage nicht lang und breit erklären muss, wann, wo und mit welchem Grill was gegrillt wurde, sondern einfach ein Bild davon hochlädt. So wissen alle Bescheid, die es wissen wollen. Und ganz nebenbei hat man damit auch alle erreicht, die es nicht unbedingt wissen wollten.

Unabhängig von solchen Überlegungen kann es natürlich gar keinen Zweifel geben: Neben Autofahren und Jammern gibt es nur wenig, was so unzweideutig zu Deutschland gehört wie das Grillen. Grillen ist populär. Etwas, wofür man hierzulande regelrecht brennt. Schön zu beobachten gerade letztes Wochenende, dem ersten in diesem Jahr mit beständigem Sonnenschein und Temperaturen im T-Shirt-Bereich. Bestes Wetter. Gute Laune. Geschätzt alle 50 Meter qualmt ein Grill. Ob in Höfen, Parks, auf Balkonen oder Terrassen – jeder will dabei sein. Und aus dem Nichts kommt irgendwo jemand um die Ecke, der die Nase rümpft: „Angegrillt habe ich schon im Januar!“

Einer Statistik aus dem letzten Sommer zufolge sieht sich jeder Vierte als Ganzjahresgriller. Gleichzeitig gab von den Befragten jeweils gerade ein Prozent an, im Dezember oder Januar auch tatsächlich gegrillt zu haben. Im November sowie im Februar waren es satte null Prozent, im März wenigstens noch drei Prozent. Halten wir fest: Man würde gerne das ganze Jahr über grillen. Jedoch nur, sofern das Wetter dies zulässt. Hut ab! Das zeugt von ähnlicher Konsequenz wie ein Bekenntnis eines beliebigen Akteurs im Profi-Fußball zur Gültigkeit von Verträgen oder generell seinem aktuellen Verein. Dazwischenkommen kann schließlich jederzeit irgendetwas. Dass aber noch in ein und derselben Untersuchung der Anspruch von der Realität dermaßen zerlegt wird, ist auch eher selten.

Ich weiß nicht, wann genau der Begriff des Angrillens überhaupt angefangen hat, mich derart zu nerven. Mit einiger Wahrscheinlichkeit aber in etwa zu dem Zeitpunkt, als von irgendwoher einer beifallheischend „Hab´ ich schon längst“ rief, wann immer die Rede davon war. Es gibt Wintergrillen mit langjährigen Traditionen. Von Gemütlichkeit ist das zwar irgendwie ein Stück weit entfernt, das Schulterklopfen nach überstandener Tortur dafür umso größer. Ich habe damit auch überhaupt kein Problem, selbst wenn bei diesen Ereignissen ursprünglich wenigstens Teilmotiv war, dass irgendjemand irgendjemandem anderen irgendetwas beweisen wollte. Bloß sollen manche Zeitgenossen damit aufhören, so zu tun, als würden im Sommer ausschließlich Amateure grillen.

Aber gut, das sind zum Teil dieselben Leute, die einem Vorträge darüber halten können, wieso nur Holzkohle die einzig wahre Methode ist, ihr Steak zu garen, um sich dann ein gutes Stück vom Discounter aufzulegen.

Dann lieber Nudeln

Generell könnte einem der den allermeisten Grillevents innewohnende Kult um das Fleisch suspekt sein, selbst wenn man selbst nicht vegetarisch, pescetarisch oder vegan lebt. Ich kannte übrigens ´mal einen, der allen Ernstes behauptet hat, „in der Theorie“ überzeugter Vegetarier zu sein. Ich war mir nicht sicher, ob das die Angelegenheit besser oder schlechter macht und hatte es so stehenlassen. Mein Mitleid, dass er nach wie vor Fleisch essen muss, obwohl er es eigentlich besser weiß, hält sich bis heute aber in sehr engen Grenzen. Der wahre Genießer weiß ohnehin, dass beim Grillen der Speisezettel egal ist, weil das Verbringen von Zeit mit guten Freunden, noch dazu unter freiem Himmel, das ist, worauf es ankommt. Was letzten Endes bereits in unserer adoleszenten Sturm-und-Drang-Phase die besondere Attraktivität des Freiluftbrutzelns gekennzeichnet hat.

