Aufzeichnungen aus der Wirrnis des Alltags

Monat: August 2019

Schluss mit lustig

Kaffee, Bärte und Selbstbefriedigung. Dazu die Evergreens Dating, Paketfahrer, Kollegen und andere Haustiere – angesichts der Themen, die hier im Blog stattfinden, erübrigt sich die Frage, an welcher Stelle genau das alles in Zynismus umgeschlagen ist. Eher sollte man ergründen, ob man sich diesem Stoff überhaupt anders nähern kann. Um allerdings für die Zukunft zu vermeiden, dass sich erneut an meiner Person interessierte potentielle Partnerinnen nach und nach oder von jetzt auf gleich zurückziehen, nachdem sie von meinem wöchentlichen Veröffentlichungen nachhaltig abgeschreckt wurden, habe ich seit einigen Wochen die Positiv-Offensive gestartet: Wer ernst genommen werden will, muss die Leute zum Lachen bringen.

Lachen. Der große Louis de Funès bescheinigte dieser Gefühlsregung, sie sei für die Seele dasselbe wie Sauerstoff für die Lungen. Ein anderer bedeutender Weltstar der Filmgeschichte befand, ein Tag ohne Lachen sei ein verlorener Tag. Vielen Dank an Charlie Chaplin für diese unmissverständlichen Worte! Wenn etwas aus so berufenem Munde zu vernehmen ist, bin ich geneigt, gut zuzuhören. Vielleicht ist da was dran. Vielleicht kann ich von dem Kollegen, der die Probleme auf der Arbeit immer meint weglachen zu müssen, mehr lernen als ich zuzugestehen bereit bin. Vielleicht ist sogar das Konzept, wonach gut gelaunte Kollegen gute Arbeitsergebnisse abliefern, im Kern ganz gut, von mir nur schlecht umgesetzt. Wer weiß das schon so genau?

Da gerade besagte Kollegen bestätigen werden, dass mich Humor nicht bedingungslos durchs Leben trägt, ist die Frage berechtigt: Darf jemand wie ich überhaupt ein Plädoyer fürs Lachen schreiben?

Unbedingt darf und sollte er das sogar!

Noch mehr „vielleicht“: Vielleicht ist mein Vorhaben, mir den Spaß im Leben zurückzuerobern, das, was man gemeinhin als „ambitioniert“ beschreibt, wenn man eine leichte Skepsis über die Erfolgsaussichten ausdrücken möchte. Vielleicht ist mancher meiner Teilerfolge noch ausbaufähig.

Vielleicht wird es noch hin und wieder unglaubwürdig klingen, wenn ich behaupte, mich bei einem Stand-Up-Comedy-Set glänzend amüsiert zu haben, weil man mir das währenddessen nicht direkt angemerkt hat, wie meine Begleiter hinterher richtig anmerken und meine Bemerkung daher eher stirnrunzelnd registrieren. Was soll´s – irgendwann werde ich über so etwas lachen können.

Zurück von den Bühnen der Kleinkunst zur großen Bühne des Lebens: Lachen ist ansteckend. Aus diesem Grund werden bei Sitcoms Lacher eingespielt, damit auch diejenigen, die keine Freunde haben, beim Zuschauen etwas zu Lachen haben. Problematisch wird das Anstecken in der Regel erst dadurch, dass in Gesellschaft oft genug Dinge als witzig empfunden werden, über die man sich alleine mit einer gewissen Berechtigung kaum amüsieren würde.*

Lachen über unlustige Sachverhalte kommt aber nicht nur in solchen gruppendynamischen Prozessen vor. Mindestens genauso enerviert mich inzwischen folgendes Szenario: Unlustiger Typ – unlustiger Spruch – eine ihn anhimmelnd gickelnde Frau. Nennt mich unlustig, aber auch das schönste Lachen der Welt wird mich nerven, wenn der Kontext ganz und gar nicht witzig ist. Darüber kann ich nicht lachen. Da käme ich mir komisch vor.

