Aufzeichnungen aus der Wirrnis des Alltags

Monat: Juni 2018

Zum Sommeranfang

In einer Welt mit wenig Sicher- und umso mehr Ungewissheiten wirkt es beinahe erlösend, zu einem Sachverhalt auch ´mal vermelden zu können: Das steht unumstößlich fest. Kann man Ende Juni vielleicht nicht sicher sagen, wie es mit dem Sommer weitergehen soll, kann man eines aber nämlich sehr sicher feststellen: Meine angestrebte Bikinifigur werde ich diesen Sommer wohl eher nicht realisieren.

Jetzt ist es ja nicht so, dass ich erst vor vier Wochen angefangen hätte mit dem Versuch, das umzusetzen und mich jetzt wundere, dass mir die Zeit wegläuft. Genau genommen arbeite ich seit zwei Jahren an meiner Bikinifigur. Es funktioniert nur einfach nicht. Und wie viele andere bin ich froh, in der Zwischenzeit wenigstens nicht weiter zuzunehmen. Normalerweise kenne ich Abnehmen so: Es beginnt mit dem Vorsatz, 10 Kilo abnehmen zu wollen. 10 Tage später: Nur noch 8 Kilo. Wenn das so weitergeht… Sechs Wochen später: Nur noch 12 Kilo. Frust. So viel Schokolade habe ich gar nicht vorrätig, wie ich meinem Körper zuführen möchte, um die Serotonin-Produktion nachhaltig anzukurbeln.

Angesichts eines solchen Befundes wünsche ich mir regelmäßig meine Kindheit zurück. Nicht weil ich da dünner war. Im Gegenteil war ich da richtig dick. Aber man machte mir Hoffnung, man könne abnehmen, wenn man wächst. Abnehmen ohne etwas dafür tun zu müssen – ein Traum!

Nachdem sich geklärt hatte, dass dieser Traum sich tendenziell nicht bewahrheitet, redeten gute Freunde mir stattdessen die Legende mit den schweren Knochen ein, die für mein Übergewicht verantwortlich seien und nicht etwa der Ranzen, den ich vor mir hertrug. Weniger empathische Klassenkameraden erkannten derweil das riesige Potential des Themas, mich relativ zielsicher auf die Palme zu bringen. Die Lehrer waren ebenfalls unwahrscheinlich sensibel und ignorierten das Thema komplett. Jedenfalls diejenigen unter ihnen, die nicht für Sportunterricht zuständig waren. Wie sollten sie auch ahnen, dass man Jahre später solcherlei Beleidigungen als Mobbing einstufen würde anstatt die durch sie ausgelösten körperlichen Auseinandersetzungen als Rangordnungskämpfe abzutun?

So ändern sich die Zeiten, nicht aber die Probleme. Ich war zwischenzeitlich auch ´mal dünn, aber der Zielkonflikt ist bis heute geblieben: Abnehmen oder gute Laune.

Weil sich nicht nur die Zeiten ändern, sondern auch der Erfahrungshorizont, hat man gelernt, die ganze Angelegenheit gelassener zu betrachten: Zum einen weiß man inzwischen, dass die Ursache für die Übellaunigkeit meistens nicht in einem schlechten Charakter zu suchen ist, sondern einfach nur im Hunger. Zum anderen hinterlässt auch die Erfahrung Spuren, dass einige Frauen regelmäßig alle paar Wochen die eigene Gereiztheit um ein Vielfaches übertreffen. Selbst wenn ich nach einiger Zeit begriff, dass sie dies doch nicht ohne jeglichen Anlass tun, wie ich zunächst vermutete, relativiert das viele der eigenen Unzulänglichkeiten.

Du bist nicht Du, wenn Du hungrig bist

Dass nicht einmal ich ich bin, wenn ich hungrig bin, könnte ein Grund sein, weshalb ich an manchen Tagen auf der Arbeit grundsätzlich nicht ansprechbar bin. Wenn mir nämlich ein Kollege zuerst eine Handvoll Gummibären überlässt und mich erst danach darüber unterrichtet, was nun schon wieder schiefgelaufen ist, sehe ich die Welt schon wieder in anderen Farben.

