Aufzeichnungen aus der Wirrnis des Alltags

Monat: Juni 2020

Die Überlebensformel

Auf dem schmalen Grat zwischen Galgenhumor und Zynismus sollte das Standbein zu jeder Zeit so ausgerichtet werden, dass man im Falle eines Falles zuverlässig auf der Seite der Komik landet. Das ist die nur auf den ersten Blick simple Formel, die ich dieser Tage – sicher nicht völlig ohne Anlass – entwickelt habe. Doch prompt mischt sich Skepsis in das erhabene Gefühl, nicht weniger als die Überlebensformel für mich und weitere Gestrafte gefunden zu haben: Sich eine Strategie zurechtzulegen, ist die eine Seite. Sie anschließend im Alltag auch konkret umzusetzen, ist die ungemein schwierigere Aufgabe. Das Leben hält stets eine Fülle an Situationen bereit, anhand derer dieses Konzept auf seine Praxistauglichkeit überprüft werden kann. Und nicht in jeder dieser Situationen habe ich diesen einen Kollegen neben mir, der lässig, doch zuverlässig verhindert, dass meine Stimmung in die unerwünschte Richtung kippt.

Man könnte an dieser Stelle mit einer gewissen Berechtigung beanstanden, dass ich hier im Blog schon zu originelleren Erkenntnissen gelangt bin. Das man mit Humor besser durchs Leben kommt, haben die meisten wahrscheinlich schon irgendwie, und sei es aus eigener Erfahrung, mitbekommen.

Was schon weniger wissen: Nicht immer ist Humor auf ausgelassene Stimmung zurückzuführen.„Die verborgene Quelle des Humors ist nicht Freude, sondern Kummer“, wusste zum Beispiel schon Mark Twain. Joachim Ringelnatz ergänzte dazu: „Humor ist der Knopf, der verhindert, dass einem der Kragen platzt.“

Auf der anderen Seite hat ein gelebter Zynismus nicht nur Schattenseiten. Die mit seiner Hilfe errichtete Mauer zwischen Gesellschaft und von ihr geplagtem Individuum schützt zunächst hauptsächlich Letztgenannten, idealtypisch aber beide Seiten vor schlimmerer Unbill.

Außerdem berührt die Idee, alle Menschen gleich schlecht zu beurteilen, mein Gerechtigkeitsempfinden mehr als andere Geisteshaltungen es zu tun vermögen. Wahrscheinlich aus diesem Grund ist es nicht komplett aus der Luft gegriffen, dass mir bereits von verschiedener Seite vorgeworfen wurde, meine Blogeinträge seien teilweise sehr zynisch.

Doch Ernst beiseite – kommen wir zur Klärung der Frage, wieso den Alternativen Galgenhumor und Zynismus kein dritter, optimistischerer Weg zur Seite gestellt wurde. Die einfache Antwort: Weil ich Optimismus in Bezug auf die Entwicklung unserer Gesellschaft inzwischen als völlig unangebrachte, weil unrealistische Variante halte.

Denn wenn uns die durch ein neuartiges Virus herbeigeführte aktuelle Krise bis jetzt eines gelehrt hat, dann ja wohl als erstes, dass ein nicht zu unterschätzender Teil der Bevölkerung relativ bis sehr dumm ist. Zweitens darf sich bestätigt fühlen, wer schon seit längerem geahnt hat, dass man in einer Welt voller Egoisten lebt. Man muss sich also, drittens, schon sehr anstrengen, um angesichts dieser Zustände nicht zum Zyniker zu werden.

Erinnern wir uns: Bereits zu einer Zeit, in der noch niemand seriös voraussagen konnte, ob die ersten eingeleiteten Maßnahmen überhaupt die erhoffte Wirkung zeigen würden, forderten die ersten, dass das jetzt aber bitte langsam ´mal ein Ende haben müsse. Ganz als ob eine Epidemie sich auf Anordnung beenden ließe, wurden die politischen Entscheidungsträger als erste Sündenböcke präsentiert. Man möchte sich als klar denkender Mensch nicht ausmalen, was die Leute hier erst veranstalten würden, wenn einmal eine Lage eintritt, die uns mehr abnötigt als eine gewisse Zeit ein paar Leute weniger zu treffen.

