Aufzeichnungen aus der Wirrnis des Alltags

Monat: März 2020

Übung macht den Meister

Wenn man jede einzelne Entscheidung seines Lebens auch nach Jahren noch plausibel begründen können müsste, käme ich spätestens dann in arge Erklärungsnöte, wenn man mich auf Eierlikör anspräche.

In meiner Erinnerung verbinde ich mit Eierlikör Kaffeekränzchen mit Tanten und anderen älteren Damen, die Hildegard, Mathilde oder Gertrud heißen. Als Getränk muss man sich schon anstrengen, um ein schlechteres Image zu haben als Eierlikör. Wäre das Zeug nicht Bestandteil unzähliger Backrezepte – längst hätte man es zu Recht vom Markt nehmen müssen. Eierlikör – das überflüssigste Getränk der Welt.

Was genau meinen Kumpel und mich seinerzeit – gute dreißig Jahre mag das inzwischen her sein – veranlasste, unserer Band den Namen „Eierlikör“ zu geben, ist aus heutiger Sicht schwierig nachzuvollziehen. Zu vermuten ist, dass wir ihn lustig fanden. Jedenfalls bekam ich an diesem Abend das erste Mal in meinem Leben eine Ahnung, was es bedeutet, wenn man von einer Schnapsidee spricht. Als ich Jahre später auf eine Kapelle mit Namen „Gelbwurst“ traf, lernte ich: Man muss es manchmal eben einfach durchziehen.

Wir allerdings blieben wie viele andere Gleichaltrige regelmäßig auf der Ebene „Man müsste mal…“ stehen. Da interessieren Fragen wie der Name des Projektes einfach mehr als so nebensächliche Aspekte, wer ein Instrument besitzt und dieses eventuell sogar bedienen kann.

Weil solche Fragen sekundärer Natur waren, hätten wir im Grunde genommen auch einen Verein statt einer Band gründen können, um unser vorrangiges Ziel umzusetzen: einen Rahmen für – meist – sinnlose Besäufnisse zu generieren.

Scheinbar weil ich geringfügig mehr als meine Kumpels wenigstens den Anschein hinterließ, ich sei bereit, die Musikantenkarriere einfach ´mal durchzuziehen, bekam ich wenige Monate nach Gründung dieses ersten Bandprojektes von ebendiesen Freunden eine Gitarre geschenkt. Wie man so ein Ding hält, hatte ich schon einmal gesehen, und da alle sechs Saiten aufgezogen waren, hätte ich theoretisch sofort loslegen können. Allerdings befanden wir uns vor 30 Jahren in der wenig komfortablen Situation, dass es kein Internet, kein Youtube oder irgendwas in der Art gab, das mir kostenfrei den Einstieg erleichtert hätte. Da ich aber mein Taschengeld lieber für Musik von Leuten ausgab, die ein Instrument wenigstens insoweit spielen konnten, dass man daraus so etwas wie einen Song heraus hören konnte, blieb für gescheiten Unterricht kein Geld mehr übrig. Genau genommen gab ich auch nur den Rest meines Geldes für Tonträger und Live-Erlebnisse aus. Das Gros nämlich floss in die Hardware für unsere – meist – sinnlosen Besäufnisse.

Mir blieb der Gang in die Stadtbücherei, und mit einem Lehrbuch ausgestattet kam ich zurück. Ich tat wie mir darin befohlen, und es klang scheiße. Beziehungsweise hatte ich nicht einmal eine Ahnung, wie es hätte klingen sollen. Begleit-CDs waren damals Luxus, nicht Standard. Ich musste einsehen, dass mein Spiel auf der Gitarre auf diese Weise nicht besser wurde. Fast folgerichtig kam danach viele Jahre nichts. Jahre, in denen ich zwar auf der Gitarre nichts lernte, in denen ich aber vieles anderes lernte. Zum Beispiel: Gitarre spielen ist cool. Etliche Gitarristen sind aber nicht cool. Viele Gitarristen sind arrogant. Manche Gitarristen sind peinlich. Peinlich zum Beispiel dann, wenn sie die kompletten drei Stunden bis zum Beginn ihres Gigs im örtlichen Jugendzentrum ihre Klampfe umhängen lassen, um auch dem letzten im Saal zu signalisieren, wie ungeheuer wichtig sie für das weitere Geschehen sind. Uncool sind auch Frauen, die sich von solchem Gehabe trotzdem beeindrucken lassen. Und ich lernte, dass man fünf Mark Eintritt sparen kann, wenn man mit einem leeren Gitarrenkoffer wie selbstverständlich am Einlass vorbei spaziert. Die freie Hand dabei noch lässig zum Gruß in Richtung Kassierer gehoben, wird niemand daran zweifeln, dass man zum Ensemble gehört.

