Aufzeichnungen aus der Wirrnis des Alltags

Monat: November 2018

Ich bin gegen alles

Wenn ich manche Sprüche schon lese, möchte ich regelmäßig in den Bildschirm beißen. „Alles, was Du über mich hörst, kann genauso falsch sein wie die Person, die es Dir erzählt hat.“ Einfach ´mal schamlos im Textbaukasten für Deutschrock-Songs bedient, und fertig ist der Facebook-Post. Mögen solche Zeilen von einem Freund oder Bekannten vorgetragen, das heißt von einem der wenigen unter meinen Bekannten, von denen Sätze dieser Güteklasse zu erwarten sind, werde ich wenigstens drüber nachdenken, was ihn zu diesem Statement veranlasst haben mag. Wirft dagegen jemand Wildfremdes mit einem solchen Bekenntnis um sich, beispielsweise nämlich in einer der Singlegruppen, in denen mich im gleichen Netzwerk mehr oder weniger freiwillig herumtreibe, ist mit nicht besonders viel Verständnis meinerseits zu rechnen.

Es stellt sich objektiv so dar, als ob da tatsächlich jemand der Ansicht ist, dass Beiträge dieser Qualität ein probates Mittel sind, um im Sinne der Partnerfindung Werbung in eigener Sache zu betreiben. Jemand kommentiert den Beitrag mit „Wie war“ (sic!); dazu gesellen sich zwei weitere tendenziell zustimmende Wortmeldungen anderer Gruppenmitglieder. Ich stelle fest, dass ich mit meinen seltenen, stets jedoch wohl durchdachten Versuchen, auf meine Person aufmerksam zu machen, durchschnittlich weniger Reaktionen generiere und stelle mir die Frage, wer von uns hier eigentlich verkehrt ist.

Bei einer Blitzrecherche auf den jeweiligen Profilen fördere ich zutage, dass Urheber wie Befürworter solcher Postings auffallend häufig die „Schule des Lebens“ besucht haben oder aktuell noch besuchen. Das kann man so schreiben, wenn man tatsächlich der Ansicht ist, im Vergleich zu anderen Menschen vom Schicksal besonders hart gebeutelt worden zu sein. Bei mir war das das letzte Mal mit etwa 16 Jahren der Fall gewesen. Man kann durchaus zu unterschiedlichen Beurteilungen der Frage kommen, inwieweit ein solcher Eintrag im Einzelfall passend ist oder nicht. Doch wie auch immer die Antwort ausfallen mag, sollte man sich über eines im Klaren sein: Die Idee ist inzwischen alles andere als originell, ein Alleinstellungsmerkmal ist der Aufenthalt auf der Schule des Lebens mitnichten. Auf den Kontext einer Singlegruppe übertragen würde ich daher nicht davon sprechen, dass jemand durch seinen Besuch dieser Einrichtung interessanter geworden wäre. Eher ist das Gegenteil der Fall. Dann doch lieber Frankfurter Schule.

Nicht wesentlich besser, obwohl in der Stoßrichtung eigentlich sympathischer, sind Bekenntnisse wie „Es ist nicht Dein Gesicht oder Dein Körper, der Dich perfekt macht, sondern Dein Herz.“ Das klingt toll, wird aber der Komplexität gesellschaftlichen Zusammenlebens nicht gerecht. Das wäre ein Ziel, für das es sich zu leben lohnt, aber solange ich mich auf dem Markt der Singles behaupten muss, kann ich nicht nach solchen Sprüchen leben, sondern muss auf Äußerlichkeiten achten, sofern meine in dieser Hinsicht bescheidenen Möglichkeiten dies zulassen. Die Realität ist da gnadenlos. Unter Singles wird nicht honoriert, dass Du eine coole Sau bist, wenn Du das Pech hast, scheiße auszusehen. Da hilft auch nicht der beste Tipp von allen, der online wie offline herumgeistert. Das Schlüssel-, Reiz- und Unwort in einem heißt