Dass darüber hinaus Grillen ein zunächst unverdächtiger Vorwand ist, sich die Kiste zuzuhauen, kam uns in jenen Jahren des öfteren zugute. Schließlich wäre kaum ein Mädchen aus unserem Umfeld freiwillig mit uns in den Park gekommen, hätten wir offen zugegeben, dass der Hauptvorsatz sein wird, die Forschungsreihe fortzusetzen, wie viele Biere in einen jungen Menschen hineingehen und zu welchen Ausfallerscheinungen es dabei kommt. Ich kann mich an einen Nachmittag erinnern, bei dem die Ausgangssituation die Frage gewesen ist, wofür überhaupt Grillanzünder benötigt würden, wenn das knappe Taschengeld doch in zwei zusätzlichen Büchsen Karlskrone sehr viel besser angelegt wäre. So schwierig würde das schon nicht werden, für ausreichend Hitze unter dem Rost zu sorgen.

Nach zwei Stunden erfolg- und würdelosen Versuchens, aus der Kohle eine halbwegs taugliche Glut zu schaffen, hatten die Frauen der Gruppe natürlich Hunger und schlugen vor, zuhause in der Pfanne weiterzu“grillen“. Wir Jungs hatten zwar schon keinen besonders großen Appetit mehr, weil uns zu diesem Zeitpunkt gut die Hälfte unseres Biervorrats bereits zu einem gewissen Sättigungsgefühl verholfen hatte. Ehe andererseits das schöne Grillgut anderntags eventuell schon die Wandlung zum Grillschlecht vollzogen haben würde, stimmten wir dem Vorschlag aber selbstverständlich zu.

In unserer damaligen Wahrnehmung sah so oder so ähnlich der perfekte Tag aus.

Um diesen Text nicht in völlig unangebrachter Nostalgie zu beenden, muss ich ihn an dieser Stelle leider wieder in die Gegenwart hinüberholen. Die durchschnittlichen Ausgaben für einen Grill haben sich in der Zwischenzeit verachtfacht. Auch sind die Geräte seitdem wesentlich voluminöser, das Zubehör umfangreicher und luxuriöser geworden. Zunehmend seltener ist ein Grill lediglich Mittel zum Zweck, willkommen in der Welt der Statussymbole!

Wundert da noch irgendjemanden die Behauptung, der Trend gehe zum Zweitgrill?! Für die Marketingabteilungen der Hersteller eine nur allzu logische Konsequenz aus dem Umstand, dass der durchschnittliche Haushalt eben nicht alle zwei Jahre einen neuen Grill anschafft. Was wurde nicht alles schon als Zweitexemplar zum Trend erklärt: Zweitwagen, Zweithaus, Zweitmann. In solch illustrer Umgebung ragt ein Zweitgrill nun beileibe nicht besonders auffällig heraus, verstärkt aber immerhin das diffuse Gefühl, sich in Konsumfragen über wirklich gar nichts mehr wundern zu müssen.

Manch einen mag das alles auch wurst sein, wiederum andere bevorzugen sowieso Nudeln. Und auch für letztgenannte Gruppe gab es diese Woche eine gute Nachricht:

Nudeln machen doch nicht dick.

Das behaupten jedenfalls kanadische Forscher. Deren Probanden durften pro Woche durchschnittlich 3,3 Portionen Nudeln anstelle anderer Kohlehydrate essen und hatten nach 12 Wochen sogar einen geringfügigen Gewichtsverlust. Nudeln genießen ihren schlechten Ruf also zu Unrecht.