Da man im Laufe eines durchschnittlichen Lebens üblicherweise erwachsener wird, sinkt irgendwann der Stellenwert von – auch selbst gemachter – Musik bei den meisten Menschen. Entsprechend viele Gitarren werden in die Keller und Dachböden verbannt. Manche immerhin dienen im Haushalt noch als Dekorationselemente. Was bei mir nicht anders war.

Erst etwa fünfzehn Jahre nach dem allerletzten der – meist – sinnlosen Besäufnisse startete ich einen neuen Anlauf. Ich war inzwischen 43 und von der Mutter meines Sohnes noch relativ frisch getrennt. Da darf man auch ´mal überlegen, wohin man im Leben noch möchte. Um den Neuanfang zu unterstreichen, sollte es ein neues Instrument sein.

Seitdem habe ich zwei Gitarren als Dekorationselemente in der Wohnung herumstehen.

Immerhin aber hatte ich wiederum einiges gelernt:

a) Selbst mit 43 Jahren kann es passieren, dass man den beim Erlernen eines Instrumentes nicht ganz unerheblichen Faktor Zeit unterschätzt.

b) Da das Internet nicht nur randvoll mit Tipps und Tricks und Tutorials für Anfänger des Gitarrespielens ist, findet man sich schnell auf Seiten mit Tipps und Tricks und Tutorials in Sachen Zeitmanagement wieder.

c) Die meisten Ratschläge in Sachen Zeitmanagement sind für Normalsterbliche Zeitverschwendung.

Nachdem ich also eine Weile damit verbracht hatte, zu überlegen, welche meiner täglichen Aufgaben ich delegieren könnte und vor allem an wen überhaupt, kam ich zu dem Ergebnis, dass mein Spiel auf der Gitarre auf diese Weise ebenfalls nicht besser würde. Die Kapitulation: Den Stau an unerledigten Aufgaben in Haushalt und Hobby würde ich nicht durch das Beginnen weiterer zeitintensiver Hobbys auflösen. Ich benötigte keine Strategien, Zeit sinnvoll einzuteilen. Ich benötigte mehr Zeit. Wenn das nicht ging, benötigte ich weniger Hobbys.

Auch wenn sich an diesem Grundzustand bis heute nichts geändert hat, war ich vor einem halben Jahr so wahnsinnig, mich bei der Volkshochschule für einen Anfängerkurs anzumelden. Dieser Rahmen schien mir geeignet, zu überprüfen, ob das mit mir und meiner Gitarre noch eine Zukunft haben kann. Wenn ich es nicht schaffen würde, regelmäßig zu üben, obwohl ich dann vor Kursleiter und anderen Teilnehmern als der Idiot dastehe, der dauernd seine Hausaufgaben nicht macht, würde ich dieses Engagement in diesem Leben auch sonst nicht aufbringen. Also angemeldet, bevor der Kurs am Ende schon voll ist.

Eine Woche vor dem ersten Termin wurde meine Motivation leicht gebremst: Mangels Masse an Teilnehmern fiel der Kurs aus.

Es scheint zu meinen wenigen Kernkompetenzen zu gehören, mich immer wieder für Volkshochschulkurse anzumelden, die nicht zustande kommen. Das mag daran liegen, dass ich mich tendenziell für abseitigere Themen begeistern kann: Lachyoga, Körpersprache, Clownsworkshop – alles Beispiele aus den letzten Jahren, auf die sich eben außer mir nicht genügend Andere gefreut hatten. Ich warte darauf, bis mir die VHS irgendwann vorab ihr Kursprogramm vorlegt und alles, was mich interessiert, wegen zu geringer Erfolgsaussichten umgehend aus dem Verzeichnis streicht.

