Aufzeichnungen aus der Wirrnis des Alltags

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10.000 Dinge besitzt der Durchschnittseuropäer, meldete das Statistische Bundesamt schon vor einigen Jahren. Als ich neulich wieder über diese Zahl gestolpert bin, bewegte ich meinen geschundenen Körper in mein gewöhnlich wenig frequentiertes Wohnzimmer und begann, die dort aufbewahrten CDs zu zählen. Irgendwann bei etwas über 1000 war Schluss. Nicht weil ich mit der Zählung durch war, sondern weil ich auch ohne vorläufiges amtliches Endergebnis zu diesem Zeitpunkt bereits erahnen konnte, dass ich tendenziell nicht zu dem Personenkreis gehöre, der den Schnitt nach unten drückt. Zumal nach den ganzen Tonträgern ja auch noch Bücher, Hemden und Schlümpfe auf eine Inventur gewartet hätten.

Ich habe mich danach erst einmal an einen Ort zurückgezogen, an dem man einen solchen Befund gemeinhin am besten verarbeiten kann: aufs Klo. Da die Erwähnung dieser Örtlichkeit in meinen Texten üblicherweise nur ein überflüssiges Detail ist, das lediglich dazu dient, einige Fäkalausdrücke unterzubringen, sei darauf hingewiesen, dass es sich dieses Mal um eine relevante Information handelt, weil ich von diesem Platz aus beste Sicht auf einen Balkon des Hauses eines Nachbargrundstückes habe. Dieser Balkon sieht aus wie die Fortsetzung des Kellers mit anderen Mitteln. Als wenn jemand die Geschäftsidee entwickelt hätte, gegen geringes Entgelt sämtlichen Sperrmüll der näheren Umgebung bis zur Abholung auf diesem Balkon zwischenzulagern. Andere würden vielleicht wieder einfach nur sagen: Offenbach halt.

Der Flur in einer früheren, von mir und einem damaligen Kumpel bewohnten Bude hatte regelmäßig so ausgesehen wie dieser Balkon. Besagter Mitbewohner praktizierte nämlich bei angekündigtem Damenbesuch die von ihm entwickelte Aufräum-Technik: Er zählte bis Drei. Danach hat er alles, was sich nicht von selbst auf einen vernünftigen Platz begeben hat, in den gemeinschaftlich benutzen Bereich befördert. Seinen Gästen erzählte er, das wäre mein Zeug. Ich bin kein Fachmann, sah aber die Schwelle zur Behandlungswürdigkeit ab dem Punkt überschritten, an dem er das sogar mir gegenüber behauptete.

Man muss aber natürlich zugestehen, dass der Schwindel nicht hätte funktionieren können, wenn ich in der Gegend als Musterschüler in Sachen Ordnung bekannt gewesen wäre. Das Gegenteil ist der Fall. Ich war schon seit jeher anfällig dafür, die räumlichen Kapazitäten an die Grenze der Belastbarkeit und darüber hinaus zu strapazieren. Schon früh hatten mich daher zum Beispiel Menschen fasziniert, die sich für einen anderen Weg entscheiden, ihre Wohnung kündigen und ihr gesamtes Hab und Gut auf ein Maß reduzieren, das locker in einem Einkaufswagen Platz findet. Die Profis unter ihnen bringen sogar noch einen altersschwachen Hund in diesem Einkaufswagen unter.

Überhaupt die Tiere. Für die einen sind diese das letzte, was sie herzugeben bereit sind. Andere agieren da weitaus pragmatischer: Bewahren zwar ansonsten jeden Scheißdreck auf, entscheiden im Falle des Hundes aber angesichts des bevorstehenden Urlaubs verhältnismäßig schnell: Wirklich brauchen tun wir das Tier eigentlich nicht, streng genommen kann der weg.

Mancher schüttelt da mit dem Kopf, doch eigentlich darf es nicht überraschen, dass bei der Frage, was bleiben darf und was weg soll, Irritationen entstehen. Weil das Aufbewahren von Dingen evolutionsgeschichtlich keine Frage von Sentimentalitäten, sondern hauptsächlich Überlebensstrategie gewesen ist, fehlen schlicht und einfach zum Allgemeingut gewordene Maßstäbe dafür. Die Angst vor Mangel prägte den Menschen Jahrtausende lang. Dass wenigstens Teile der Welt im Überfluss leben, ist ein relativ neues Phänomen. Die Trennlinien werden noch teilweise sichtbar, wenn Oma schimpft, weil Opa den defekten Toaster partout nicht wegwerfen mag, weil schließlich irgendein Teil davon für nochmal für irgendetwas gebraucht werden könnte, während Papa zur gleichen Zeit einen funktionierenden Toaster zum Wertstoffhof fährt, dessen Farbe sich jedoch mit der des neuen Wasserkochers beißt.