Entsprechend undankbar wirkte dann, dass ich eines Tages Schokolade und andere Nervennahrung komplett aus dem Lager verbannen musste. Obwohl meine ausufernden figürlichen Probleme nicht der Grund für diese Maßnahme gewesen sind, bin ich ganz froh, dass das Teufelszeug inzwischen außer Reichweite ist. Vor kurzem durfte ich auch erfahren, warum:

Und zwar beansprucht die Lösung kniffliger Aufgaben die gleichen Hirnareale, die üblicherweise zur Selbstbeherrschung benutzt werden. Wenn ich also unwillkürlich immer wieder meine Griffel im Regal mit unseren Naschsachen wiederfand, kann das nur bedeuten, dass meine Ressourcen permanent überfordert sind, weil ich praktisch ständig anspruchsvolle Tätigkeiten verrichte. Im Schönreden steht diese These dem erwähnten Märchen vom schweren Knochenbau in nichts nach. Trotzdem sehe ich die dünnsten und also offenbar diszipliniertesten unserer Aushilfen in einem etwas anderen Licht, seit ich davon gelesen habe.

Es soll natürlich nicht unterschlagen werden, dass es in der Tat Menschen gibt, die sich aus Keksen, Schokolade und Fruchtgummi nichts machen. Es fällt mir zwar schwer, das zu begreifen, aber in meinem tiefsten Innern habe ich sehr großen Respekt vor diesen Leuten.

Weniger bis gar keinen Respekt habe ich vor denjenigen, die lediglich im Sommer keine Schokolade essen.

Wahrscheinlich essen die auch im Winter kein Eis.

Es soll ja nicht darum gehen, sich bei 30 Grad Celsius einen heißen Kakao zu gönnen. Das fände vermutlich selbst ich unangemessen. (Heißer Apfelwein wiederum geht. Beziehungsweise ging. Aber der geht – beziehungsweise ging – ja auch bei Krankheit und in Kombination mit Antibiotika.) Und ich rede auch nicht von einem Schokoriegel, der im Sommer im Auto vergessen wurde und der deswegen komplett flüssig war und beim Verfestigen eine andere Form und dazu eine weiße Oberfläche angenommen hat. Das brauche ich auch nicht. Zumindest nicht, solange Alternativen vorhanden sind. Aber wir schreiben das Jahr 2018. Unsere Wohnungen sind smart, wir haben Kühlschränke, Ventilatoren und Klimaanlagen. Wir sind der Hitze also nicht auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Nichts spricht demnach dagegen, auch im Sommer seinem Bedürfnis nach Schokolade nachzugeben, so es denn vorhanden sein sollte.

So wie ich das alles schreibe, geht mir allerdings allmählich ein Licht auf, wieso es bei mir mit der Bikinifigur seit Jahren nicht funktioniert.

Späte Einsichten

Es kommt nicht über Nacht, aber irgendwann ertappt man sich selbst bei dem Gedanken, beim letzten Rock-Konzert „für den Sitzplatz eigentlich ganz dankbar“ gewesen zu sein. Und hatte man nicht überdies beim selben Ereignis die saubere Toilette zu schätzen gewusst?

Es ist ja nicht so, dass es überhaupt keine Warnhinweise gegeben hätte. Angefangen beim ganz normalen Menschenverstand, dass nicht immer alles so bleiben kann wie es gerade ist. Fortgesetzt bei den Abenden, an denen eine Verabredung fürs Kino bedeutete: Wir gehen ins Kino und anschließend heim und nicht mehr wie früher anschließend in die Kneipe, um bis bis zum Zapfenstreich über den Film, über Gott und über die Welt zu sinnieren. Nicht zuletzt durch das Vorbild älterer Mitmenschen. Nichts, aber auch gar nichts gab berechtigten Anlass zu der Annahme, dass unsere Entwicklung völlig anders verläuft.

Halten wir fest: Wir brauchen inzwischen vier ganze Tage zum Regenerieren von einer Party, obwohl wir dort weder gesoffen haben noch von dort zu Zeiten nach Hause gekommen sind, zu denen bereits die Vögel gezwitschert hätten. Wenn wir Zelten gehen, nächtigen wir entweder nicht mehr in Zelten, sondern Wohnwägen, oder wir haben zwei Wochen Schmerzen in Körperregionen, die wir vorher nicht einmal kannten. Und wir sind uns nicht zu blöd, zu behaupten, wir seien „im besten Alter“. Die Evolution mag uns keine ewig jungen Körper bereitgestellt haben, aber wenn der Ersatz dafür diese spezielle Form von Humor ist, kann ich damit ganz gut leben.

