Aufzeichnungen aus der Wirrnis des Alltags

Monat: September 2019

Pogo in Togo

Wie es geht, will jemand wissen. Ich denke mir nur: Heutzutage ist schon die Frage verkehrt gestellt. Die Frage lautet doch schon längst nicht mehr, wie es geht, sondern bloß noch, wie schnell es geht. Geschwindigkeit ist die Leitwährung unserer Zeit. Alles muss gleichzeitig passieren. Und weil das so ist, obwohl es so nicht sein müsste, gibt es viele Güter des täglichen Bedarfs hauptsächlich „to go“ Das mit dem Kaffee war ja nur der Auftakt. Damals vor gut 20 Jahren, als nicht wenige einschließlich des Verfassers dieser Zeilen irgendwann nach dem dritten oder vierten Lesen erkennen mussten, dass der feilgebotene Kaffee mitnichten in Togo angebaut wurde.

Inzwischen erledigen wir nicht nur das Kaffeetrinken, sondern fast alles von unterwegs. Und natürlich hatte die Etablierung dieser To-Go-Kultur nicht nur Sinnvolles im Gepäck, sondern auch reichlich Absurditäten. Sogar Autos gibt es inzwischen „zum Gehen“, und als besonderen Höhepunkt faltbare Schuhe „to go“. Wofür auch sonst?! Wenn ich an die Zeiten ohne Ersatzschuhe zum Mitnehmen zurückdenke, kommt mir vor allem eines in den Sinn: Es ging auch irgendwie.

Und heute? In Läden, die früher als Tankstelle bekannt waren, bekomme ich mit Mühe noch einen Liter Motoröl, aber ansonsten hauptsächlich Dinge zum Mitnehmen und dabei noch die irritierende Frage aufgeworfen, was bei Rewe to go außer dem Benzin der Unterschied zu einem ordinären Rewe sein könnte. Ist der Kunde in den herkömmlichen Rewe-Märkten etwa eingeladen, seine dort erstandenen Waren direkt vor Ort zu konsumieren? Oder ist er angehalten, weiterzuziehen, nachdem – natürlich schnellstmöglich – die Kasse passiert ist?

„To go“ ist der Zeitgeist, derweil Mediziner beklagen, dass wir zu viel sitzen und uns zu selten wirklich bewegen. Das hatte die Evolution eher nicht auf dem Schirm, als sie uns einst anbot, aufrecht zu gehen. Der Mitnehmkaffee mutiert zum Symptom für eine gestresste Gesellschaft, der Wegwerfbecher ist längst zu einem Symbol für einen allzu sorglosen Umgang mit Umweltproblematiken aufgestiegen. Trotzdem ist die Nachfrage nach dem Wachmacher im Einwegbehältnis anhaltend hoch. So werden Erfolgsgeschichten heutzutage geschrieben.

„Keine Zeit“ lautet das Mantra dieser Tage. Doch genau genommen hat der Tag immer noch 24 Stunden. Man „hat“ demnach weder mehr noch weniger Zeit als vor 50, 500 oder 5000 Jahren, sondern exakt genauso viel. Aufgaben und Verpflichtungen haben sich im Laufe der Zeit wohl geändert, aber man darf getrost unterstellen, dass viele durchaus die Zeit hätten, ihren Kaffee „to stay“ zu genießen, sich aber bewusst für andere Möglichkeiten entscheiden, ihre freie Zeit mit Inhalt zu füllen. Und irgendwann registriert man, dass man auf die Frage, wie es geht, eigentlich antworten müsste: Nicht gut. Und natürlich verspricht die schnelle neue Welt auch hierfür Lösungen: Eine Vielzahl an Apps verspricht allen Smartphone-Geschädigten eine Auszeit wann und wo man möchte. Meditation to go ist das Schlagwort für alle, die für Meditation eigentlich keine Zeit haben.