Bei aller Kritik an der Wegwerfmentalität unserer Tage plädiere ich allerdings trotz allem natürlich eher für das gelegentliche Ausmisten als für das permanente Vergrößern der Wohneinheiten, um den ganzen angehäuften Mist überhaupt noch unterzubekommen. Es ist weder darstellbar noch überhaupt notwendig, dass am Ende dieser Entwicklung jedes Individuum in einer ausreichend großen Umgebung ein persönliches Museum mit Erinnerungen aus sämtlichen Lebensphasen pflegen kann.

Das Grundproblem beim Aussortieren nicht mehr oder noch nie benötigter Dinge sollte jedoch beachtet werden: Es darf auf keinen Fall so wirken, als würde man bloß deshalb reduzieren, weil man den Platz für neue Sachen benötigt. Auch dies ist ein Aspekt, bei dem sich mancher immer wieder ´mal ertappt fühlt. Dabei hat Shoppen ja nicht nur Nachteile wie beispielsweise die relativ systematische Ausplünderung des Planeten, sondern auch Vorteile, die nur zu selten wirklich gewürdigt werden. Während zum Beispiel die Welt um uns herum stets komplexer wird, freut sich ein von diesem Umstand überforderter Mensch, wenn mit dem Einkaufen eine Sphäre erhalten bleibt, deren Prozesse in ihren Grundzügen erhalten geblieben ist. Sicher – man muss Verständnis aufbringen, dass einzelne Leute durchdrehen, weil der Supermarkt alle paar Jahre „dauernd“ umräumt und die Teigwaren fortan einen Gang weiter stehen. Aber jenseits von solchen Begleiterscheinungen ist beim Einkaufen doch die Welt noch in Ordnung. Und die übergeordnete Frage ist doch ohnehin: Macht es uns glücklich? Und da fällt die Antwort eindeutig aus: Ja, Shoppen macht glücklich. Zumindest eine kurze Zeit lang, mindestens also so lang, bis der Bezahlprozess abgeschlossen ist. Wie lange dieses Glücksgefühl anschließend letzten Endes anhält, hängt von vielen Faktoren ab. Man wird also kaum den Konsum grundsätzlich in Frage stellen können, bloß weil einige wieder ´mal nicht mitzuziehen in der Lage sind, wenn es um Angelegenheiten von grundlegender Bedeutung für die Menschheit geht.

Ohnehin ist ungeklärt: Wenn Ausmisten oder wenigstens Aufräumen glücklich macht, Kaufen aber auch – nach welchen Kriterien soll man bitte entscheiden, was man als nächstes tut? Dazu kommt: Hat man erst einmal das Leben als einfacher Konsument hinter sich gelassen und das nächste Level des Schnäppchenjägers erreicht, vervielfacht sich die Problematik, weil man ja dazu neigt, mehr zu kaufen, weil noch Geld übrig ist. Man braucht also mehr Platz oder muss besser Ordnung halten. Gleichzeitig beansprucht die Jagd nach Schnäppchen mehr Zeit, die dann exakt wofür fehlt? – Richtig: Aufräumen und Ausmisten.

Der durchschnittliche Schnäppchenjäger ist männlich, kaufkräftig und überdurchschnittlich gebildet. Das mit der Kaufkraft muss ich vielleicht etwas relativieren, aber die anderen beiden Attribute kann ich bestätigen. Wenn andererseits schon der Anblick von „%“-Zeichen das Belohnungszentrum des Gehirns aktiviert, gleichzeitig aber der Verstand aussetzt, kann ich mir davon am Ende auch nichts kaufen. Trotzdem freue ich mich nicht nur darüber, kurz vor Schluss doch noch dieses Wortspiel in einer halbwegs passenden Umgebung platziert haben zu können, sondern auch über die Bestätigung weiterer Studienergebnisse: Es scheint nämlich zu stimmen, dass es sich in einem unordentlichen Arbeitsumfeld kreativer lebt. (Auch wenn ich Komplimente über meine „kreativen“ Texte anders einordne, seit ich davon gehört habe.) Und einen Haken gibt es sowieso überall: Man lebt nämlich auch ungesünder. Dass man in einer unordentlichen Umgebung eher zu Süßwaren greift, erklärt einiges, vielleicht sogar alles über den Zustand meines Zuhauses.