Doch wann ist das überhaupt, dieses „beste Alter“? Meistens ist es doch so: Eigentlich weiß man, dass man älter als der Durchschnitt ist. Wenn man diese Tatsache verleugnet, wird man durch seinen Körper unsanft darauf aufmerksam gemacht. Oder durch Freunde. Sobald man sich nämlich gegenseitig versichert, dass man jung aussehe, darf man sich sicher sein, dass man alt ist oder zumindest alt wird. Um sich das dann immer noch nicht eingestehen zu müssen, redet man sich das mit dem besten Alter ein. Weil alt eben auch immer diesen Touch von unbrauchbar hat. Dabei hat man doch gerade erst die Betriebstemperatur erreicht. Und nach wie vor vermag kaum jemand ernsthaft zu sagen, in welchem Alter das beste Alter ist. Es scheint sinnvoll, zu differenzieren und zunächst einmal eine Gegenfrage zu formulieren, die nur lauten kann: Im besten Alter wofür?

Wie weiter oben bereits dargelegt, ist für Feiern, Konzerte oder Zelten das Verfallsdatum mit Mitte 40 bereits überschritten. Was – wie bei Lebensmitteln auch – ja nicht heißt, dass es ab sofort ungenießbar geworden wäre. Man braucht sich umgekehrt aber nicht wundern, wenn es ´mal unangenehme Nebenwirkungen verursacht.

Da man problemlos weitere Bereiche finden kann, wofür mit 40 oder mehr Jahren die beste Zeit schon vorbei ist, man denke nur an körperliche Betätigungen wie Sport, Sex oder Arbeit, muss also das beste Alter früher sein.

Es ist zwar leicht deprimierend, aber offenbar ist mein bestes Alter irgendwie an mir vorbeigerauscht, ohne dass ich es überhaupt bemerkt hätte. Denn wenn man auf der Suche danach überhaupt von irgendjemandem eine natürliche Zahl genannt bekommt, dann sind das Werte knapp unter 40.

War´s das dann etwa schon?

Man kann eigentlich nur mutmaßen, womit das zusammenhängt. Es wird mit Sicherheit etwas damit zu tun haben, dass in diesem Alter bei der überwältigenden Mehrheit elementare Weichenstellungen für das weitere Leben erfolgt sind. Man hat sich eingerichtet. Wörtlich und übertragen. Vielleicht gibt es tatsächlich ein Alter, ab dem es peinlich wird, wenn man immer noch von „Projekten“ fabuliert, die nicht Familie oder Karriere sind. Das Positive daran wäre immerhin die Erkenntnis, dass die Phase Jugend am Ende womöglich doch nicht ungestraft bis ins Unendliche ausgedehnt werden darf. Das war es dann aber auch schon wieder. Das Ärgerliche daran ist doch nicht nur, dass in diesem vermeintlich besten Alter täglich die Komfortzone schon am Morgen grüßt. Theoretisch ist noch so viel möglich, aber praktisch: Warum, wenn es doch gerade beginnt, schön zu werden? Das Hauptärgernis allerdings: Ausgerechnet dann, wenn man sich im besten Alter wähnt, also alle diese Geschichten mit Job, Familie, Eigenheim etc. ansatzweise gut gemanagt hat, setzt das Gespür dafür ein, dass ein ganzes Lebensgefühl unwiederbringlich abhanden gekommen ist. Schlimmer ist im Prinzip nur, dass besagtes Lebensgefühl auch wegbleibt, wenn man wie ich diese Dinge eher suboptimal umgesetzt hat. Das schließt nicht aus, dass man sich gelegentlich trotzig widersetzt und sich und anderen beweisen will, dass man immer noch so richtig Unvernünftiges tun kann. Zu Risiken und Nebenwirkungen lest aber noch einmal die ersten drei Absätze dieses Textes.

Eigentlich nicht zu fassen, dass tatsächlich jemand bei vollem Bewusstsein begreift, was geschieht, und sich trotzdem im besten Alter verortet. Und: Es wird nicht plausibler, je häufiger man drüber nachdenkt. Eher verfestigt sich im Gegenteil die Ahnung, dass die beste Zeit vorher sein muss. Am Ende läuft es womöglich doch wieder auf die Jugend hinaus. Man hätte es – wie meistens – ahnen können. Man hat es gesagt bekommen von älteren Bekannten. „Genieße die Zeit! So viele Gelegenheiten wirst Du später im Leben nicht mehr bekommen.“ Hätten diese älteren Herrschaften nicht sonst überwiegend Stuss von sich gegeben – man hätte es wahrscheinlich besser einordnen können.