Es gibt allerdings auch Menschen, welche die Natur mit einem Lachen ausgestattet hat, das an sich schon jenseits von Gut und Böse ist und das sich in der Rangliste verstörender Geräusche recht weit oben irgendwo zwischen Laubbläsern und Schlagermusik wiederfindet. Und mit Lärmbelästigung ist es ja so eine Sache. Wenn auf Anweisung eines Gerichts sogar ein Pfau vom Gelände eines Geflügelzuchtvereins entfernt werden muss, weil sich ein zugezogener Nachbar in seiner Nachtruhe gestört fühlt, während andererseits regelmäßig geduldet wird, dass zur selben Zeit am selben Ort von frühmorgens bis spätabends Flugzeuge über unsere Köpfe hinweg düsen, möchte ich es bei aller Abneigung ehrlich gesagt nicht auf einen Versuch ankommen lassen, den Inhaber eines allzu nervigen Lachens vor ein deutsches Gericht zu zerren. Lachen nur zu bestimmten Zeiten oder am Ende doch zum Lachen in den Keller gehen – da wäre schnell Schluss mit lustig.

Die Vermutung liegt nahe, dass exakt solche Begebenheiten nicht unwesentlich dazu beigetragen haben, dass bei mir irgendwann vieles in Zynismus umgeschlagen ist.

Und ich hatte ursprünglich schon wieder die Kollegen verdächtigt, dafür verantwortlich gewesen zu sein.

*Wer mag, darf an dieser Stelle gern Fasching assoziieren. Es besteht allerdings keine Verpflichtung dazu.

Mogadischu statt Moussaka

Dass ein Mensch auf die Frage nach dem Sinn des Lebens im Laufe desselben unterschiedliche Antworten kreiert, liegt durchaus im Bereich des Zulässigen. Daher sollte ich mit mir selbst nicht allzu hart ins Gericht gehen, wenn ich über eine der zweifelhaftesten Reaktionen berichte, die mir in meinem noch jungen Leben jemals zu diesem Thema eingefallen ist: Griechisch lernen.

Natürlich weiß man es im Nachhinein besser. Doch wenn man nach einer Trennung die Abende nicht mehr gemeinsam überwiegend schweigend vor dem Fernsehgerät verbringt, sondern man alleine scheinbar sehr viel Zeit hat, darüber nachzudenken, wohin man im Leben noch möchte, zieht man nicht zwangsläufig die Möglichkeit in Erwägung, dass das Erlernen einer fremden Sprache eher Ablenkungsmanöver als tatsächliche Antwort auf diese Frage sein könnte.

Die Entscheidung, eine Sprache zu lernen, kommt selten aus dem Nichts. Bei mir schon. Sicher – aus Schulzeiten, die zu jenem Zeitpunkt allerdings auch bereits ihre guten 20 Jahre zurücklagen, wusste ich um eine gewisse Begabung, was Sprachen betrifft. Dummerweise lehrten mich die Erfahrungen auf dem Weg zu meiner allgemeinen Hochschulreife auch, dass – der Begriff legt es schon nahe – heutzutage die allermeisten Sprachen dazu da sind, dass man sie auch spricht. Ohne dieses Dilemma wäre ich in der Schule wohl erst richtig gut in Englisch und Französisch gewesen. So war es eben nur mittelprächtig.

Da ich aufgrund meines Konsumverhaltens der vergangenen Jahrzehnte auch nicht direkt als jemand bekannt war, der gern und häufig verreist, war mein Lernwille auch damit nicht plausibel zu begründen. Gegenüber fußballaffinen Freunden gab ich an, vielleicht doch irgendwann einmal wieder ein Auswärtsspiel der Eintracht besuchen zu wollen. Da die Eintracht regelmäßig der 2. Liga näher als den europäischen Startplätzen war, ahnte inklusive mir selbst niemand, wie weitsichtig diese kühne Aussage in Wahrheit gewesen ist.