Steuerrecht für Selbstständige hatte stattgefunden. Dort habe ich seinerzeit meine Vermögensberaterin kennengelernt – eine Information, die für diesen Text freilich nur insofern relevant ist als ich gerne noch folgende Anekdote unterbringen wollte: Wer über meine Vermögensverhältnisse nur ansatzweise Bescheid weiß, ahnt bereits, dass die Kombination ich und Vermögensberatung keine weitere Pointe benötigt. Die Durchsicht meiner Unterlagen wird ihr die Tränen in die Augen getrieben haben. Trotzdem melden sich bis heute alle paar Jahre fremde Menschen bei mir, weil sie den Kundenstamm von jemand übernommen haben, der zuvor mit mir in etwa so viel Glück gehabt hat wie ich mit meinen Anmeldungen zu VHS-Kursen. Weil der Kurs „Ich lerne, Nein zu sagen“ seinerzeit nicht stattgefunden hat, ermögliche ich dann einen Termin. Dass ich hinterher in der Regel nichts mehr von diesen Leuten höre – nennen wir es Zufall.

Man könnte nun in Versuchung geraten, darüber zu sinnieren, ob das Schicksal es für mich vielleicht nicht vorgesehen hat, Gitarre zu spielen, sondern mein Talent eher bei solchen Dingen wie Schreiben aufgehoben sieht. Trotzdem habe ich es wieder probiert. Ein Semester später. Wir sind im Jetzt angekommen. Der erste Termin fand an einem Mittwochabend im März statt. Ein neuartiges Virus sorgte anschließend dafür, dass bis auf weiteres kein weiterer Termin stattfindet.

Gemessen daran, welche Einschränkungen diese spezielle Situation uns noch abverlangt, gehört ein Gitarrenkurs zu den letzten Dingen, die mich in Aufregung versetzen. Nachdem ich dreißig Jahre darauf gewartet habe, mit dem Lernen richtig anzufangen, kommt es auf ein halbes Jahr dann nun wirklich nicht mehr an. Worauf es ankommt: die Krise irgendwie solidarisch zu überstehen. Dass selbstgemachte Musik ein kleiner Bestandteil solcher Praktiken sein kann, zeigt das Phänomen der Balkonkonzerte. Mangels Balkon und mangels Können wird mein Wohnumfeld auf meinen Beitrag dazu allerdings verzichten müssen. Auf eine Neuauflage dieser Erscheinungen zu einem späteren Zeitpunkt würde ich im Sinne der Allgemeinheit trotzdem sehr gern verzichten. In diesem Sinne: Alles wird gut!

Nüsse für Deutschland

Wenn man sich auf der Arbeit die Frage „Was mache ich hier eigentlich“ stellt, lag bis vor ein paar Tagen die Erklärung nahe, der normale Wahnsinn des betrieblichen Alltags hätte dieses Grübeln ausgelöst. Nach neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen kann es allerdings auch einfach bedeuten, dass Frühstück oder Pausenbrot zu fettig gewesen sind. Eine Studie einer australischen Universität nämlich stellte kürzlich genau dieses fest: Lebensmittel mit hohem Anteil an Zucker oder gesättigten Fetten machen nicht nur dick, sondern auch vergesslich.

So ändern sich die Zeiten. Früher musste man noch regelmäßig Alkoholika konsumieren, um die Hirnleistung zu drosseln. Heute reicht dazu eine Packung Chips am Abend.

Ich dachte mir noch, es könne unmöglich ein Zufall sein, dass ich eine solche Meldung lese, während ich mir gerade den dritten Kreppel des Tages ´reinzimmere. Jedoch hatte ich aus irgendeinem Grund ein Biss-chen später schon wieder vergessen, was genau mir eigentlich mein schlechtes Gewissen verschafft hatte.

Als ich die Meldung also ein zweites Mal las, kam auf einmal Neid in mir auf. Milchshakes und belgische Waffeln zum Frühstück! Ein Forschungsdesign, wie ich es selbst nicht hätte besser entwerfen können! Warum darf ich nicht ´mal an einer solchen Studie teilnehmen?

Schon seit Jahrzehnten suche ich nach einer angemessenen Möglichkeit, mich beziehungsweise meinen geschundenen Körper in den Dienst der Wissenschaft zu stellen. Ich verehre die Wissenschaft. Sie hat uns segensreiche Erfindungen wie Buchdruck, Tonträger und das world wide web beschert. Zwar wurden auch etliche Erfindungen und Erkenntnisse mit fragwürdigem (z.B. Flugpanzer) oder unanständigem Nutzen (Atombomben) hervorgebracht. Gelegentlich gingen den Ingenieuren auch komplett die Gäule durch; das Resultat waren Dinge wie Indoor-Sonnenuhren oder Badewannen mit Tür. Aber in letzter Konsequenz speist sich aus der Tatsache, dass sich solcher Klimbim am Ende nicht durchgesetzt hat, die Hoffnung, die Gesellschaft stehe eventuell doch nicht ganz so dicht am Abgrund wie man manchmal vermuten könnte.