Doch es mangelt uns ja nicht nur an Zeit, sondern auch an Geduld. Da ich meine wertvolle Zeit tagsüber damit verbringe, dafür zu sorgen, dass Bestellungen in einem der coolsten Onlineshops dieses Planeten möglichst am nächsten Tag beim Empfänger landen, bekomme ich natürlich hautnah mit, wie stark die Ansprüche da inzwischen gestiegen sind. Es soll ja Leute geben, die eine Stunde nach ihrer Bestellung schon den gerade erst erhaltenen Link zur Sendungsverfolgung aktivieren, um nachzusehen, an welcher Stelle im Netzwerk des Paketdienstleisters sich die heiße Ware gerade befindet. Ich spoilere nur sehr ungern, verrate an dieser Stelle aber dennoch: Sehr weit ist sie in aller Regel nicht gekommen.

Früher, als ja bekanntlich immer alles besser war, sah eine Bestellung ungefähr so aus: Man übertrug Artikelnummern und -bezeichnungen der gewünschten Produkte aus einem Katalog auf das Bestellformular und rechnete anschließend den zu zahlenden Gesamtbetrag aus. Diesen schrieb man auf einen Verrechnungsscheck, der mit dem Bestellformular zusammen in ein Briefkuvert gesteckt und an den Händler geschickt wurde.

Die erste Woche (ver-)ging. Danach hätten wir jemanden getötet, wenn es uns dabei geholfen hätte, herauszufinden, ob eine baldige Ankunft des erwarteten Paketes bevorsteht oder nicht. Stattdessen wusste man nicht einmal, ob der Versender überhaupt die Bestellung erhalten hat. Letztendgültig wusste man das erst, wenn man nach 10 bis 14 Tagen mit der lange ersehnten Sendung quasi auch die Auftragsbestätigung in den Händen hielt und mittelmäßig enttäuscht war, dass viele der bestellten Teile nicht mitgeliefert wurden, weil ein Katalog natürlich nicht die verfügbaren Mengen abbilden kann und daher auch etliche bereits ausverkaufte Artikel zeigt.

Heute, wo die Frage nicht mehr lautet, wie es geht, sondern wie schnell es geht, geht selbst der Verfasser dieser Zeilen konform mit dem Lauf der Dinge, weiß die Vorzüge der modernen Zeit zu schätzen und plädiert daher keineswegs für eine Rückkehr der Postkutsche.

Gegen eine Rückkehr zu der Erkenntnis, dass Glück nur höchst selten von der Geschwindigkeit abhängt, mit der unsere Einkäufe bei uns eintrudeln, hätte er dann allerdings in der Tat nichts einzuwenden.

Man lebt nur einmal

Wenige Fragen gehen so sehr am Kern der Sache vorbei wie die Problematik, ob eine Katze nun sieben oder neun Leben hat. Ganz unabhängig von der tatsächlichen Anzahl wird eine Katze nämlich Dinge, auf die sie aktuell oder grundsätzlich keine Lust hat, unbedingt unterlassen.

Ein Mensch dagegen muss, will er sich amüsieren und dabei dringlichere oder wichtigere oder dringlichere und wichtigere Aufgaben für diesen Moment des Vergnügens ausblenden, den Leitsatz „Man lebt nur einmal“ strapazieren.

Man lebt nur einmal. Die Universalformel, wenn das schlechte Gewissen Dir auf die Schulter tippt, um auf sich aufmerksam zu machen, bloß weil Du einmal im Monat der Lust nachgegeben und die Pflichten vernachlässigt hast.

Lust versus Pflicht – dieser elende ewige Zweikampf, den Du zu führen hast, nur weil Dein Karma dazu führte, dass Du als Mensch und nicht als Katze wiedergeboren wurdest. Lust versus Pflicht – beides gegeneinander sorgfältig abzuwägen war ich bereits mehrfach gezwungen, seit ich regelmäßig Texte in diesem Blog veröffentliche. Denn nur manchmal ging beides miteinander zu vereinbaren, weil der Text bis Donnerstag Abend in weiten Teilen stand. Manchmal musste ich Entscheidungen treffen und entschied mich in aller Regel für den Blog und gegen eine Verabredung oder ein Konzert am Samstagabend. Viel zu häufig jedoch ging es nicht miteinander zu vereinbaren, aber ich habe es trotzdem versucht. Aus dieser Erfahrung heraus kann ich nur nochmal erklären: Das Klischee des Schriftstellers, dem der Becher Rotwein Inspiration für eine ganze Nacht an der Tastatur gibt, kann maximal dann funktionieren, wenn man am nächsten Tag ausschlafen kann. Ist das nicht gegeben, endet es für Text und Gesundheit im Regelfall nicht so wie man es sich eigentlich erhofft.