Nur dass meine Neigung zu Keks und Schokolade auf der Arbeit genauso stark ausgeprägt ist, also dort, wo meine Aufgabe nun einmal ist, Ordnung zu schaffen und zu halten, gibt mir zu denken.

Aber das müssen die Bosse schon selbst entscheiden, ob sie für diesen Mist weiter Geld ausgeben wollen.

Abnehmen für Fortgeschrittene

„Wenn wir abnehmen, wird das Leben nicht automatisch leichter.“ So wie es für jeden Mist den passenden Käfer gibt, findet man auch für jede Lebenslage ein passendes Zitat. Man muss nur wollen. Das Thema Abnehmen holt mich ja aus eigener Betroffenheit regelmäßig ein. Und das sogar ohne äußere Anlässe wie Neujahr, Fastenzeit oder Überschriften mit dem Reizwort „Bikinifigur“ anlässlich der ersten warmen Tage des Jahres. Da man ja nur wollen muss, ist das Thema momentan recht fix geklärt: Ich will nämlich nicht. Meine derzeitige Strategie lautet Schadensbegrenzung. Das mag vordergründig als kein sonderlich kreativer Ansatz erscheinen. Aber die Arbeitshypothese lautet, dass man nach sagen wir einem halben Jahr nicht wesentlich schlechter dasteht als die Angehörigen der Vergleichsgruppe, welche sich zunächst einige Kilos heruntergehungert, die gleichen verflixten Kilos allerdings gleich anschließend auch wieder heraufgeschafft haben. Das ist ja jetzt auch kein Konzept, das einen durch den Winter bringt. Dann lieber unspektakulär, dafür aber auch mit weniger Frustration.

Dabei ist es nicht so, dass es keine spannenden Methoden zur Gewichtsreduzierung gäbe. Ganz im Gegenteil gibt es Abnehmtipps für beinahe jeden Geschmack. Und ich gebe zu, als ich von der Schokoladendiät las, hätten sie mich damit auch fast abgeholt. Doch bloß weil sich für jeden Mist nicht nur passende Käfer, sondern auch noch ein oder zwei Prominente finden, die die betreffende Methode mehr oder weniger glaubwürdig promoten, muss man diesen Mist ja nicht mitmachen. Wenn das alles tatsächlich so effektiv wäre, müsste ja nicht umgehend die nächste Sau durchs Dorf getrieben werden. Wenn diese Abspeckmethoden immer für alle nachhaltig funktionieren würden, wären ja mittlerweile alle so schlank, dass ständige neue Hypes um immer neue Diäten gar nicht möglich wären. Die paar Dicken, die da nachkommen, würde man mit den bewährten Mitteln schon wieder hinbekommen.

Ich bin natürlich alles andere als Experte auf diesem Gebiet. Andererseits schwirren aber auch Ideen durch die Gegend, bei denen schon der gesunde Menschenverstand normalerweise beleidigt sein müsste, dass man ihm so etwas als ernstzunehmenden Vorschlag verkaufen möchte. Lichtnahrung wäre so eine Idee. Die Situation hat wohl jeder schon einmal erlebt: Man setzt sich in die Sonne, und ohne weiteres Zutun beginnt man plötzlich mit der Photosynthese. Trotz dieser augenscheinlichen Plausibilität bewahre ich mir ein Stück gesunde Skepsis gegenüber dieser Methode. Wenn man bei der Anwendung draufgehen kann, ist die Marktreife eventuell einfach noch nicht gegeben.