Zumindest Stand jetzt, möchte ich das Kovac-Prinzip auf diese Erkenntnisse übertragen. Denn in der Wissenschaft wie in der Fußball-Bundesliga gilt eine Aussage bekanntlich gerade so lange, bis neue Faktenlagen frühere Gewissheiten über den Haufen werfen. Das kann ´mal länger und ´mal kürzer dauern. Aber bis es soweit ist, können wir ohne Reue Nudeln genießen, während wir uns beruhigt zurücklehnen, weil XY nächste Saison garantiert noch mit unserem Wappen auf der Brust verteidigt, Spiele gestaltet oder auch einfach nur die Mannschaft trainiert.

Vor allem lassen sich – Stand jetzt – von einem Teller Nudeln ebenfalls hervorragend Fotos in den Kosmos der sozialen Netzwerke schicken. Ungezählte Postings aus dem Winter beweisen es.

In diesem Sinn wünsche ich einen angenehmen, warmen, trockenen Sommer!

Na logo

Bärte waren hier im Blog schon Thema gewesen. Nasen auch. Ärsche oder Frisuren hatten wir dagegen noch nicht. Die Gemeinsamkeit zwischen diesen Dingen: Bei manchen Menschen befinden sich alle eben genannten Dinge im Gesicht, höre ich da jetzt einige murmeln. Das mag zutreffend sein, jedoch wollte ich auf etwas anderes hinaus. Und zwar dass sie sich, sofern sie in einer entsprechend attraktiven oder wahlweise schrägen Ausprägung vorhanden sind, vortrefflich als Markenzeichen eignen. Als Beispiel soll die Haarpracht eines aktuellen Präsidenten einer Weltmacht genügen. Dieser würde in seiner Funktion ja an sich kein Wiedererkennungsmerkmal benötigen, hat mit seiner Frisur aber dessen ungeachtet ohne Zweifel eines, das schon mindestens genauso viel Spott hervorgerufen hat wie etliche seiner unbeholfenen Äußerungen.

Erinnert sich jemand an Wolfgang Petry? Mit Vokuhila-Mähne, Popelbremse sowie einem Arm voller Freundschaftsbänder hatte er an Markenzeichen gleich drei. Bei den Stichworten Hut, Sonnenbrille und Nuscheln weiß jeder, dass nur Udo Lindenberg gemeint sein kann. Wer sich an Thomas Anders noch erinnern kann, kann auch wie aus der Pistole geschossen den Namen seiner früheren Ehefrau nennen, weil auf jedem Bild von ihm auch die berühmte „Nora“-Kette zur Schau getragen wurde.

Man ahnt schon: Man muss diese Leute nicht alle gut finden, um die Wirkung gewisser Merkmale anerkennen zu können, ja müssen.

Künstler dürfen aber sogar noch weiter gehen. Wer zum Beispiel leise daran zweifelt, dass sein künstlerischer Ausstoß für genügend Wiedererkennungswert sorgt, wird sich zur Sicherheit für den Anfang eine Maske besorgen.

Prominenz ist aber keine Voraussetzung, ein Markenzeichen zu haben. Prinzipiell kann sich jeder eines zulegen. Das können Dinge sein, die man sowieso immer bei sich hat: Von den bereits erwähnten Nasen und Bärten über Tattoos und Muskeln hin zum Bierbauch. Wenn es nur auffällig genug ist, taugt grundsätzlich fast alles als Markenzeichen. Wenn es nicht ohnehin permanent am Körper befindlich ist, muss es in einer nervenden Penetranz getragen werden. Nora lässt grüßen. Übertrieben konsequent umgesetzt hatte dieses Prinzip auch der Hausmeister eines Mitschülers, in dessen Hof wir in der 7. und 8. Klasse stets abhingen. Der hatte tagein, tagaus dieselbe Malerhose an. Zumindest wurde er über all die Jahre niemals in einer anderen als dieser einen Hose gesehen.

Kurze Zeit später begann ich selbst ganz zaghaft, Charakteristika zu entwickeln, die im weiteren Verlauf zu meinen Markenzeichen werden sollten. Im gleichen Maß wie die bevorzugt konsumierte Musik lauter, härter und ungestümer wurde, wucherten die Haare. Irgendwann kam ein zweites Erkennungszeichen dazu: das obligatorische Bier. Aus Dose oder Flasche, was halt gerade so greifbar war. Diese beiden Eigenschaften erfüllten ihren Zweck. Die meisten wussten sofort: Ja, ich weiß, wen Du meinst.