Die Wahrheit ist allerdings auch, dass ich zu keinster Zeit geplant hatte, überhaupt jemals Gegenden zu bereisen, deren Erreichung in vertretbarer Zeit das Besteigen eines Flugzeugs erfordern würde.

Als jemand, der sich an der Kasse grundsätzlich in der falschen Schlange einreiht, wäre ich nämlich prädestiniert dafür, bei meiner ersten Flugreise in einer Maschine zu sitzen, die abstürzt oder entführt wird und am Ende in Mogadischu landet. Und so sehr ich mit den Entführern eventuell sogar mit ihrer Ansicht übereinstimme, dass in unserer Gesellschaft einiges nicht rund läuft, so sehr ich sogar bereit wäre, auf vieles – inklusive Flugreisen – zu verzichten, um das alles etwas gerechter zu gestalten, würde mir die Solidarität an diesem speziellen Punkt dann doch etwas zu weit gehen. Auch dass eine gezielte Kugel in den Schädel in Bezug auf die nach wie vor unbeantwortete Frage nach dem Sinn des Lebens für mehr Klarheit sorgt, kann ich mir nur schwer vorstellen. Fast schon zur Nebensache gerät vor diesem Hintergrund, dass mich in Mogadischu selbstredend Griechisch keinen Schritt weiterbringen würde.

Meine Sorge mag unbegründet sein, die Statistik gegen mich sprechen. Andererseits ist auch nicht von der Hand zu weisen, dass meine Strategie des Nichtfliegens mich bislang jedenfalls relativ zuverlässig davor bewahrt hat, Opfer eines Flugzeugabsturzes oder einer Flugzeugentführung zu werden.

Bis zur Mitte dieses Textes habe ich also keinen vernünftigen Grund geliefert, wieso ich auf Griechisch kam. Demnach liegt die Vermutung nahe, dass eine Frau im Spiel war. In der Tat war meine neue griechische Nachbarin sehr süß und durch ein paar Brocken in einer ihr vertrauten Sprache garantiert maximal zu beeindrucken.

Das erklärt zwar noch nicht, wieso ich zur gleichen Zeit angefangen habe, auch noch Niederländisch zu lernen, aber das hört sich wenigstens nicht nur lustig an, solange es man nicht gut beherrscht, sondern eigentlich immer. Für deutsche Ohren klingt Niederländisch immer so, als hätten ihre Sprecher gerade außerordentlich viel Spaß.

Es klingt auch so, als würden sie gerade beim Essen sein und sich in keinster Weise daran stören, mit vollem Mund zu sprechen.

Neben der Erkenntnis, dass, wer in Offenbach lebt, jede Sprache irgendwann einmal wird anwenden können, war mein Interesse an den beiden Sprachen womöglich schlicht und ergreifend unter anderem auch ein verzweifelter Versuch der Beweisführung, dass ich überhaupt noch in der Lage bin, etwas Neues zu lernen.

Ich investierte also über ein Jahr lang täglich 90 Minuten meiner Zeit, von der ich alsbald feststellte, dass ich von ihr doch nicht so viel zur Verfügung hatte wie ursprünglich angenommen. 90 Minuten, 85 davon lernte ich Vokabeln, weil der Ansatz bestechend logisch klang, wonach ein Kind auch ohne jegliches Lernen von grammatikalischen Regeln automatisch irgendwann in der Lage ist, korrekte Sätze zu bilden.

Irgendwann recht spät stellte ich fest, dass ich im Alltag eindeutig zu wenig Griechisch und Niederländisch hörte, um mit dieser Methode nachhaltige Erfolge zu erzielen.

Ich habe meine Vorgehensweise daraufhin etwas modifiziert. Unnötig zu erwähnen, dass mich auch dieser Kurswechsel meiner Nachbarin nicht näher gebracht hat. Hätte ich die gleiche Zeit darauf verwendet, meine nur gering ausgeprägten handwerklichen Fähigkeiten zu verbessern, hätte ich definitiv einen größeren Eindruck bei ihr hinterlassen. Und ohne jetzt noch tiefer in das Regalfach mit den Geschlechterklischees greifen zu wollen – auch die Annahme, dass es vielen Frauen im Grunde nicht ganz ungelegen kommt, wenn durch mangelnde Sprachkenntnisse des Gegenübers ihre eigene Redezeit nicht gar zu sehr eingeschränkt wird, ist durch diese Episode eher bestätigt als widerlegt.