Authentizität

Gute Freundinnen geben einem gern diesen Rat. Da es unwahrscheinlich anstrengend ist, permanent eine Rolle zu spielen, kommen wir dem gern nach und bleiben authentisch. Mit dem Effekt, dass die nächsten Bekanntschaften eben wieder nur zu guten Freundinnen werden. Und dann kennt da jeder mindestens einen Typen, dessen Form von Authentizität zufällig dem Beuteschema der meisten Frauen entspricht. Und weil der sich natürlich kein bisschen anstrengen muss, um authentisch zu sein, gibt er einem natürlich auch den selben Tipp: authentisch sein. Dabei ist doch die Kernfrage noch nicht einmal gestellt, nämlich wie authentisch es eigentlich sein soll, an mehreren Tagen in der Woche seinen Körper zu formen, wenn es nicht darum geht, hinterher schneller oder stärker, sondern lediglich darum, beeindruckender zu sein.
Das letzte Mal, das ich mir vornahm, mehr für meinen Körper zu tun, ging es im Prinzip um nichts anderes: Das Ziel war, nach zehn Wochen befähigt zu sein, zehn Liegestütze zu machen. Die Frage, ob ich überhaupt jemals in die Verlegenheit geraten sollte, ohne diese Fähigkeit im Leben nicht mehr weiterzukommen, stellte ich mir nicht. Zum Glück verriet mir mein Trainer alsbald, dass sich Muskeln nicht beim Training selbst, sondern stattdessen in den Pausen entwickeln.
Das hätte man mir nicht sagen dürfen.
Die Pause dauert inzwischen etwa 21 Monate, und in dieser Zeit habe ich gelernt, dass auch Dicke sehr effizient zur Steigerung des Bruttosozialprodukts beitragen können. Zwar habe ich mich gefragt, wie jemand überhaupt darauf kommt, diesen Zusammenhang erforschen zu wollen. Aber die gewonnenen Erkenntnisse ließen solch skeptische Überlegungen schnell in Vergessenheit geraten. Und zwar weiß man seitdem, dass Gäste eines Restaurants mehr Alkohol und darüberhinaus viermal so häufig einen Nachtisch ordern, wenn sie von einer Bedienung mit hohem BMI versorgt werden.
In der Schule des Lebens hätte ich das vermutlich nicht gelernt.

Hund, Katze, Maus

Zu behaupten, jede Sekunde mit ihnen genossen zu haben, würde die Verhältnisse nicht direkt auf den Kopf stellen, sie zumindest aber auf unzulässige Weise verklären. Ganz als ob man niemals geflucht hätte, weil man nach einem ohnehin stressigen Tag auch noch spät nach Feierabend ihre Käfige reinigen oder ihre Spuren vom Teppich beseitigen muss, tun wir dennoch so, als gehörten Haustiere zum Fantastischsten, das uns jemals passiert ist. Und Jahre nach ihrem Ableben kräht kein Hahn mehr nach den Lieblingen von einst.

Doch der Reihe nach…

Nicht nur weil sich meine Lieblingstante neben jungen aufgelesenen Igeln zum Überwintern stets Wellensittiche hielt, sondern vor allem dank meines Vaters waren Haustiere für mich als Kind gleichbedeutend mit Vögeln. Jegliche Debatten über Mäuse, Hunde oder Pferde hatte dieser nämlich mit dem „Argument“, nur wenn er/sie/es fliegen kann, relativ beizeiten beendet. Entsprechend war auch mein erstes eigenes Tier ein Wellensittich:

Flippi

ist eben so ein Name, dem man seinem Vogel gibt, wenn man zwölf Jahre alt ist. Flippi tat alles, was man von einem Wellensittich erwarten kann: Er kackte auf Sessel und Haare, schimpfte in den Morgenstunden und verließ uns nach Ablauf seiner Zeit. Für einen neuen gefiederten Freund war ich zunächst nicht bereit. Später hatte ich tausend andere Interessen. Insofern war es keine ganz so gut durchdachte Idee von meinen Freunden, mir zum 17. Geburtstag