Dass wir durchschnittlich immer älter werden – ein Verdienst der Wissenschaft. Dass wir manchmal keine vernünftige Antwort mehr darauf geben können, warum man so alt werden sollte – nun ja, irgendwas ist bekanntlich immer. Richtige Wissenschaft jedenfalls bringt die Menschheit weiter oder hat zumindest das Potential, sie komplett zu zerstören. Geisteswissenschaften dagegen, am Ende sogar Gesellschaftswissenschaften, bringen Gedanken, Ideen hervor, aber nichts, was der Gesellschaft einen wirklichen Nutzen bringt. Tragischerweise kam mir diese Einsicht erst, nachdem ich eine dieser Klamaukwissenschaften zum Abschluss gebracht hatte.

Denn was habe ich als Politologe davon, dass ich die Zustände umfassend analysieren kann, wenn sich außer zwei bis drei Anderen, die wahrscheinlich ebenfalls Politologen sind, keine Sau dafür interessiert, was ich zu sagen habe?! Wenn sich gefühlte Mehrheiten in ihrem Urteil lieber auf Informationen verlassen, die der Arbeitskollege eifrig teilt, in einfachster Sprache serviert, dafür mit maximaler Kompatibilität zur (all-)gegenwärtigen Skandalisierungs-Kultur, sind deren Hirne oft bereits so degeneriert, dass zwei Rippen Schokolade zusätzlich am Ende auch keinen Unterschied mehr machen. Dem Normaldenkenden dagegen stellt sich erneut die Frage: „Was mache ich hier eigentlich?“ Frust macht sich breit, und das noch immer beste Mittel gegen Frust ist und bleibt: Schokolade. Irgendwann schließt sich jeder Kreis.

Aufgrund des neu erworbenen Wissens, dass zu viel Zucker vergesslich macht, gewöhne ich mir aktuell an, ausschließlich Schokolade mit ausreichend Nüssen zu essen: Nüsse verbessern das Denkvermögen und das Gedächtnis, bauen Stress und Aggressionen ab und wirken sich positiv auf Psyche und Stimmung aus.

Man könnte also im Prinzip anfangen, zunächst die neuen Bundesländer, später auch den Rest der Republik großzügig mit Nüssen zu versorgen und hätte daraufhin eventuell manches Problem gelöst, über das sich Gesellschaftswissenschaftler bereits jahrzehntelang den Kopf zerbrechen. Nur so eine Idee, die einem eben kommt, wenn man an einem Donnerstagabend um 23.57 Uhr an einem Text arbeitet.

Als Chronist des Weltgeschehens muss ich an dieser Stelle allerdings pflichtgemäß darauf hinweisen: Erdnüsse sind keine Nüsse, heißen aber so. Kokosnüsse – dito. Erdbeeren oder Himbeeren dagegen sind Nüsse, heißen aber Beeren. Zu den Beeren wiederum zählen unerwartet Bananen, Kiwis und sogar Melonen ebenso wie allerhand Gemüse, das man in dieser Kategorie nicht vermutet hätte: Kürbis, Zucchini oder Gurken. Da hat die Botanik dem Sprachgebrauch nicht nur einmal ein Bein gestellt. Wäre der Text hier zu Ende, müsste das Fazit demnach lauten: Botanik ist beinahe genauso sinnlos wie Politikwissenschaften. Damit nicht genug, kommt am Ende der nächste um die Ecke und behauptet: Erdnüsse sind doch Nüsse. Wer soll denn da noch durchblicken? Das Bild, das ich mir von der Welt zu malen pflegte seit Kindheitstagen, als die Frage „Was mache ich hier eigentlich“ noch keine Rolle spielte – es gerät ins Wanken. Am Ende ist womöglich sogar der Walfisch gar kein Fisch?!

Weil also selbst Sachverhalte von eher bescheidener Komplexität schon kaum noch zu durchschauen sind, sehnen sich die Leute nach einfachen Antworten. Wo ein „Danke Merkel“ reicht, um die Gesellschaft allumfassend zu erklären, schaut der Politologe dumm aus der Wäsche.

Das alles sollte man im Blick behalten, wenn man sich demnächst beim dritten Kreppel oder bei jedweder anderen Gelegenheit wieder einmal fragt: Was mache ich hier eigentlich?

Ich könnte zu dieser Thematik noch so viele andere Dinge schreiben – wenn sie mir nicht gerade entfallen wären. In diesem Sinne: Nüsse auf Deutschland!

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