Nicht zuletzt der Start dieses Blogs und die dadurch erforderliche Neueinteilung meiner zeitlichen Ressourcen haben dem Projekt des Sprachenlernens dann endgültig den Todesstoß versetzt. Zumindest an der sukzessiven Verbesserung der eigenen Sprache wird seitdem aktiv gearbeitet. Und dass mich das Schreiben an sich meinem persönlichen Daseinszweck etwas näher gebracht hat als Griechisch oder Niederländisch, ist schwer zu bestreiten.

Lebe bunter

Zuversicht und Daseinsfreude müssen in die Köpfe und in die Texte! Wo in der Vergangenheit viel zu häufig von Dingen die Rede war, die man bereut, soll es im Zuge der Verbreitung von Optimismus und positiver Energie als Einstieg heute um eine Angelegenheit gehen, die ich nicht bereut habe:

Früher waren Tattoos etwas für harte Jungs. Angesichts der Existenz ganzer Berufsbranchen, in denen man heutzutage schräg angesehen wird, wenn man nirgends ein Tattoo hat, wirkt es fast befremdlich, dass man vor etwas über 30 Jahren noch riskiert hat, nirgends eine Arbeit zu bekommen, wenn man irgendwo Anker, Rose und Co gar zu offen präsentierte. Das Stigma lautete: Außer Seemännern haben nur Knastbrüder Tätowierungen. Also nur die ganz Harten.

So wie ich einer war.

Zumindest sah ich selbst mich seinerzeit auf dem bestem Weg, einer zu werden. Damals, in dieser anstrengenden und nur in der Rückschau lustigen ersten Phase der Selbstfindung. Wo in anderen Gegenden dieser Erde Kinder zwischen 13 und 15 Jahren zwangsläufig zu den ganz Harten gehören mussten, wenn sie überleben wollten, kam ich als unschuldiger Bub mit meinem siebenreihigen Nietenarmband um die Ecke. Wohlbehütet genug, dass ich das Teil vor meiner Mutter verstecken musste und es auf dem Schulweg zur Sicherheit erst außer Sichtweite meines Zuhauses angezogen habe. Da baumelte es dann uninspiriert um mein Handgelenk, weil auch das engste Loch dieses identitätsstiftenden Stücks für meine zarten Ärmchen noch viel zu weit gewesen ist.

Im weiteren Verlauf meiner Entwicklung hatte ich die Furcht vor der Reaktion meiner Eltern relativ schnell, also nach zwei weiteren Jahren, etwas abgelegt. Ein harter Junge war ich immer noch. Eigentlich war ich sogar härter denn je zuvor, denn ich hörte inzwischen Rockmusik mit verzerrten Gitarren und Texten über Tod und Teufel, die vorwärts abgespielt um einiges extremer waren als die angeblichen geheimen Botschaften, die sich dem Hörer offenbaren sollten, wenn er sie rückwärts abspielt. Ein Tattoo hätte mir demnach gut zu Gesicht gestanden, fand ich. Wobei meine erste Wahl mit Sicherheit eine unauffälligere Körperregion als das in der Redewendung genannte Antlitz gewesen wäre.

Farbe bekennen: Bier statt Tinte

Gerade weil ich aber in der Zwischenzeit noch härter geworden war, hatte ich unterdessen eine andere Möglichkeit gefunden, dem Rest der Welt zu demonstrieren, wie hart ich war. Außer für Tonträger ging mein Taschengeld fortan in erster Linie für Bier drauf. Abgesehen davon, dass vor dreißig Jahren nicht an jeder Ecke ein Tattoo-Studio war, hätte ich also auf etwas verzichten müssen, das ich gerade erst liebgewonnen hatte. An eine professionell durchgeführte Körperverschönerung war unter diesen Umständen nicht zu denken. Und wie es aussieht, wenn irgendein Freund selbst Hand anlegt, hatte ich ja an meinem Bruder beobachten können, der ungefähr zu der Zeit meiner unrühmlichen Nietenarmband-Episode seine erste Tätowierung präsentiert hatte.