Günther

zu schenken. Trotzdem war er dann halt da. Bis mein Kumpel Dirk ihn eines Morgens ausgeschaltet hat. An einem Sonntagmorgen nach einer dieser Zusammenkünfte, die wir zu jener Zeit Bandprobe nannten. Zwar hatten wir, wie die meisten neu gegründeten Bands des Genres Punkrock, keine Ahnung, wie wir Instrumente bedienen sollen, aber das war erst unser zweitgrößtes Problem. Das größte Problem war das grundsätzliche Nichtvorhandensein von Musikinstrumenten. Dieser für das kreative Schaffen an und für sich suboptimale Zustand erlaubte es uns aber immerhin, unsere Proben bequem in der Wohnung abzuhalten, wenn meine Eltern wochenends über Nacht auf dem Campingplatz am Kahler See blieben. Wir hatten einen Namen, wir hatten T-Shirts und einer hatte sich sogar einen Aufnäher mit unserem Logo gemacht. Aber Instrumente? Von welchem Geld denn überhaupt?! Der einzige, der sich einen Bass zugelegt hatte, hatte dann auch schnell andere Ambitionen und war der erste offizielle Abgang unserer Band. Wenn Du als Band keine echte Zuordnug der Mitglieder zu ihren Instrumenten hast, bleibt auch oft unklar, wer eigentlich dazugehört, aber dieser Bassist war jedenfalls draußen, und Günther dafür sehr laut an diesem Morgen. Denn auch ein einzelner Wellensittich kann laut sein. Erst recht wenn mehrere gut durchgehangene Gelegenheitstrinker sich nach zuwenig Schlaf überlegen, ob es für ihre Köpfe nicht besser wäre, einfach weiterzutrinken. Als in dieser Situation jemand fragte, ob man den Piepmatz nicht abschalten könne, richtete Dirk die Fernbedienung des TV auf letzteren, und auf einmal war er ruhig.

Leider war er wenige Tage später tot, weshalb es bis heute heißt, dass Günther von Dirk ausgeschaltet wurde. Auch wenn keiner wirklich wusste, wie. Ich habe Dirk im weiteren Verlauf unserer Freundschaft vorsätzlich Bier ins Gesicht geschüttet und fahrlässig seine Brille mit Sprühlack bemalt. Ich habe ihn getroffen, als ich in der voll besetzten Kneipe keinen Nerv hatte, mir eine Schneise zum Klo zu schlagen und mein kleines Geschäft unter dem Tisch erledigte. Aber eigentlich habe ich Dirk verziehen, dass er meinen Vogel auf dem Gewissen hat.

Bakunin

Nach dem Wellensittich kam dann eine Zeit lang nichts, dafür dann ein Meerschweinchen. Zu der Zeit hatten wir alle in meinem Freundeskreis einigermaßen Bock auf Meerschweinchen. Wohlgemerkt: Wir waren damals alle keine 10, sondern etwa 20 Jahre alt und darüber hinaus. Weil ich also auch eins wollte und dann eines Heiligabends ein Kumpel im Offenen Treff von seinem Meerschweinchen erzählte, das er loswerden will, war die Sachlage klar. Ich hatte mich noch kurz vergewissert, dass er das Tier nicht eben erst zu Weihnachten bekommen hatte, obwohl ich nicht weiß, inwieweit das an meiner Entscheidung, das Schwein zu nehmen, irgendetwas geändert hätte. Und als ich dann am nächsten Tag bloß noch meinen Vater davon in Kenntnis setzen musste, dass ein neues Haustier einziehen wird, hatte ich das Problem, dass ein Meerschweinchen nicht fliegen kann. Ich stellte mich auf alles mögliche ein, aber das einzige, was er zu der Diskussion beisteuerte, war „In Ordnung“.

Bakunin hatte mit seiner Farbkombination aus Schwarz und Weiß perfekte Voraussetzungen, persönliches Eintracht-Maskottchen zu werden. So gesehen wäre Charly der passende Name gewesen. Ich fand es in diesem Alter allerdings schicker, ein Tier nach einem russischen Anarchisten zu benennen. Ebenfalls in diesem Alter lernte ich, dass es für ein Tier unerheblich ist, ob es bei seinem richtigen Namen gerufen wird. Meine Mutter rief ihn Tiger, meine Freundin Eisbär, bei seinem eigentlichen Namen Bakunin wurde er eigentlich ausschließlich von mir gerufen.

Lotte

Als das Kapitel Bakunin beendet war, sollte es erneut eine Weile dauern, bis ich wieder zu einem Tier kommen sollte. Meine damals frisch kennengelernte spätere Ehefrau hatte diese alte Katze, von der sie behauptete, wenn sie sich nicht mit mir verstünde, wäre die Grundlage für die sich eben erst anbahnende Beziehung entzogen.