Ich möchte nicht behaupten, das alles wäre der am wenigsten anstrengende Lockdown in der Geschichte dieser Republik gewesen, aber man muss den Tatsachen ins von der Alltagsmaske verdeckte Gesicht sehen: Manche Leute bekommen es nicht einmal auf die Kette, einen Mund-Nasen-Schutz korrekt über ihren Rüssel zu ziehen und das Teil genau so wenigstens für die 15 Minuten ihres Einkaufs an dieser Stelle zu behalten. Anderen dämmert derweil: Da wir mit genau denselben Leuten demnächst aber auch kaum weniger dringende Aufgaben wie Aufhalten des Klimawandels managen müssen, muss man mit Humor schon besonders reichhaltig ausgestattet sein.

Das Problem ist im Prinzip auch schnell identifiziert: Würden die Masken nicht andere Menschen, sondern ihre Träger selbst besser vor Ansteckung schützen, wären die Dinger vermutlich selbstverständlich über allen Gesichtern und würden kaum infrage gestellt. Dummerweise bewahrt die Alltagsmaske aber nur andere Menschen davor, sich mit einer wenigstens potentiell tödlichen Krankheit zu infizieren. Und wegen einer Handvoll Toten mehr oder weniger muss man sich argumentativ auch nicht weiter bemühen.

„Das Maskentragen nervt allmählich“, gibt ein Maskenmuffel allen Ernstes zur Auskunft! Man kennt das ja: Bisherige Erfahrungen mit Krankheitserregern zeigen regelmäßig, dass diese sich von Stimmungen in der Bevölkerung schwer beeindrucken lassen. Die Geschichtsbücher sind reich an Beispielen von Epidemien, die nur deshalb eingedämmt wurden, weil die Menschen keinen Bock mehr auf sie hatten. Vielleicht nochmal in aller Klarheit: „Kein Bock“ oder „uncool“ sind keine Argumente, sondern Verhalten auf Kleinkind-Niveau. Dass, wie von vielen kritisch angemerkt, die Kanzlerin in ihren ersten Ansprachen zum Thema zur Bevölkerung wie zu kleinen Kindern geredet habe, wird seine Gründe genau darin gehabt haben: dass nämlich geschätzt die Hälfte es anders gar nicht verstanden hätte. Dass in anderen Ländern der Staatschef selbst sich wie ein kleines Kind verhält, macht die Angelegenheit übrigens nicht einfacher.

Es kann ja sein, dass nicht jeder die Zeit hat, irgendwas mit Zeitung oder so zu lesen, wenn man ganz offensichtlich den kompletten Tag im Fitness-Studio verbringen muss. Von Ladeninhabern erwarte ich aber, dass sie darüber informiert sind, was erlaubt ist und was nicht. Ihre Interessenvertretungen haben lange genug dafür gekämpft, dass sie unter bestimmten Bedingungen wieder öffnen dürfen. Wie kann es also sein, dass beispielsweise bei einem Friseur in der Offenbacher Waldstraße, an dem ich einmal die Woche vorbei komme, regelmäßig keiner der Mitarbeiter und keiner der Kunden auch nur irgendein Stück Stoff vor der Nase hat?!

„Ich bin durchaus nicht zynisch, ich habe nur Erfahrung – und das ist so ziemlich dasselbe“, verrät Oscar Wilde. Ja, zwischen Galgenhumor und Zynismus ist es bloß ein schmaler Grat. Wenn ich den vorliegenden Text so als Ganzes betrachte, hat wohl mein Spielbein dem Standbein ein Bein gestellt.

Mir stinkt´s

Schweiß, Zigaretten, Alkohol, Mundgeruch – es wird Gründe haben, weshalb die häufigste Antwort auf die Frage nach dem unangenehmsten Geruchsträger „Mein Arbeitskollege“ lautet. Über üble Gerüche zu schreiben, bietet sich zur Zeit an. Und zwar nicht weil auf der Arbeit mehr als ohnehin üblich vor sich hin gestunken würde, sondern schlicht und einfach weil der Geruchssinn in Frühjahr und Sommer stärker ausgeprägt ist.