Im Nachhinein kann jeder der Beteiligten absolut nachvollziehen, dass meine Eltern darüber nicht amüsiert sein konnten. Verunstaltet wäre noch einer der harmloseren Ausdrücke für das, was er da seinem Körper angetan hat.

Wer sich auch nur ein kleines bisschen mit der Ästhetik des Heavy Metal auskennt, wird eine Ahnung davon haben, wie erleichtert ich heute darüber bin, in dieser Phase meines Lebens nicht das Budget für wenigstens eine kleinflächige Körpermodifikation gehabt zu haben. Das Argument, dass auch Tattoos, die einem später peinlich sind, trotzdem zu seinem Träger gehören wie die Lebensphase, in der sie entstanden sind, mag ja schlüssig klingen.. Trotzdem sehe ich Drachen, Schwerter, Dämonen und dergleichen mehr auf Plattencovern einfach besser aufgehoben als auf meinem Körper. Und die Möglichkeit, solche Motive auf Band-Shirts zur Schau zu tragen und sich ihrer zu entledigen, wenn die Phase vorüber ist, hat mir in diesem Fall wenngleich nicht den Arsch, dafür aber diverse andere Körperteile gerettet. Für jemand, der sonst gern ´mal mit sich und der Welt hadert, weil die verkehrte Entscheidung getroffen wurde und es auf der Welt ohnehin ungerecht zugehe, eine echte Genugtuung.

Je ne regrette rien

Ohne die Sorge, ein bestimmtes Motiv könnte nach einer gewissen Weile einfach nicht mehr zeitgemäß für den Träger sein, wäre es heutzutage verdammt einfach: Das Argument, auch das schönste Bild sehe auf dem faltigen Körper eines 60-Jährigen nicht mehr schön aus, wurde mit dem lapidaren Hinweis, dass im Alter auch manches andere nicht mehr so heiß aussieht wie ehedem, längst entkräftet. Zudem sind die Bemalungen in den letzten 30 Jahren einfach gesellschaftsfähig geworden.

Was andererseits neue Probleme mit sich brachte: Sollten Tätowierungen tatsächlich jemals ein Ausdruck von Individualität gewesen sein, sind sie es spätestens seit ihrem gesellschaftlichen Durchbruch definitiv nicht mehr. Wer sich noch an die liebevoll, aber zutreffend als „Arschgeweihe“ bezeichneten Tribals am Steiß erinnern kann, weiß was ich meine. Die waren am Ende so originell, dass sie jeder einfach nur noch weghaben wollte. In kleineren Dimensionen wiederholte sich das mit Delfinen am Knöchel, Sternen und später Unendlichkeitsschleifen an jeder erdenklichen Stelle. Würden die Betroffenen zugeben, dass sie sich ihr unwahrscheinlich individuelles Motiv abgeschaut haben, anstatt es als das Resultat eines wahnsinnig kreativen Prozesses, wäre am Ende des Tages auch wenig bis nichts dagegen einzuwenden.

Seinen ursprünglich einmal gedachten Zweck, ihren Träger aus der Masse aller anderen herauszuheben, erfüllt das Tattoo daher bereits seit längerem nicht mehr uneingeschränkt.

Wo niemand mehr an der Körperkunst Anstoß nimmt, nimmt man auch generell nicht so viel Notiz davon. Das Besondere verschwand ab exakt dem Moment, in dem gefühlt jeder mindestens ein Bild zur Schau trug. Wie ernüchternd muss die Erkenntnis wirken, dass die einzigen, die sich für Dein Tattoo interessieren, andere Tätowierte sind, die dann ihrerseits bereitwillig ihre Kunstwerke vorzeigen. Hat etwas von Schwanzvergleich, würde ein guter Freund von mir an dieser Stelle urteilen. Was durch den Umstand, dass zumindest in Deutschland die Mehrheit der tätowierten Menschen inzwischen Frauen sind, eine besondere Note erhält.