Natürlich gab es später Zeiten, in denen ich mir deswegen gewünscht habe, Lotte hätte mich an dem Abend gekratzt, gebissen oder mir auf sonst irgendeine Weise ihre Abneigung zum Ausdruck gebracht. Aber jenseits von Dingen, die jetzt nicht unbedingt hierher gehören, hat mir diese Beziehung ja einen wundervollen Sohn beschert. Dazu zwei Tiere, die bis heute bei mir leben.

Doch zurück zur Chronologie der Ereignisse. Lotte bekam nämlich schon bald Gesellschaft:

Pauli

Das Monster. Als er noch sehr jung war, übernahmen wir ihn von einer Kollegin meiner angehenden Frau, die sich freimütig dazu bekannte, den Kater an die Wand flatschen zu wollen. Da kamen wir ins Spiel.

Pauli war nicht der einzige Neuzugang im ersten Jahr dieser Beziehung, denn als ich gefragt wurde, was ich mir zum Geburtstag wünsche, hatte meine neue Freundin den Gag meiner Antwort nicht verstanden, als ich etwas von Meerschweinchen sagte. Also bekam ich zu meinem 33. Geburtstag ein Geschwisterpärchen.

Hinz und Kunz

sollte die beiden heißen. Bis die Tierärztin ihrer Praktikantin erläuterte, dass das Russenmeerschweinchen sind. Also wurden aus Hinz und Kunz Ivan und Olga. Ich wusste ja bereits, dass es den Tieren egal ist, was Du rufst, wenn Du mit einem Bund Möhren wedelst.

Dummerweise können Meerschweinchen erst ab einem Gewicht kastriert werden, das sie üblicherweise nach ihrer Geschlechtsreife erreichen. Dass sie Geschwister sind, ist ihnen in dieser Hinsicht überdies genauso egal wie der Name, den man ihnen gibt. Aber wir waren naiv und ahnungslos. Zwar bemerkten wir beide, dass Olga richtig schwer geworden ist, aber das nahmen wir nicht zum Anlass, größer drüber nachzudenken, bis ich eines Abends plötzlich ein paar Tiere zuviel im Käfig erblickte. Die Situation, Tiere einmal nicht zu uns zu holen, sondern sie abzugeben, war recht ungewohnt, aber wir haben sie überlebt. Und es sollte ja auch nicht allzu lange dauern, bis alles wieder nach gewohntem Schema verlief.

Chomik

Chomik lief eines Abends neben mir her. Aus den Augenwinkeln erspähte ich ein kleines Wesen, das für die üblichen Verdächtigen Maus oder Ratte eindeutig zu buntes Fell hatte. Ohne zu wissen, worum genau es sich handelt, versuchte ich das Tier in einer Tüte einzufangen. Ich muss ziemlich unmännlich ausgesehen haben bei diesem Vorhaben, weil ich nicht riskieren wollte, das Tier zu berühren. Schließlich wusste ich immer noch nicht, worum genau es sich handelt. Ein zufällig vorbeikommender Passant hatte weniger Berührungsängste, stellte kommentarlos seine beiden Tüten ab und half mir, das unbekannte Wesen in meine Tüte zu bugsieren. Nachdem alles erledigt war, fragte ich ihn, ob er wisse, um welches Tier genau es sich denn handelt. Sein mit breitem Grinsen vorgebrachtes „chomik“ brachte mich in dieser Frage allerdings nur bedingt weiter. Noch immer ohne zu wissen, was genau ich mir da eingefangen habe, ging ich nach Hause, diesen Fund meiner angehenden Frau zu zeigen.

Wie sich später leider herausstellte, musste dem Hamster, so die deutsche Übersetzung für das polnische „chomik“, erst einmal ein Bein amputiert werden. Aber da wir für diese Operation 50 Euro bezahlt hatten, war immerhin klar, dass er bei uns bleibt. Wir dachten, dass als Name Chomik ganz gut passen würde. Nach einem runden Jahr war dann der allgemeinen Lebenserwartung für Hamster folgend das Thema durch. Chomik hatte sich zuletzt auch nur noch in einem Erdloch verkrochen, was ihm zwar den neuen Namen Saddam einbrachte, aber sein Leben dennoch nicht weiter verlängern konnte. Alles war für die Katz´ gewesen.