Ich kann nicht behaupten, dass mich diese Erkenntnisse beruhigen.

Weil mir umgekehrt aber auch niemand gesagt hat, dass später alles so richtig scheiße wird, besteht vielleicht noch Hoffnung. Keine große, sondern gerade so viel, dass dieser Text seine Leser nicht komplett deprimiert hinterlässt. Unter Umständen hat ja jeder Mensch sein persönliches bestes Alter. Da niemand genau sagen kann, was kommt, kann mir auch keiner widersprechen, wenn ich behaupte, meine beste Zeit kommt erst noch.

„Lebe nicht 75mal das selbe Jahr und nenne es dann Leben“

Dieser schöne Spruch hat es irgendwann einmal geschafft, mich so zu beeindrucken, dass ich ihn in meine Ideen-Datei aufgenommen habe, um ihn zu gegebener Zeit in einem möglichst geistreichen Blogeintrag unterzubringen. Ob der folgende Text jetzt besonders gehaltvoll ist, mag ein jeder für sich entscheiden, aber zumindest die Einleitung steht schon einmal. Und klingt auch nicht ganz schlecht.

Genau damit fangen die Probleme dann allerdings an. Sollte ein Sinnspruch wie dieser wirklich allein an seinem Klang gemessen werden? Oder nicht doch eher daran, wie die Umsetzung im Alltag gelingt? Dieser Herausforderung freilich muss sich dieser Spruch keineswegs allein stellen. Hunderte andere Weisheiten stehen vor ähnlichen Dilemmata. So zum Beispiel auch der folgende, den ich mir seit etwa zwei Jahren zum Leitspruch gemacht habe:

Ein Tag ohne Lächeln ist ein verlorener Tag“

Wenn auch der Erfolg des Ganzen bis jetzt nur so mittelmäßig ist, wie ich zugeben muss, bleibt immerhin positiv zu vermerken, dass ich überhaupt das erste Mal im Leben über solche Dinge nachgedacht habe. Bestimmt habe ich auch zu früheren Zeiten schon ein Leitmotiv gehabt. Wahrscheinlich sogar mehrere gleichzeitig. Bewusst gemacht und mit schön ausformulierten Zitaten in Stein gemeißelt hatte ich sie mir jedoch nicht. Was ja auch nicht schlimm ist. Ich habe ja trotzdem überlebt. Bis heute fehlte es allerdings an einer Aufarbeitung, was in welchem Alter mein Lebensmotto gewesen sein könnte. Überschneidungen mit den Mottos anderer Menschen im gleichen Alter sind nicht beabsichtigt, werden aber gern in Kauf genommen.

Hauptsache, es ist Zucker drin“

Genau so wie man sich ein Kind vorstellt, das nach dieser Maxime verfährt, habe ich dann auch ausgesehen. Da ich nicht weiß, wie weit die Phantasie der Leser reicht, habe ich eventuell auch noch schlimmer ausgesehen. Damit wäre die Kindheit aber auch schon erzählt. Später ergänzte ich meine ernährungstechnischen Leitsätze noch um „Hauptsache Maggi dran“ oder – bis heute übrigens – „Hauptsache Pommes dabei“.

Dank des sinnlosesten aller Lebensabschnitte wurde mein Repertoire an lebensphilosophischen Grundeinstellungen bald ergänzt um den weisen Ausspruch „Einen Scheiß muss ich!“ Weshalb man sich in der Pubertät trotzdem so ungeheuer reif fühlt, hat auch noch niemand gescheit beantworten können. Trotz allem eine spannende Zeit mit den mutmaßlich häufigsten Wechseln meiner Lebensmottos.

Anders als vorgesehen und von meinen Eltern erhofft, wurde es nach den Flegeljahren nicht besser. Am treffendsten beschreibt die darauf folgende Phase wahrscheinlich der Spruch

Ist der Ruf erst ruiniert, lebt´s sich völlig ungeniert“

Dieser sowie weitere Sprüche, nach denen wir als angehende Erwachsene lebten, gab es nirgends als Wandtattoo zu kaufen. Brauchten wir auch nicht, wir haben das in Türkis und Hellblau an Wände gesprüht. Nicht nur an die eigenen übrigens. Aber das wäre ein anderer Blogeintrag.