Spätestens an dieser Stelle haben wir uns maximal von den Zeiten entfernt, in denen Tattoos noch eine Angelegenheit für harte Jungs waren.

Da ich sowieso niemals zu dem harten Jungen geworden bin, der ich eigentlich hatte werden wollen, habe ich heute genau genommen sogar doppelten Grund zu der Behauptung, nichts zu bereuen.

To do or not to do

Jeder tut es.

Wenn ein Text von mir mit diesem Satz eingeleitet wird, gehen die Erwartungen mancher Leser vermutlich in Richtung einer Pointe, die in irgendeiner Weise mit Autoerotik zu tun hat. Doch weit gefehlt! Die Rede ist vielmehr vom Aufschieben bestimmter Tätigkeiten. Wie so häufig entstand das Thema aus persönlicher Betroffenheit, hat also mit dem Thema Selbstbefriedigung dann doch zumindest diese eine Gemeinsamkeit. Unbefriedigend dagegen waren die letzten Monate in Bezug auf meine Blogeinträge. Zu erwarten, dass deren Qualität nämlich besonders gut ist, wenn ich die Nacht vor Veröffentlichung nur besonders lang daran arbeite, bis ich besonders müde bin, wäre auch besonders töricht. Dazu muss man nicht besonders clever sein.

Jeder tut es.

Aus der Erkenntnis, dass sich nicht jeder in der komfortablen Situation befindet, unangenehme Arbeiten an die Ehegattin oder unbeliebte Kollegen zu delegieren, erwuchs die Hypothese, dass jeder Mensch aufschiebt, sobald eine Aufgabe nur unattraktiv genug erscheint. Insofern muss lediglich noch gewöhnliches Aufschieben und pathologisches Prokrastinieren auseinandergehalten werden.

Wesentliches Merkmal von Beidem ist eine leidenschaftliche Hingabe an alle möglichen Dinge außer denen, deren Erledigung momentan eigentlich am dringendsten wäre.

Die Probleme fangen damit an, dass es in keinster Weise unvernünftig oder abnorm, sondern zutiefst menschlich klingt, wenn zuerst Tätigkeiten erledigt werden, die mehr Befriedigung verschaffen oder wenigstens versprechen. Mehr Wollen und weniger Müssen hätte ja nicht nur individuell, sondern auch als gesamtgesellschaftliche Perspektive durchaus seinen Reiz.

Weil das Leben jedoch nur gar zu selten nach Plan läuft, funktioniert auch das Aufschieben nicht nach dem idealtypischen Schema: Man entscheidet sich, dieses heute nicht, sondern lieber sich selbst einen schönen Tag zu machen – Ende der Diskussion.

Leider muss man stattdessen davon ausgehen, dass einem irgendwann im weiteren Verlauf des Tages und nicht selten dann, wenn es gerade richtig schön zu werden verspricht, das schlechte Gewissen auf die Schulter tippt und vorwurfsvoll anmerkt: „Du weißt schon, dass Du hier eigentlich gar nicht sein solltest..?!“

Jeder tut es.

Eine gewisse Zeit lang kann man damit eventuell ganz gut leben. Allerdings arbeitet die Zeit im Regelfall nicht für, sondern gegen einen, so dass man eines unschönen Tages von der mehr oder minder erfolgreich vertagten Arbeit sowieso wieder eingeholt wird.

Es liegt auch auf der Hand, dass das allabendliche Gefühlt, wieder einmal unter seinen Möglichkeiten geblieben zu sein, sich auf das Selbstwertgefühl nicht direkt förderlich auswirkt. Spätestens ab diesem Moment bemerkt man den ersten Unterschied zu jemandem, der einfach nur faul ist und das Fernsehprogramm ohne jeglichen Anflug von Unzufriedenheit mit sich selbst einfach nur genießt. Die Ungerechtigkeit, dass ebendieser Faule seinen Akku schneller wieder aufgeladen hat als man selbst durch Ausführen besagter Ersatzhandlungen inklusive anschließendem Frust, gibt es zu dem unguten Gefühl noch obendrauf. Vielen Dank dafür!