Ronja

zog in einem Alter bei uns ein, in dem sie gerade nicht mehr umkippte, wenn sie sich mit einer Pfote irgendwo kratzte. Ging im Alter von etwas über einem Jahr wieder aufgrund einer Katzen-Epilepsie.

Ein gutes halbes Jahr vorher war bereits Lotte altersbedingt so weit gewesen. Drei Tage nach deren Ableben war

Oka

zu uns gekommen. Oka heißt laut seinen Papieren eigentlich Feivel, wurde aber zuletzt Speedy genannt. Wir beschlossen, dass beide Namen unangemessen für diesen Hund sind. Gemeinsam mit Pauli stellt Oka den verbliebenen Rest des Streichelzoos.

Und wenn ich mir diese Beiden so anschaue, muss ich leider feststellen: Selbst wenn ich es bei nasskalten minus 15 Grad bei der Gassirunde hier und da ´mal anders sehen werde – Haustiere gehören zum Fantastischsten, das uns passieren kann.

Endlich 18

Bereits unmittelbar nach dem Aufstehen wurde mir gewahr: Alles wie üblich. Einzig dass der Kater sich des Nachts nach Genuss einer mittleren Portion des im Bad stehenden Zypergrases sich gleich an Ort und Stelle übergab und ich entsprechend als erste Maßnahme des Tages eine Komplettreinigung meines Waschbeckens vornehmen musste, kontrastierte zu meinem sonstigen Tagesablauf. Ansonsten war aber tatsächlich alles wie immer, und um es unumwunden zuzugeben: Wenn ich mir auch gelegentlich etwas Abwechslung im Alltag wünsche – solche Aktionen sind nicht das, was ich damit meine. Kein besonders gelungener Start in meinen Ehrentag. Um es aber angemessen einzuordnen: Streng genommen hätte ich ein solches Missgeschick auch an keinem anderen Tag meines Lebens wirklich gebraucht.

Nachdem mir das Schicksal auf diese Weise unmissverständlich klargemacht hatte, dass es sich keineswegs die Mühe geben würde, mir gefallen zu wollen, bloß weil sich an dem Tag meine Abstinenz von Alkoholika zum 18. Mal jährt, war die Marschrichtung vorgegeben: Alles wie immer. Warum sollte sich die Welt auch vor mir verneigen? Ich bin einer von vielen. Ein großer Schritt für mich, immerhin. Für die Menschheit als solche aber dann doch ein eher bescheidener Beitrag zu ihrer Fortentwicklung.

Das ist die eine Seite.

Auf der andere Seite flüstert mir eine Stimme ins Ohr, dass es sehr wohl eine Leistung ist, auf der man aufbauen kann und deretwegen ich zu Recht die Kollegen zur Feier des Tages mit Windbeuteln, Laugenbrezeln und vegetarischem Mettigel versorge. Denn wenn ich nicht darauf aufmerksam mache, nimmt niemand außer Tina und Johannes, die mir jedes Jahr zuverlässig gratulieren, überhaupt Notiz davon.

Wie zu vielen anderen Dingen auch, gebe ich zum Thema Alkoholmissbrauch meinen Senf nahezu ausschließlich dann dazu, wenn ich gefragt werde. Missionieren war noch nie mein Auftrag gewesen. Wenn ich im aktuellen Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung von einer Studie lese, wonach im Fernsehen in sechs von zehn Sendungen Alkohol im Bild ist, fordere ich keine Verbesserung des Programms. Sondern stelle nüchtern fest, dass da vermutlich lediglich der Zustand auch auf der anderen Seite des Bildschirms wenigstens ansatzweise realistisch abgebildet wird. In der gleichen Veröffentlichung wird festgestellt, dass in Deutschland jeder sechste Mensch zu viel Alkohol trinkt. Die hier zu Grunde liegende kritische Menge liegt übrigens unterhalb der gängigen Praxis: Solange man noch in der Lage ist, Flasche oder Glas selbstständig zum Mund zu führen, ist es nicht zu viel.