Irgendwann in dieser Pöbel- und Provozier-Phase liefen dann etliche mit T-Shirts herum, auf denen „Träume nicht Dein Leben, sondern lebe Deinen Traum“ stand. Weil man über den Tellerrand der eigenen Szene nur höchst selten blickte, ahnte niemand, dass dieses Motto so was von Konsens war, dass ein Karrierist ihn mit der gleichen Berechtigung verwenden würde wie wir. Die Esoteriker sowieso. Haben halt andere Träume. Individuell geht auf jeden Fall anders. Oder ging es darum schon gar nicht mehr?

Ganz grundsätzlich sollte natürlich jedes Leitmotiv mit Leben gefüllt werden. Vom Sprüche-Aufsagen allein ist noch niemand eine bessere Version seiner selbst geworden. Wenn sie im Praxistest versagen, können diese Sätze noch so toll klingen und Wände und Kalender zieren. Zwischen YOLO und Gar-nichts-auf-die-Kette-bekommen ist nur ein relativ schmaler Grat.

Zumal die Sprüche heutzutage ja inflationär gebraucht werden, es auf der anderen Seite aber nur etwa 25 wirklich gute Zitate gibt, besteht zumindest die Gefahr, dass die Dinger auf solche Weise etwas werden, das sie in ihrer ursprünglichen Absicht nie werden sollten: Oberflächlich.

Zurück zum Wesentlichen – also zu mir. In der Auseinandersetzung mit dem Thema bin ich irgendwann tatsächlich auf ein Leitmotiv gestoßen, das mein Leben nicht nur eine kurze Phase lang geprägt hat. Kurz war allenfalls der Abschnitt meines Lebens, in dem ich diesen Leitgedanken durch übertriebenen Konsum alkoholhaltiger Erfrischungsgetränke vorsätzlich außer Kraft gesetzt habe. Man müsste es nur in ein wohlklingendes Zitat übersetzen, weil

Erst denken, dann reden“

jetzt gerade nicht so geil klingt, dass es sich irgendjemand auf den Unterarm tätowieren würde. Falls sich doch irgendwo auf dieser Erdkugel jemand mit exakt diesem schnörkellosen Spruch unter der Haut befindet, so würde ich ihn gerne einfach nur kennenlernen. Und beglückwünschen zu dieser Entscheidung. Das ist wenigstens ´mal eine Aussage. Als Tattoo potentiell lebenslang. Obwohl das Leben lang ist und sich, wie hier gesehen, ein Lebensmotto auch schon nochmal ändern darf.

Je älter man wird, umso stärker reduziert sich jegliche Lebensphilosophie sowieso auf „Hauptsache gesund“. Dafür, dass wir irgendwann einmal mit „Hauptsache, Zucker drin“ gestartet sind, hat sich also im Laufe der Jahre am Ende doch mehr geändert als eigentlich erwartet.

Das F-Wort

Von kleineren Aufregern auf der Arbeit abgesehen hält das Leben zur Zeit kaum echte Ärgernisse bereit. Weil umgekehrt allerdings auch nur selten kleine Höhepunkte die Routine des Mittelmaßes nachhaltig durchbrechen, wäre es keine falsche Behauptung, alles plätschere so ein bisschen vor sich hin. Von wegen Wirrnis des Alltags – Übersichtlichkeit ist angesagt.

Obwohl sich die Tage also zur Zeit mehr oder weniger ähneln, würde ich gern der Vermutung widersprechen, mein Dasein sei uninteressant.

Gut, ich müsste mich andererseits nicht wundern, wenn jemand zu einer anderen Einschätzung gelangt. Dass zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung mitunter Welten liegen, kann ja auch ich nicht einfach so abschütteln. Es geht mir ja selbst nicht anders, wenn ich andere Menschen anhand von Ausschnitten ihres Lebens beurteile. Beispiel: Viele Leute stellen ihren Mitmenschen freiwillig Informationen zur Verfügung, die diese nicht wirklich verlangt haben. Das lässt natürlich Schlüsse zu. Mehr noch: Hat man sich vor noch nicht allzu langer Zeit noch darüber echauffiert, wenn man dank Mobiltelefonen unfreiwilliger Ohrenzeuge von teilweise sehr privaten Details aus dem Lebenswandel mancher Zeitgenossen wurde, geht diese Form der Lärmbelästigung inzwischen sogar noch einen Schritt weiter. Offenbar setzt es sich gerade zunehmend durch, mittels Lauthören der Umwelt auch noch die Gesprächsbestandteile der anderen Person zu präsentieren. Ich finde, an diesem Punkt hätte die Datenschutzgrundverordnung ansetzen sollen. Da haben die Gesetzgeber große Chancen liegen gelassen, bitte nachbessern. Niemandem würde es schlechter, dafür vielen besser gehen, wenn es so käme.