Da sich zu den nicht erledigten im Normalfall zusätzlich neue Aufgaben gesellen, entwickelt sich unter bestimmten Umständen ein gewisser Stau, der irgendwann tatsächlich zu einem Problem werden kann. Diese gelebte Unordnung ist dann häufig der Ausgangspunkt für eine behandlungswürdige Prokrastination.

Mögliche Tätigkeiten, welche die Beschäftigung mit den eigentlichen Aufgaben verhindern, sind vielfältig. Sie müssen keineswegs zwangsläufig echte Stimmungsaufheller sein; in aller Regel ist es völlig ausreichend, auch nur ein kleines bisschen attraktiver zu sein als die Aufgabe, von der sie ablenken sollen. Während des Studiums (als angehender Sozialwissenschaftler gehörte ich ohne es zu wissen einer der Hauptrisikogruppen schlechthin an) war ein probates Mittel, dem Schreiben einer Hausarbeit aus dem Weg zu gehen, noch mehr über das Thema zu lesen. Wurde das zu langweilig, gab es andere Themen, über die ich zwar nichts schreiben musste, die aber auch interessant waren. Wurde ich des Lesens komplett überdrüssig, ging ich in die Kneipe. Dass meine heutigen Strategien (Blumengießen, Kater kraulen, Katzenvideos) demgegenüber der Weisheit letzter Schluss sind, würde ich allerdings auch nicht ohne Zögern zu Protokoll geben.

Anderes Beispiel: Wenn Ende Mai die Steuererklärung abzugeben ist, verschwendet man durchschnittlich ab März die ersten Gedanken daran. Weil es außer der Pflicht zur Abgabe oder einer erwarteten Erstattung nicht einen einzigen guten Grund gibt, sich mit diesen Formularen auseinanderzusetzen, ist durch ständiges Suchen nach Ersatzhandlungen im Laufe einiger Jahrzehnte der Frühjahrsputz entstanden.

Ich kenne niemanden, und es gibt wahrscheinlich in dieser Republik auch niemanden, der Anfang des Jahres so sehnsüchtig auf die neuen Steuer-Formulare wartet wie andere auf eine neue Staffel der gerade angesagtesten Serie. Bei aller Rest-Skepsis gegenüber dem Zustand unserer Gesellschaft würde ich in diesem Punkt sogar einen Hinweis sehen, dass sie am Ende doch noch nicht so krank ist wie man allenthalben vermutet.

Dabei dauert das Anfertigen der Steuererklärung für einen Normalsterblichen, wenn sich nicht jedes Jahr Gravierendes an der Einkommenssituation ändert, nicht monatelang. Das dauert auch keine Woche. Das dauert nur dann eine Woche, wenn ich in dieser Woche alles mögliche andere mache.

Doch das Ende des Frühjahrsputzes, wie wir ihn kannten, lauert bereits. Denn als ob das Steuersystem in Theorie und Praxis an sich nicht schon Bestrafung genug wäre, hat man es mit der Verlegung der Deadline auf Ende Juli einfach ´mal so geschafft, wahrscheinlich keinem einzigen Steuerpflichtigen in diesem Land einen Gefallen zu tun. Das muss einem – selbst als Finanzbehörde – erst einmal gelingen. Wenn die Leute Mitte/Ende Juli überhaupt im Land sind, sind sie vermutlich weniger über ihren Steuerunterlagen zu finden, sondern verbringen ihre Zeit eher in Schwimmbad und Biergarten.

Weil das im Hochsommer nämlich jeder tut. Da sitzen Faule, Prokrastinatoren und Sofort-Erlediger ausnahmsweise im selben Boot.

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