Wenn man das world wide web benutzt, stellt man nach einer gewissen Weile fest, dass viele der dort enthaltenen Informationen nur einen eher überschaubaren Nutzen haben. Zwei Beispiele hierfür finden sich im ersten Absatz dieses Textes. Man kann auf diesen Sachverhalt unterschiedlich reagieren. Nicht wenige zum Beispiel passen sich – scheinbar ohne große Mühe – dem gekennzeichneten Niveau an und servieren dem geneigten Leser Content wie den folgenden: Auf der Suche nach Tipps, den eigenen textlichen Ausstoß aufzupeppen, stößt man immer ´mal wieder auf den Hinweis, dass die Leser, die ich ja mit dem Thema Gestank jetzt schon eindrucksvoll abgeholt habe, Ranglisten lieben. Probieren wir es aus – hier sind die Top 5 meiner härtesten olfaktorischen Erlebnisse:

Platz 5: Essig

Das Thema Essig ist zu selbsterklärend, um darüber viel Worte verlieren zu müssen. Gegenüber Essig sind selbst Klassiker des schlechten Geruchs wie Sauerkraut, Senf oder eine nahe gelegene Brauerei ein echter Nasenschmaus.

Seit frühester Kindheit beschäftigen mich zwei Fragen:

a) Wieso verfeinert man Speisen mit etwas, mit dem man sonst den Boden wischt?

b) Weshalb sollte man überhaupt mit Essig putzen, wenn man den gleichen Effekt mit wohlriechenden Mitteln wie zum Beispiel Zitronensäure erreichen kann?

Als Jugendlicher gesellte sich zu diesen bis dahin unbeantworteten Fragen noch folgende Überlegung:

c) Warum hält man eine Substanz, die vorher als Alkohol einem angesehenen Zweck gedient hat, überhaupt in irgendeiner Weise für vertrauenswürdig?

Einer kritischen Überprüfung bedarf wohl auch die Behauptung, Essig lasse sich prima als Geruchsvernichter einsetzen. Ich gebe zu: Um mir vorzustellen, dass ein Gebräu mit einem solch penetranten Geruch andere Gerüche neutralisieren kann, fehlt mir ein wenig die Phantasie. Da würde ich sogar den Versuch, den Teufel mit dem Beelzebub austreiben zu wollen, für erfolgversprechender halten. Fazit: Lieber lasse ich meine Bude nach nassem Hund und Tierfutter stinken als nach Essig.

Platz 4: Lebende Tiere

Ohnehin ist die Tierwelt reich an für Menschen abstoßenden Gerüchen. Klar: Wer den evolutionären Sprung gemacht hat, sein Revier durch das Platzieren von Handtüchern zu markieren, schaut naserümpfend auf Arten herab, die das aus Gewohnheit oder weil sie es nicht besser können noch durch das Verteilen von Urin oder Kot erledigen. Der Kern des Problems gerät dabei oft aus dem Blick: Dass man als Außenstehender wenig bis gar nicht beurteilen kann, ob ein abgesonderter Duftstoff nun Feinde vertreiben oder potentielle Sexualpartner anlocken soll. Als besonders animalisch-infernalisch gilt landläufig der Geruch von Ameisenbären. Das sollte man eventuell bedenken, bevor man sich einen für den Campingplatz anschafft, um dort das Vorzelt frei von den kleinen Insekten zu halten. Je nach Quelle stinkt ein Ameisenbär zwischen vier- und siebenmal so heftig wie ein Stinktier. Die Frage, auf welcher mathematischen Grundlage Gerüche quantifiziert und multipliziert werden, war bei Redaktionsschluss allerdings noch ungeklärt.

Platz 3: Parmesan

Zweifelsfrei geklärt hingegen ist: Parmesan ist der Ameisenbär in der an erbärmlichen Gerüchen ohnehin nicht armen Käsewelt. Über Geschmack lässt sich streiten, doch wenn ein Essen 10 Meter gegen den Wind schon riecht als wäre es vor kurzem bereits einmal gegessen und hernach wieder auf den Teller gespien worden, kann es keine zwei Meinungen geben. Die Mahnung, nichts zu essen, was Andere schon im Mund hatten, bleibt ja nicht bei der konsequenten Vermeidung des Verzehrs von Zunge stehen. Zu Ende gedacht beinhaltet dieser Grundsatz, ein Gericht schon dann stehen zu lassen, wenn es bloß riecht als wäre es bereits einmal gegessen worden. Was geeignet ist, Tote aufzuwecken, gehört auf keinen Teller dieser Welt.

