Rückblickend betrachtet war die erste, die ich hatte, relativ peinlich. Das sollte nicht allzu sehr verwundern, war doch das einzige Kriterium, das sie zu erfüllen hatte: nicht so auszusehen wie alle anderen.

Im Ergebnis bekam ich eine, die sich von allen anderen gerade ´mal dadurch unterschied, dass ihr Rahmen in einem dunklen Blau gehalten war und nicht in dem damals vorherrschenden Standard-Silber. Ansonsten hatte meine erste Brille die für meine Elterngeneration typische Tropfenform und war alles in allem viel zu groß, so dass mein vormals im mittleren Bereich gelegener Coolness-Faktor erdrutschartige Verluste verbuchen musste wie sonst nur Parteien am Wahlabend.

Zu allem Überfluss hatte ich mir selbst tönende Gläser aufschwätzen lassen. Brille und Sonnenbrille in einem, je nach Bedarf, war zwar gut gedacht. Allerdings hatte ich die Eigendynamik dieser Gläser unterschätzt: Keineswegs nämlich konnte ich damit rechnen, in Innenräumen stets gute Sicht zu haben, denn der Nasenquetscher färbte sich nach dem Zufallsprinzip oder aus anderen mir nicht ersichtlichen Gründen gelegentlich dunkel, wenn es gar nicht hell war. Als mich dann auch noch irgendwann die ersten fremden Menschen darauf ansprachen, war im Prinzip klar, dass die Beziehung zwischen uns beiden von nur recht kurzer Dauer sein würde. Von der Liebe auf den ersten Blick bis zur fahrlässigen Zerstörung im Zuge eines Vatertags-Umtrunks war der Weg kürzer als ursprünglich geplant.

Auch wenn dieses 250 DM teure Missverständnis inzwischen 30 Jahre her ist, bin ich der Brille an sich treu geblieben und hatte selbst in Zeiten akuten Mangels an Erfolgserlebnissen beim anderen Geschlecht nie daran gedacht, auf Kontaktlinsen umzusteigen. Um die Jahrtausendwende dann machte ein gewisser Harry Potter die Sehhilfe salonfähig. Was zumindest vormalige potentielle Mobbing-Opfer unter der schulpflichtigen Bevölkerung schlagartig zu Trendsettern werden, das Kernproblem für (junge) Erwachsene jedoch bestehen ließ: Eine Brille lässt Dich schlau aussehen, aber nicht attraktiv. Ich fürchte, nicht der einzige zu sein, dem es andersherum lieber gewesen wäre. Zwar sind bis heute die Brillenträger die ersten Ansprechpartner von Mitschülerinnen und Kommilitoninnen, wenn diese etwas nicht verstanden haben. Fürs Ego noch zuträglicher wäre es allerdings, wenn man dann nicht regelmäßig die körperlichen Aspekte zwischenmenschlicher Beziehungen anderen Männern ohne Brille überlassen müsste.

Immerhin: Das Image, Brillenträger seien kompetent, professionell und intelligent, steht bis heute. Als Helfer in der Not werden sie als erstes angesprochen, selbst wenn es nur darum geht, nach dem Weg oder nach Feuer gefragt zu werden.

Diese Wahrnehmung von Brillenträgern als seriösen Zeitgenossen wird inzwischen sogar wissenschaftlich untermauert. Dass die viel zitierte Studie von einer britischen Optikerschule erstellt wurde, ist wahrscheinlich genauso zufällig wie der Wechsel der Tönung der Gläser meiner ersten Brille.

Andererseits ist nicht alles bloße Propaganda. Eine andere im letzten Jahr veröffentlichte Studie belegte, dass – zumindest statistisch – Kurzsichtige mit einer um 30 Prozent höheren Wahrscheinlichkeit schlauer sind als Menschen mit guten Augen.

Doch zu den statistischen Tatsachen gehört eben auch, dass männliche Brillenträger lediglich von 14 Prozent der von einer Online-Partnerbörse befragten Frauen als sexy beschrieben werden.

Die daraus zu ziehende Konsequenz kann eigentlich nur lauten:

Eine Sonnenbrille muss her!

Diese nämlich, auch das ist inzwischen erforscht, erhöht den Flirtfaktor erheblich: Da sich das Gegenüber über etwaige, üblicherweise über die Augen preisgegebene Unsicherheiten beim Sonnenbrillenträger kein Bild machen kann, tritt dieser automatisch selbstsicherer auf, woraus dann eine größere Attraktivität ausgestrahlt wird. Auch wenn dieser Mechanismus für keine der beiden beteiligten Parteien wirklich ein Ruhmesblatt bedeutet, kann man damit wohl eher leben als mit einer anderen Begleiterscheinung:

Denn auch wenn man es nicht wahrhaben möchte, wird es irgendwann dunkel, und dann sieht man mit Sonnenbrille nicht mehr so viel, und dann wird die Frage „Wohin mit dem guten Stück“ meistens eher schlecht als recht beantwortet, weil gerade bei Männern die meisten Möglichkeiten, das unbenutzte Teil irgendwo zu parken, unvorteilhaft aussehen. Dass sich mancher das Gegenteil einbildet, ändert leider nichts daran, dass eine mit einem Bügel „lässig“ ans Hemd gehängte Sonnenbrille in 98 Prozent der Fälle kacke aussieht.

Andere lösen das Problem, indem sie sie auch in absolut unangemessenen Situationen einfach auflassen. Aber das Konzept, die Sicht im geschlossenen Raum vorsätzlich zu verschlechtern, indem ich mir etwas vor die Augen hänge, habe ich noch nie verstanden. Ich plädiere daher dafür, dass sich alle, die nicht den Ramones angehören oder wenigstens Heino sind, sich diesen Move tunlichst verkneifen.

Eine mögliche Lösung könnte sein, dafür ein Brillenetui bereitzuhalten. Weil das zu einfach wäre, wird die Bereitschaft, diesen revolutionären Vorschlag umzusetzen, bei der breiten Masse aber wohl tendenziell gering ausgeprägt sein.

Der langen Rede kurzer Sinn: Rückblickend betrachtet wird das Jahr 2019 wahrscheinlich trotzdem als dasjenige in Erinnerung bleiben, in dem ich mir eine Sonnenbrille zulegte.