Natürlich begriff ich auch seinerzeit schon, was da vorging. Spätestens als die Bierflasche und ich als siamesische Zwillinge bezeichnet wurden, ging mir ein Licht auf. Bloß hatte ich das alles nicht unter dem Stichwort Markenzeichen reflektiert. Vorgenommen hatte ich mir das erst recht nicht, sondern es ist einfach so passiert. Wie meistens im Leben halt. Dass ein Markenzeichen authentisch und glaubwürdig zu sein hat, wenn es wirken soll, half mir in dem Moment nur bedingt weiter. Nachdem ich mir dann, fast 20 Jahre ist das inzwischen her, die Haare hatte abschneiden lassen, hatte ich das erste Mal so etwas wie ein Bewusstsein, dass ich mich da gerade selbst eines Markenzeichens beraubt hatte. Mein Bruder immerhin tröstete mich mit dem vollkommen unsentimentalen Rat, dass dann eben ab sofort die kurzen Haare mein neues Markenzeichen werden könnten.

Der mit dem kleinen weißen Hund

Was die Haare betrifft, bin ich sehr skeptisch, ob sie es wurden. Aber seitdem ich dann kurze Zeit später irgendwann auch mit dem Biertrinken aufgehört hatte, weiß ich zwei Dinge sehr sicher. Erstens: Überhaupt keinen Alkohol zu trinken ist definitiv ein Markenzeichen! Zweitens: Leider keins, das besonders sexy ist, das muss ich wohl langsam zugeben.

Wassermann haben sie mich genannt. Damit konnte ich noch leben. Wenn man aber ein Auge auf die gutaussehende Nachbarin einer Bekannten geworfen hat und von genau dieser dann als „der mit dem einen (!) Wasser“ bezeichnet wird, muss man bekennen: Es gibt schmeichelhaftere Wiedererkennungsmerkmale.

Was bin ich heute noch? Für manche aus dem Viertel der mit dem Westie. Gehe ich ohne den Hund auf die Straße, werde ich von denen nicht einmal erkannt. Farbloser als ein Hund. Das muss mir auch erst ´mal jemand nachmachen. Ist die vollkommene Durchschnittlichkeit selbst schon ein Markenzeichen? Oder muss ich mir was besseres ausdenken?

Experten zufolge ist der Ausgangspunkt eines gelungenen Markenzeichens immer der Markenkern. Nach meinem Empfinden ist der Versuch, sich so etwas vom Flipchart weg zu kreieren schon deshalb von vorneherein zum Scheitern verurteilt, weil das Ergebnis ja den gleichen Experten zufolge auch noch echt authentisch zu sein hat, um erfolgreich zu sein. Nun gibt es wahrscheinlich wenig Unglaubwürdigeres als ein mittels Brainstorming ermitteltes Markenzeichen für eine Persönlichkeitsmarke. „Ich bin dann ´mal cool!“ Der Erfolg gelungener Markenzeichen ist sehr wahrscheinlich dann am größten, wenn gerade keine verkopfte Marketing-Überlegung dahinter steckt, sondern es einfach organisch entstanden ist. Kann sich, zum Beispiel, irgendjemand vorstellen, wie vor ein paar Jahren irgendein Berater zu Angela Merkel gesagt hat: „Formen Sie mit Ihren Händen eine in etwa solche Raute, das symbolisiert Besonnenheit, Ruhe und Kraft“? Auch wenn gerade im Politikbetrieb schon seit einiger Zeit exakt solche Vorgehensweisen eine große Rolle spielen – ein Stratege, der ihr so etwas geraten hätte, wäre vermutlich nicht lange in ihren Diensten geblieben. Sie selbst erklärte dazu, diese Geste helfe ihr, den Rücken gerade zu halten. So einfach kann die Welt sein..!