Jeder Sechste. In welcher Runde auch immer Ihr Euch gerade befindet – zählt noch nicht durch, sondern erst dann, wenn Ihr Euch vergegenwärtigt habt, dass an jedem dieser professionellen Trinker Angehörige und Freunde dranhängen, denen meistens außer Zugucken und Ertragen nicht viel übrig bleibt. Eine etwa zwei Wochen alte Nachricht soll diesen Sachverhalt illustrieren: Ein Mann war mit seiner angetrunkenen Frau und ihrem der Trunkenheit geschuldeten aggressivem Auftreten dermaßen überfordert, dass er ihre Abgabe auf einer Polizeiwache als alternativlos empfand. Unbeteiligte werden auch bei Verkehrsunfällen und Körperverletzungen unter Alkoholeinfluss unfreiwillig zu Beteiligten. Ich möchte niemandem den Spaß verderben, aber das bitte immer mitdenken. Jetzt dürft Ihr durchzählen. Auf der Arbeit oder im Freundeskreis. Ihr werdet womöglich feststellen, dass die genannte Zahl nicht furchtbar weit neben der Wirklichkeit liegt. Wer einen deutlich höheren Anteil in seinem Umfeld feststellt, sollte sich erst recht Gedanken machen. Falls jemand gar keine Trinker in Familie und Freundeskreis hat, bedeutet das nicht zwangsläufig Entwarnung, denn eine Untersuchung aus dem Jahr 2012 kam zu dem Ergebnis: „Gebildete anfälliger für Alkoholkonsum“. Mit Blick auf meine Person erklärt das natürlich einiges. Vielleicht würde es nicht schaden, wenn unsere Gesellschaft ihre Bildungsziele einer kritischen Überprüfung unterzieht.

Ein immens wichtiges Thema darf in diesem Zusammenhang nicht unterschlagen werden: Es wurde nämlich bei Fruchtfliegen festgestellt, dass diese mit Alkohol versetztes Futter gegenüber normalem Futter bevorzugen, wenn sie sich nicht paaren können. Der Grund liegt darin zu suchen, dass durch beide Tätigkeiten derselbe wichtige Botenstoff des Belohnungszentrums aktiviert wird.

Jetzt werden nicht wenige solcherlei Forschung für ähnlich überflüssig halten wie einen Neubau für das Deutsche Tapetenmuseum. Wenn man weiß, dass bei Säugetieren ein sehr ähnlicher Botenstoff existiert, wird die Angelegenheit schon interessanter. Allerdings muss noch weiter erforscht werden, ob sich die Ergebnisse auf den Menschen übertragen lassen.

Es lässt sich darüber streiten, ob man tatsächlich umfangreiche Studien durchführen muss, wenn man auch ohne großangelegte Forschung Phänomene wie Frustsaufen erkennen und erklären kann. Weitgehend unstrittig dagegen dürfte auf der anderen Seite sein – und auch dafür reichen Alltagsbeobachtungen -, dass Alkoholkonsum unter den richtigen Umständen die Chancen auf Beischlaf tendenziell erhöht.

Alkohol bringt einen ja dazu, Dinge zu tun, die man normalerweise nicht tun würde. „Die Risikobereitschaft steigt, während gleichzeitig das Urteilsvermögen herabgesetzt wird.“ Was zunächst eine völlig wertfreie Feststellung ist, führt hinterher unter anderem zu Schlagzeilen wie „Japanischer Co-Pilot wollte nach 2 Flaschen Wein und 2 Liter Bier noch fliegen“. Da jeder zweite Nordostasiate aufgrund eines fehlenden Enzyms keinen Alkohol verträgt, wäre diese Menge zur Erlangung der Fluguntüchtigkeit unter Umständen nicht einmal nötig gewesen. Dass man sich über solche Meldungen mit glimpflichem Ausgang amüsieren kann und darf, soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Thema an und für sich für fun facts zu ernst ist.

Angesichts des Stellenwertes von Gebranntem und Gegorenem in unserer Gesellschaft freut einen an so einem Jubiläum so ziemlich jede Ermutigung, auch wenn es zunächst nur die beiden oben bereits genannten Menschen sind. Die Geste zählt. Als mein damaliger Mitbewohner seinerzeit zu mir kam, um mir zu meinem ersten abstinenten Monat zu gratulieren, war das angesichts seiner beeindruckenden Fahne eine falsch verstandene Geste, aber es war eine Geste. Wenn man vorher jahrelang täglich gesoffen hat, ist ein Monat richtig, richtig lang. Und jetzt sind 18 Jahre draus geworden.