Platz 2: Tote Tiere

„Den hat Ihr Kollege das letzte Mal vergessen“, meinte die alte Dame, gerade als würde es sich um einen Stapel Altpapier handeln. Ein Kampfmittelräumdienst wäre für die Aufgabe, einen alten Fisch aus der Wohnung zu entfernen, vermutlich der geeignetere Ansprechpartner gewesen als ein armer Zivildienstleistender wie ich. Dass hier irgendetwas zum Himmel stinkt, wurde mir schon offenbar, als die Klientin mich an ihrer Wohnungstür begrüßt hat. Nicht dass Wohnungen von älteren Menschen grundsätzlich wohlriechende Salons wären, aber das Odeur dieser Wohnung war schon speziell.

Der Fisch stinkt vom Kopf her, sagt der Volksmund. In diesem Moment, als ich einsam mit diesem Fisch im Aufzug hinab fuhr, während andere Hausbewohner die Treppe bevorzugten, obwohl sie ursprünglich ebenfalls den Lift benutzen wollten, war mir egal, an welcher Stelle genau dieser Fisch irgendwann einmal angefangen hat zu stinken. Denn bei diesem Fisch drehten selbst die ansonsten stets sehr aufdringlichen metallic-lackierten Schmeißfliegen ab aus Sorge, sie könnten in eine tiefe Ohnmacht fallen.

Der Vorteil des Fisches immerhin: Er war genauestens zu lokalisieren. Das ist bei Ratten, die am eigens für sie ausgelegten Gift geknabbert haben, in der Regel nicht der Fall. Diese verziehen sich in den unzugänglichsten Ritzen des Hauses und fangen dort ohne große Rücksichtnahme auf das Geruchsempfinden der Menschen an zu verwesen. Letztere haben im Normalfall spätestens nach drei bis vier Tagen die Nase voll von dem Gestank und stehen vor der Entscheidung Umzug, Abbrennen des Hauses oder Anschaffung eines Ameisenbärs zwecks Geruchsüberlagerung.

Das klingt jetzt natürlich alles weniger dramatisch als es tatsächlich ist. Trotzdem ist in Sachen Geruchsbelästigung alles noch steigerungsfähig, sobald wir beginnen, über menschliche Verdauung zu sprechen.

Platz 1: Darmwinde und -ausscheidungen

Ein Kumpel fuhr eines Abends eine vierköpfige angetrunkene Meute nach Hause. Welche Gedankengänge meinen damaligen Mitbewohner zu der Entscheidung brachten, die Entlüftung seines Darms wäre eine angemessene Art, sich für die Mitfahrgelegenheit zu bedanken, wurde niemals geklärt. Jedenfalls war der letzte während dieser Fahrt geäußerte Satz meine Frage, wer oder was bitte hier aktuell so stinke. Danach hat für den Rest der Fahrt niemand mehr gewagt, überhaupt zu atmen. Hätte in dieser Situation jemand ein Streichholz gezündet, wären wir wahrscheinlich alle in die Luft geflogen.

Wenn allein ein trockener Furz eine solche Wirkung zu entfalten in der Lage ist, kann man das olfaktorische Potential von Fäkalien schon erahnen. Und ich habe vielleicht nicht alles gesehen, aber vieles. Mit Millionen anderen Menschen habe ich die Erfahrung gemacht, dass volle Windeln eines Säuglings mit jedem weiteren Mal ein kleines Stück ihres Schreckens verlieren. Wenn aber am Abend in der Kneipe am Tisch nebenan ein ausgewachsener Kerl in die Hose scheißt, ist das ein anderes Level.

Ich habe eklige Toiletten gesehen und benutzt. Auf Zeltplätzen, französischen Autobahnraststätten oder in Etablissements, in denen Punk-Konzerte veranstaltet wurden. Mancher dieser Eindrücke hat sich tief in mein Gedächtnis eingebrannt. Aber keiner dieser Orte hat so gestunken wie dieser Mann.

Hätte ich einen Eimer Essig zur Hand gehabt, hätte ich ihn mit Vergnügen im gesamten Schankraum verteilt.

Präsentiert von WordPress & Theme erstellt von Anders Norén