Zeit also, ´mal wieder etwas Unüberlegtes zu tun.

Die Peinlichen sind immer die Anderen

Zu des Menschen unbeliebtesten Körperteilen gehört zweifelsfrei die Nase. Im Zentrum des Gesichts eher schlecht als recht platziert, bestehen im Normalfall wenig Chancen, sie in irgendeiner Weise zu kaschieren, wenn Form oder Umfang missfällt. Ungeachtet der wertvollen Arbeit, die das Riechorgan in puncto Atemluft, Klang der Stimme oder auch Tragen einer Brille täglich leistet, gibt es für die Nase scheinbar nur wenig schmeichelhafte Bezeichnungen. Zinken, Kolben, Knollen, sind nur einige Beispiele, die unser gespanntes Verhältnis zum Gesichtserker kennzeichnen.

Damit nicht genug, gerät das Ding im Gesicht auch auf etlichen Selfies zum Nachteil. So fanden US-Wissenschaftler unlängst folgendes heraus: Auf etlichen dieser Selbstportraits ist die Nase zu groß, und schuld daran ist die Perspektive. Der relativ geringe Abstand der Kamera zum Motiv lässt die Nase im Verhältnis zum Rest der Visage überproportional groß wirken. Dass der Rüssel aus einer unvorteilhaften Perspektive aufgenommen auch unvorteilhaft wirkt – das konnte man so nicht unbedingt erwarten.

Nicht dass ich es verurteilen würde, wenn sich Wissenschaft an Alltagswidrigkeiten abarbeitet, denn exakt dafür soll sie letzten Endes ja auch dienen. Ich habe während meines Politologie-Studiums das Feeling Bieberer Berg erforscht, Boris Beckers Trennung von seiner Frau Barbara diskursanalytisch durchleuchtet oder meine Diplomarbeit über Fußballfankultur geschrieben. Wissenschaft zum Anfassen also. Aber bei einem Sujet wie der Größe der Nase auf Selfies fehlt dann sogar mir die Ernsthaftigkeit.

Die eigentliche Überraschung ist auch nicht das Ergebnis, sondern dass es überhaupt noch einer solchen Untersuchung bedurfte. Denn schon eine harmlose haushaltsübliche Online-Suche, wie ich zum perfekten Selfie gelange, bringt mir das gewünschte Ergebnis in vieltausendfacher Form.

Und leider noch mehr Ergebnisse, nach denen ich an und für sich nicht gesucht hatte.

Der erste Erkenntnisgewinn nach Betrachten der ersten beiden Videos zum Thema lässt sich jedenfalls etwa so formulieren: Die Relevanz solcher Fragen ist auch Gradmesser für die Dekadenz einer Gesellschaft.

Zweitens bekommt man den Eindruck, dass auf dem Weg zu einem anständigen Selfie die Nase noch das geringste Problem ist. Im Grunde ist alles, was sich im Gesicht befindet, potentiell störend und muss besser in Szene gesetzt werden. Was bei einem zusätzlichen Kinn noch Sinn ergibt, ist bei der Frage, wie weit der Mund geöffnet zu sein hat, um die Lippen weder zu üppig noch zu schmal erscheinen zu lassen, mir persönlich definitiv einen Schritt zu weit.

Den Kulturpessimisten überrascht immerhin, dass sich mitunter durchaus kritisch mit Bildbearbeitungs-Software auseinandergesetzt wird. Sicher mag man das als heuchlerisch empfinden, wenn Glaubwürdigkeit und die viel gerühmte Authentizität erst zum Thema wird, nachdem eine Stunde lang der Hintergrund von störenden Elementen befreit und etwa achtzig Fotos geschossen wurden, von denen dann für die Veröffentlichung dasjenige ausgewählt wird, auf dem die total natürliche Pose (ganz schlimm übrigens: das Duckface) am spontansten wirkt. Aber man darf natürlich auch nicht zuviel erwarten von der Generation, die in wenigen Jahren in Schlüsselpositionen dieser Gesellschaft drängt.