Vergangene Woche nun war besagter Zweikampf dann eskaliert, weil an drei aufeinanderfolgenden Abenden jeweils Aktivitäten anstanden, die ich nicht verpassen wollte. Auch wenn es „nur“ ein Fußballspiel im TV war. Auch wenn die Blaue Stunde im Wetterpark nett, aber keineswegs als etwas besonderes im Gedächtnis haften bleibt, von dem ich noch in zehn Jahren schwärmen werde. Auch wenn Theater und Illumination an den Kuranlagen zwar reizvoll klingt, mich aber ohne die Aussicht auf ein Date mit einer wunderbaren Frau höchstwahrscheinlich nicht bis nach Bad Nauheim hätte locken können.

An denkwürdigen, ja magischen Momenten mag es an allen drei Abenden nicht gemangelt haben. Aber der bedeutsamste von allen war der, in dem ich die Entscheidung traf, ausnahmsweise keinen Blogeintrag zu veröffentlichen. Denn ab genau diesem Moment konnte ich die gewählten Programmpunkte auch ohne Reue genießen, weil mir zwar nach wie vor mein Hund sowie die anderntags stattfindenden Ballon-Termine, aber wenigstens nicht auch noch das Schreiben im Nacken saß.

Man lebt nur einmal. Da in meinen Texten wenigstens zwischen den Zeilen gelegentlich anklingt, dass man sich bitte selbst mehr Glücksmomente bescheren sollte, hätte ich mich in dieser Hinsicht auch irgendwann komplett unglaubwürdig gemacht, wenn ich nicht irgendwann einmal danach gehandelt hätte. Daher habe ich an sich nichts zu bereuen. Außer vielleicht, es nicht kommuniziert zu haben.

Dass prompt am gleichen Tag die ersten Nachfragen kamen, ob mit mir alles gut sei, spricht ja aber im Prinzip auch für meine Freunde. Wie gut es mir nach dem Abend in Bad Nauheim ging, weil endlich einmal eine Geschichte von mir ein Happy End bekam, konnte ja keiner von ihnen ahnen.

Es sollte an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass es ursprünglich überhaupt nicht geplant war, jeden Sonntagmorgen einen neuen Blogeintrag abzuliefern. Vielmehr sollte der Sonntag in seiner kompletten Länge dazu genutzt werden, dem jeweiligen Text seinen letzten Schliff zu verpassen und ihn im Laufe des Tages zu veröffentlichen. Erst als ich zwei- oder dreimal hintereinander sonntags früh die Dinger bereits fertig hatte und in Folge dessen die ersten Stimmen à la „meine liebste regelmäßige Sonntagmorgenlektüre“ zu vernehmen waren, musste ich umdisponieren, ohne es gewollt zu haben.

Nach gut zweieinhalb Jahren regelmäßigen wöchentlichen Veröffentlichens von Texten mit durchschnittlich recht hohem Unterhaltungswert brauche ich auch niemandem mehr, nicht einmal mir selbst, irgendetwas beweisen. Weil in den letzten Monaten allerdings zu viele Veröffentlichungen auf den letzten Drücker entstanden sind, war der Schritt eigentlich überfällig. Da jetzt zufällig das erwähnte Happy End mein zum Schreiben zur Verfügung stehendes zeitliches Budget weiter einschränkt, weil diesem einen Abend noch viele weitere schöne, magische Momente mit derselben attraktiven und inzwischen offiziell zur Partnerin erklärten Frau folgen sollen, wird aus einem wichtigen Schritt ein dringlicher Schritt. Auch wenn diese Frau meine Blogeinträge liebt, habe ich mich entschieden, bis auf weiteres den Rhythmus der Veröffentlichungen einem gesunden Maß anzupassen und die Öffentlichkeit lediglich noch vierzehntägig mit meinen gesammelten Werken zu belästigen. Man lebt schließlich nur einmal.

Präsentiert von WordPress & Theme erstellt von Anders Norén