Nicht ganz so abenteuerlich, doch ebenso an der Grenze zur Unzurechnungsfähigkeit: Die Bandwurm-Diät. Wie viele andere Diäten muss man erfolglos hinter sich gebracht haben, dass man sich vorsätzlich einen Parasiten in den Körper setzt, der einem dann im besten Fall nur das Essen wegfrisst, im schlimmsten Fall aber ins Gehirn wandert?! So schlecht können sämtliche konventionellen Vorschläge zur Gewichtsreduktion gar nicht klingen, dass jemand diese Option für attraktiver hält. Nicht zuletzt wäre ja auch die Möglichkeit gegeben, alles einfach ´mal so zu belassen, wie es ist. Denn – machen wir uns nichts vor: Viele Abnehmwillige haben eine astreine Figur, wissen bloß nichts davon. Besser: Könnten es wissen, wollen es aber nicht. Wenn es sich lediglich um die fünf Kilos dreht, die die Bundweite 32 verhindern und stattdessen 34 einfordern, ist der Antrieb Eitelkeit, nicht Gesundheit. Da könnte man auch fünfe gerade sein lassen und sagen: Lass´ gut sein, Du bist okay so, wie Du bist. Allerdings könntest Du in einer ruhigen Minute ´mal darüber sinnieren, ob Du eventuell die falschen Vorbilder hast.

Natürlich wird diese Sichtweise den tatsächlich Dicken nicht gerecht. Da muss man Hilfe anbieten. Aber eben auch klar kommunizieren, was gerade nicht helfen wird. Zum Beispiel habe ich bei jedem Konzept, das mit dem Etikett „Abnehmen ohne Verzicht“ angepriesen wird, große Skepsis. Ganz so einfach scheint es nicht zu sein. Wenn man nämlich Gewicht abwerfen könnte, indem man exakt dasselbe zu sich nimmt wie vorher, müsste der Erfolg sich ja streng genommen bereits eingestellt haben. Bevor man also überhaupt wahrnehmen kann, dass man zu fett ist, hat man auch schon wieder abgenommen. Von hier aus landet man recht schnell bei Konzepten, bei denen das Wunschgewicht einfach ´mal herbeigebetet wird. Auch Abnehmpflaster gehören in die Kategorie, in der mit den Hoffnungen von Menschen Kasse gemacht wird. Wenn im Versuch dann sogar die Angehörigen der Gruppe, die stattdessen ein Placebo-Pflaster bekam, mehr abgenommen haben als die mit dem „Wirk“stoff, brauche ich keine weiteren Details mehr. Da kann ich auch gleich mein Zimmer in einer neuen Farbe streichen und hoffen, dass es mir beim Abnehmen hilft.

Baker-Miller-Pink heißt übrigens die Farbe, die diesen Effekt verspricht. Dieses Pink beruhige und zügele den Appetit, wollen mehrere Studien herausgefunden haben. Hat man sich erst einmal damit abgefunden, dass eines der am sinnlosesten klingenden Verfahren damit ein solideres wissenschaftliches Fundament als etliche andere hat, ist der Spaß auch schon wieder vorbei: Weil nämlich manche Wissenschaftler ihren Auftrag ernst nehmen, hat man – leider – auch schon feststellen müssen: Die Wirkung hält nur kurz an. Hat man sich daran erst einmal gewöhnt, geht der beschriebene Effekt verloren. Auch irgendwie beruhigend. Und im Gegensatz zu anderen Methoden richtet das Wohnen in einem Baker-Miller-pinken Raum zumindest keinen Schaden an. Hoffe ich zumindest. Probiert habe ich es noch nicht.

Was ich probiert habe: Gewicht zu verlieren. Durchaus erfolgreich sogar. So erfolgreich, dass es schon mehrfach funktionieren musste. Von „leicht“ war dabei nie die Rede gewesen. Oder wie es der Volksmund ausdrückt: Wenn´s einfach wär´, würde es jeder machen.

Die Entdeckung der Langsamkeit

Als ein für Abwechslung vom Arbeitsalltag grundsätzlich aufgeschlossener Mensch waren die Detailfragen der Rückgabe eines geleasten Fahrzeuges an ein Autohaus in Erfurt zwischen meinem Boss und mir schnell ausgehandelt: Ich fahre da mit besagtem Auto hin und mit dem ICE zurück. Die zum Zeitpunkt dieser Übereinkunft sachte steigenden Temperaturen würden sich zwar noch im einstelligen Bereich bewegen, dabei aber deutlich über dem Gefrierpunkt bleiben, weshalb mein Vorschlag, die 6,5 Kilometer zwischen Autohaus und Hauptbahnhof zu Fuß zurückzulegen, auf keinen nennenswerten Widerspruch stieß. Unterm Strich eine zwar lästige, aber lösbare Aufgabe. Was sollte da schon großartig passieren?!