Und heute wie damals, trocken oder nass, geht es bei aller Unterschiedlichkeit in der Wahl der Mittel in der Hauptsache darum, geliebt, gemocht, anerkannt oder als Minimalziel wenigstens beachtet zu werden. Auch das dürfte ein Motiv sein, mittels dieses Blogs regelmäßig Nabelschau zu betreiben.

Insofern gilt auch unter diesem Gesichtspunkt: Alles wie üblich.

K(l)eine Katastrophen

Wenn man unterstellt, dass dieser Blog hier mein Innenleben einigermaßen korrekt abbildet, könnte man versucht sein, angesichts der Nicht-Präsenz des Themenkomplexes Glück/Zufriedenheit in den letzten Monaten zu schließen, ich hätte mit der Zeit eventuell das Ziel ein wenig aus den Augen verloren. Die Stille ist selbst dann höchst verdächtig, wenn berücksichtigt wird, dass ich manche Themen wegen der Gefahr der Wiederholung bewusst auslasse. Schließlich würden nur wenige hier Woche für Woche lesen wollen, wer der geilste Fußballclub der Welt ist oder warum das Leben speziell zu mir ausgesprochen ungerecht ist, obwohl ich doch so ein feiner Kerl bin. Dass diese edle Absicht diesen Blog nicht davor bewahrt hat, auch so wie er ist nur von wenigen Menschen gelesen zu werden, fällt unter die Rubrik „Der Plan war jedenfalls ursprünglich ein anderer gewesen“.

Dieses Scheitern von an und für sich ganz guten Plänen wiederum zieht sich dermaßen penetrant durch mein bisheriges und – so die Prognose – vermutlich auch mein zukünftiges Leben, dass ich meine, darin eine der Ursachen zu erkennen, weshalb die Frage nach Glück oder wenigstens Zufriedenheit stets von neuem gestellt wird. Der Gegenentwurf dazu könnte ja lauten, es einfach zu sein, ohne jedes Mal erst darüber nachzudenken, wie man es am besten anstellt, glücklich oder wenigstens zufrieden zu sein.

Und mag besagtes Scheitern auch einzigartig sein – in der Verarbeitung der Misere befinde ich mich in bester Gesellschaft. Dass ich dort niemals hin wollte? Umschreiben wir es so: Der Plan war jedenfalls ursprünglich ein anderer gewesen.

Keine Frage: Innerhalb unserer Gesellschaft ist deren Reichtum äußerst ungerecht verteilt. Ich sehe auch die soziale Isolation, den in Frage gestellten Selbstwert der Betroffenen und weitere Probleme, wenn man beim Verteilen des Kuchens nur die übrig gebliebenen Krümel abbekommt. Aber in 99 Prozent der Fälle hat ein hierzulande als arm geltender Mensch fließend Wasser, ein Dach über dem Kopf samt Heizung darin und muss nicht täglich um sein Leben fürchten. Noch dazu muss man im Normalfall nicht einmal besonders begabt, fleißig oder klug sein, um daran teilzuhaben. Man muss sich im Gegenteil fast schon anstrengen, am Wohlstand so überhaupt nicht teilzuhaben. Aus der Sicht eines pakistanischen Bauern leben wir hier im Paradies. Aber anstatt das auch ´mal zu würdigen, empfinden wir es als Katastrophe, wenn die Bahn sich verspätet. Man stellt sich Fernsehgeräte von der Größe eines Kleiderschranks ins Wohnzimmer und beklagt sich darüber, dass nur Schrott gesendet wird. Man bekommt Tobsuchtsanfälle, weil der Vordermann abbremst anstatt durchzustarten und wie schon die anderen drei Fahrzeuge vor ihm ebenfalls noch bei Gelb über die Ampel zu huschen. Wenn ich es nicht ohnehin schon wüsste, bekäme ich in solchen Momenten durch den Rückspiegel immerhin anschaulich vermittelt, wie hässlich Menschen sind, wenn sie nur wütend genug sind. Zugegeben: Mein ausgestreckter Mittelfinger ist in einer solchen Konstellation kein effektiver Beitrag zur Deeskalation der Situation. Das muss ich in einer kritischen Nachbetrachtung hinterher meistens anerkennen. Ich will an dieser Stelle nicht behaupten, der Plan sei ursprünglich ein anderer gewesen, aber das ist nicht State of the Art.