Ungeschminkt und #nofilter

Während man also gerade beginnt, sich mit der Scheingewissheit zu arrangieren, dass so schlimm es also wohl doch noch nicht um unsere Zukunft bestellt ist, gelangt man zum ernsten Hintergrund dieser Studie. Eine steigende Anzahl junger Menschen nämlich erliegt dem Glauben, mit Inanspruchnahme der plastischen Chirurgie ein geeignetes Mittel für zukünftige Posts gefunden zu haben. Ästhetische Eingriffe aus exakt der Motivation heraus, den Zinken auf Selfies besser ins rechte Licht rücken zu können, sind enorm im Kommen.

Wie verkehrt es wäre, angesichts dieses Befundes mit dem Finger reflexartig auf die USA zu zeigen, belegt eine Umfrage aus dem letzten Jahr aus deutschen Landen. Vier von fünf befragten Fachärzten sehen einen wenigstens teilweisen Zusammenhang zwischen Trends in den sozialen Medien und der Nachfrage ihrer Dienstleistungen. Keine weiteren Fragen.

Ich finde allerdings den Ausweg nur mittelmäßig gelungen, sich so gar keine Gedanken über die Wirkung eines Bildes zu machen. Ich gebe zu, mich über misslungene Versuche, am Selfie-Wahn teilzuhaben, gelegentlich sogar sehr gut zu amüsieren. Weil aber die Abkehr von allen Regeln der Selfie-Kunst meistens eher unfreiwillig vollzogen wird, taugt sie als Gegenentwurf zur perfekt inszenierten Instagram-Ästhetik leider gar nicht. Gewollt und nicht gekonnt trifft es schon eher. Als Mitglied mehrerer Single-Gruppen verfüge ich diesbezüglich über reichlich Anschauungsmaterial. Um aufkommenden Fragen vorzubeugen: Nein, ich bin nicht lediglich aus Gründen solcher Recherchen dort Mitglied, wehre mich aber auch nicht, wenn jemand oder etwas dort darum bettelt, mir als Inspiration zu dienen.

Es fängt ja nicht selten schon damit an, dass die Aufnahmen spiegelverkehrt sind. Falls das seinerseits ein Trend sein sollte, den ich nur einfach nicht mitbekommen habe, weil ich nicht hip genug bin – schöner werden die Bilder dadurch trotzdem nicht. Mir ist klar, dass es nicht gerecht ist, aber Männer haben es da manchmal ein Stück weit leichter. Sie können die Gefahr, das Logo ihres Markenpullis in Spiegelschrift abzubilden, einfach umgehen, indem sie sich mit freiem Oberkörper ablichten. Eine Option, von der gerade im Kontext von Singlegruppen auch häufig Gebrauch gemacht wird. Ein weiterer Vorteil dieser Vorgehensweise: Die Frauen der Gruppe scheinen auf solche Fotos stärker zu reagieren. Aber das ist ein anderes Thema. Als nur so halbwegs schöner Mensch habe ich reichlich Erfahrungen mit Nichtbeachtung. Was in der Online-Welt ja die Höchststrafe ist. Ein Selbstportrait soll ja hauptsächlich Anerkennung und Selbstbestätigung verschaffen. Was dann in Respektsbekundungen wie „Du Süße..!“, dem heutzutage wohl unvermeidlichen „Nice!“ oder einfach nur „Maschine!“ Ausdruck findet.

Der Text wäre nicht komplett ohne die Aufforderung an mich selbst, mich an meine eigene Nase zu fassen. Denn nebenbei bemerkt ist es nicht allein die Generation Selfie, welche an diesem Spiel teilnimmt. Ich tue es auch. Alle tun es. Die Peinlichen sind nicht immer nur die anderen. Den großen Unterschied sehe ich vor allem darin, wie abhängig jemand von solcher Art Bestätigung ist. Was letzten Endes darüber entscheidet, wie weit der Einzelne bereit ist, dafür zu gehen.

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