Selbst Befürchtungen, kulturpessimistische Feuilletonisten oder Comedians erhielten dadurch keine Inspirationen mehr, würden sich vermutlich schnell in Luft auflösen. Die menschlichen Vorlagen für abgenutzte Witze würden schließlich trotzdem noch frei herum laufen. Ich hatte irgendwann einmal als ich mit dem Hund lief ein solches Gespräch auf der Straße mithören dürfen. Eigentlich war es kein Gespräch, eher ein Monolog. Nein, eigentlich hatte jemand ein Opfer zum Zuhören gefunden. Oft bin ich ja selbst der Ansprechpartner, wenn jemand das Bedürfnis hat, mit einem fremden Menschen etwas besonders Groteskes oder meinetwegen auch nur besonders Irrelevantes teilen zu müssen. Und das nicht erst, seit ich mit dem altersschwachen Hund an meiner Seite nicht mehr schnell genug flüchten kann. In diesem Fall hatte ich das Glück, dass ein Anderer vor mir zur falschen Zeit am falschen Ort war. Die Unterhaltung handelte grob umrissen von der Verrohung des Menschen anhand ausgewählter Beispiele aus dem Straßenverkehr. Er wollte also etwas für ihn unwahrscheinlich wichtiges loswerden und hatte wohl auch tief in sich drin eine Ahnung, dass er sein Gegenüber eher auf- als unterhält. Weswegen er sicherheitshalber nach jedem zweiten Satz die Ankündigung „Warte, gleich kommt´s“ einstreute. Einmal sogar „Jetzt kommt´s“ Blöderweise kam´s nicht. Da der Hund an meiner Seite wie gesagt einigermaßen alt und schwach ist, musste ich mir dieses Schauspiel ungelogene vier Minuten lang in dieser Ausführlichkeit anhören, ohne dass es letztendlich noch kam. Zumindest nicht bis ich um die nächste Ecke gebogen war.

Hair today, gone tomorrow

Ich zweifle gar nicht daran, dass seine pointenlose Geschichte für ihn ein sehr wichtiges Thema war. Für den gesamten Rest der Welt aber eben nicht, womit wir erneut beim Unterschied zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung angekommen sind. Das ist ja hier im Blog auch nicht wesentlich anders. Woher soll ich wissen, ob es die Welt interessiert, wenn ich beim Friseur war?

Nachdem mir die letzten rund 20 Jahre fürs Haareschneiden die Maschine gereicht hat, um die Matte gelegentlich wieder als Ganzes auf 5 Millimeter zu resetten, ist in mir in den letzten Wochen die Überlegung gereift, dass nicht alles, was für eine Wiese angemessen ist, auch für einen Mann im besten Alter das Mittel der Wahl sein muss. Immerhin könnte eine ordentliche Frisur auch ausschlaggebend sein, dass sich irgendwann doch nochmal eine Dame für mich interessiert. Ich möchte nicht so weit gehen, zu behaupten, dass mir inzwischen jedes Mittel recht ist, um auf die richtige zu stoßen. Dafür – so jedenfalls meine Selbsteinschätzung – ist mein Leben auch ohne Partnerin interessant genug. Aber den Wettbewerbsvorteil, dass ich noch eine volle Haarpracht ohne kahle Stellen habe, kann ich ja auch ausnutzen gegenüber den Typen, denen angesichts eher lichten Bewuchses eigentlich kaum nennenswerte Möglichkeiten bleiben, ihre Haare derart gewinnbringend einzusetzen. Folgerichtig kann man bei vielen Männern das, was sich auf ihren Köpfen befindet, auch nicht ernsthaft überhaupt als Frisur bezeichnen.