Es sind aber solche Begebenheiten, die mir beweisen: Im Haben und Verbreiten von schlechter Laune bin ich bestenfalls Mittelmaß. Wenn ich mir allein schon ansehe, bei wie vielen Menschen die Antwort darauf, was sie den ganzen Tag über machen, offensichtlich lautet: Das Wetter hassen. Wie so ein Schlumpf: „Ich hasse Sommer“ hier. „Ich hasse Regen“ dort. Und egal was kommt – am meisten hassen sie den ab dem folgenden Tag gemeldeten Wetterumschwung. Ich hasse solche Berufsnörgler.

Das U des Lebens

Da kommen Erklärungsansätze gerade recht, wonach der Grad der Zufriedenheit vor allem eine Frage des Alters ist. So sollen nach dieser Theorie Menschen im Alter von 20 Jahren am zufriedensten sein, während danach das Wohlbefinden allmählich sinkt. Erst ab etwa 50 Jahren kriegen wir wieder die Kurve und werden zufriedener. Der Verlauf der Kurve beschreibt ein U.

Ich habe da natürlich im Laufe meines Lebens auch ganz andere Typen kennengelernt. Menschen, die in jungen Jahren schon so deprimiert von allem waren, dass wir uns sehr sicher waren, dass sie sehr alt sehr sicher nicht werden. Andererseits Menschen, die noch mit Mitte 30 ständig wider besseren Wissens mit einer verdächtigen und beinahe ans Widerliche grenzenden guten Laune daherkamen. Entsprechend geriet ich angesichts dieser Studienergebnisse spontan in Versuchung, mich dem Chor der Kritiker anzuschließen und von unseriöser Forschung zu sprechen.
Allerdings hat ja niemand behauptet: Jeder. Sondern: Durchschnitt.
Jedenfalls klingt so unplausibel das alles nicht: Mit 20 hat man das Gefühl, die Welt stehe einem offen. Darauf folgt wenige Jahre später entweder Ernüchterung, denn der Plan war schließlich ursprünglich ein anderer gewesen. Oder es kommt die Phase der Routine: Man steht in etwa dort, wo man sich hingearbeitet, in selteneren Fällen auch hingevögelt hat. Da man auch im privaten Bereich danach strebt, irgendwann einmal wo auch immer „anzukommen“, herrscht in beiden Sphären oftmals ab einem gewissen Alter Stillstand. Das Gefühl, dass ab jetzt nicht mehr viel passieren werde, setzt sich durch. Da sind Winner und Loser wieder vereint. In ihrer Unzufriedenheit. Geht es dann in Richtung Ruhestand, werden Erwartungen an das Leben wieder etwas größer; die Zufriedenheit steigt.

Jetzt kann man sich natürlich darüber beklagen, dass bezogen auf die durchschnittliche Lebenserwartung eines Menschen eine 30 Jahre währende Phase der Unzufriedenheit übertrieben ungerecht ist.. Sollte es stimmen, dass das Lebensalter und nicht etwa die Einstellung zum Großen und Ganzen die Zufriedenheit determiniert, kann man proaktiv nur wenig machen, sondern nur zuschauen. Freiwillig schneller als geplant älter werden wäre eine Option, aber wer will das schon?! Und auch wenn man manchmal schwierige Menschen (Kollegen, Freunde, Ehegatten) in seiner Umgebung hat, die einem das Gefühl vermitteln, man würde schneller altern, weil sie einem permanent Zeit von der Uhr nehmen, bleibt es ja eine Illusion, dass die Zeit dadurch tatsächlich schneller vergeht.

Auf der anderen Seite: Wenn das alles stimmt, könnte man zwar eine Zeit lang nichts machen, müsste dann aber auch nichts mehr tun, wenn es so weit ist, dass es wieder aufwärts geht. Mit meinen 46 Jahren könnte ich mich demnach langsam zurücklehnen, denn so lang bis zum Umschwung ist es nicht mehr. Wenn das mal kein Anlass ist, jetzt schon ein ganz klein wenig zufriedener zu sein.
Obwohl der Plan ursprünglich natürlich ein anderer gewesen ist.

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