Ach so, das Ergebnis sollte ich wohl auch kurz erwähnen. Lässt sich sehen. Meinen zumindest ein paar andere Leute. Da stimmen Selbst- und Fremdeinschätzung ausnahmsweise einmal überein. Eine Sache jedoch ist mir aufgestoßen. Dass nämlich einer meiner Kumpels seine Meinung dazu nicht kundtun konnte, ohne das F-Wort zu benutzen. Ich habe es ihm gleich gesagt, und er hat sich auch entschuldigt. Aber woher sollte er auch wissen, dass im Zusammenhang mit einer neuen Frisur die Vokabel „flott“ kein Lob ist, sondern einem Schlag in die Fresse gleicht?! „Flott“ sagen Tanten und Mütter über etwas, das sie für jung oder jugendlich halten. Dass dieser Personenkreis etwas flott findet, ist jedoch gleichzeitig der Beleg dafür, dass dieses Etwas in Wirklichkeit alles mögliche ist, nur nicht lässig. „Swaggy“ würde man heute dazu sagen, aber meine Tanten haben ja sogar noch „flott“ gesagt, nachdem es sich durchgesetzt hat, „cool“ zu sagen. Flott ist also streng genommen das exakte Gegenteil dessen, was damit ausgedrückt werden soll und aus diesem Grund das letzte, was ich hören will, wenn ich das erste Mal seit über 20 Jahren Geld für einen Friseur ausgegeben habe.

Da wir gerade beim Thema sind: Ebenfalls nach Möglichkeit nicht mehr hören will ich Kommentare von Leuten wie dem, der letzten Mittwochabend im Wetterpark durch besondere Schlauheit auffallen wollte. Wollte. Ihr wisst schon: Selbst- und Fremdeinschätzung und so. Wenn man nicht mehr regelmäßig an der Uni oder in Politzirkeln verkehrt, kann man manchmal vergessen, dass es eigentlich überall einen gibt, der meint, alles besser zu wissen. Trolle eben, bei denen ich dachte, dass sie sich inzwischen in den Untiefen des world wide web sehr viel besser aufgehoben fühlen als in der freien Wildbahn. Besagter Troll also hat im Fernsehen eine Sendung gesehen. Und mit diesem Expertenwissen ausgestattet ist es natürlich einfach, dem Pressesprecher des Deutschen Wetterdienstes Ahnungslosigkeit vorzuwerfen, weil jener auf die Stromspannung eines Blitzes komplett andere Zahlen kennt als in besagter Fernsehsendung genannt wurden. Wer im übrigen die Information, wie viele Gewitter es weltweit in jedem Moment gibt, mit dem Satz kommentiert, ihn interessiere nur Deutschland, offenbart vieles, allerdings nicht unbedingt tatsächliches Interesse an einem Thema.

Bereits als vor der Veranstaltung den Gästen Schokoküsse angeboten wurden, soll der durch die Aussage „Bei uns heißen die Negerküsse“ aufgefallen sein. Nur hatte leider niemand danach gefragt, wie die bei „uns“ heißen. Es interessierte auch niemanden sonst, welche Kameradschaftstreffen er wohl meint, wenn er von „uns“ spricht. Sondern die Frage war lediglich gewesen, wer einen haben möchte. Sollte es tatsächlich stimmen, dass der Mensch im wesentlichen der Durchschnitt der fünf Personen ist, mit denen er am meisten zu tun hat, gibt es im Prinzip schon wieder fünf Leute mehr, die ich nicht unbedingt kennenlernen muss.

Sollte die Annahme mit den fünf Personen aber zutreffend sein, stellen sich natürlich umgehend Anschlussfragen. Beispielsweise wer die fünf Personen sind, deren Durchschnitt ich abbilde. Da man mit Mitte 40 in der Regel mangels Zeit seinen Freundeskreis klein hält und die meisten Leute ebenfalls so eingespannt sind, dass man sie höchstens alle zwei Monate trifft, scheidet das selbstgewählte Umfeld praktisch aus. Es bleiben also als Haupteinflüsse im Prinzip nur die Kollegen.

Ohne jetzt irgendjemandem zu nahe treten zu wollen, habe ich da bei einigen von ihnen eine vielleicht manchmal übertriebene, gewiss aber nicht gänzlich unbegründete Skepsis, dass sich solcherlei Prägung auf lange Sicht positiv auf die Entwicklung meiner Persönlichkeit auswirkt.

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