Die Wettervorhersage des darauffolgenden Abends machte mir dann bewusst, was da noch großartig passieren kann. Für die nächsten Tage wurde ein Arctic Outbreak gemeldet. In Summe bedeutete das heftige Schneefälle samt Schneeverwehungen, klirrende Kälte sowie Eisglätte. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Zwar würden bis zum Antritt der Fahrt noch einige Tage ohne weitere Schneefälle folgen, die Temperaturen mit bis zu minus 17 Grad jedoch sollten stabil bleiben. Gar so viel Abwechslung vom Arbeitsalltag wäre aus meiner Sicht gar nicht ´mal nötig gewesen. Glätte, Schnee und Kälte klangen schon mehr nach Verlassen der Komfortzone als mir eigentlich lieb gewesen wäre.

Ich tat also, was mann in solchen Situationen tun muss, und rief erst einmal meine Mutter an. Ich wollte sie zwar nicht beunruhigen, aber wenn ich schon sterben muss, sollte sie es rechtzeitig vorher erfahren. Mit ein wenig Glück hatte sie noch kein Geschenk anlässlich meines wenige Tage später bevorstehenden Geburtstages. Dieses Geld könnte sie sich ja jetzt sparen. Ach ja, und jemand muss sich um Hund und Katze kümmern, wenn ich nicht mehr da bin.

Sie hielt das alles für übertrieben. Ich hätte schließlich schon ganz andere Sachen überstanden. Auch wieder wahr. Und vielleicht würde es ja auch gar nicht so schlimm wie angekündigt. Ich erinnere mich, dass mir der Arctic Outbreak die Tage zuvor bereits das ein oder andere Mal in irgendwelchen Überschriften begegnet war, denen ich wohlweislich keine besondere Beachtung schenkte, weil dazugehöriges Vokabular wie „Frost-Schock“ oder „Kältepeitsche“ zwar das zum Handwerk gehörende Klappern darstellt, bei mir allerdings inzwischen dazu führt, solche Meldungen gerade nicht zu lesen. Dem drohenden Unwetter ging es also am Ende des Tages wie mir häufig im Arbeitsalltag: Es wurde schlicht und ergreifend nicht ernst genommen.

Weil aber zwischen dem Ende des Sturms und der geplanten Fahrt noch drei Tage lagen, für die weitere Niederschläge zumindest nicht in relevantem Umfang angekündigt waren, hieß es am Weiberfastnachtsdonnerstag dann halt: Augen zu und durch! Weil geteiltes Leid halbes Leid ist, einen kleinen Umweg einkalkuliert, um die Freundin abzuholen. Ausreichend Scheibenwischwasser gekauft zu einem Preis, der jeder Apotheke gerecht geworden wäre, und danach hieß es „on the road again“. Tatsächlich war selbst auf den Streckenabschnitten, wo 48 Stunden vorher noch die letzten liegengebliebenen LKW wieder flott gemacht worden waren, mehr oder weniger freie Fahrt. Die erste Etappe verlief also ohne größere Zwischenfälle.

Inzwischen schäme ich mich selbst ein wenig dafür, in jenem Moment diesen Gedanken gehabt zu haben, aber für eine kurze Weile dachte ich naiverweise tatsächlich: Wenn es weiterhin so läuft, wird es ein ruhiger Tag.

Der Check durch den Sachverständigen zog sich etwas länger hin, aber man hatte mich ja gewarnt, dass die irgendetwas finden müssen, was sie beanstanden können. Die Vorgabe meiner Bosse lautete dann auch, dass ich einfach nur abstellen und unterschreiben, nicht aber verhandeln soll. Sie schätzen meine Fachkompetenz, machen aber offenbar nicht den Fehler, meine Konfliktfähigkeit zu überschätzen. Also abwarten und mich mit der Vorstellung ablenken, dass ich irgendwann, wenn ich ´mal über viel Geld verfüge, ein geleastes Auto in einem Zustand zurückbringe, mit dem selbst erfahrene Recken im Business nicht rechnen würden. Mit den Worten „So, da isser wieder“ die Kiste abstellen und so tun, als wäre es das normalste auf der Welt, dass eine Tür durch eine andersfarbige upgegradet wurde – das könnte mir gefallen. Der Gesichtsausdruck des Händlers wäre diese Investition wohl in jedem Fall wert.

Nachdem die Formalitäten erledigt waren, lag mit dem Fußmarsch zum Hauptbahnhof die nächste Etappe vor uns. „Am besten mit dem Taxi“, antwortete mir der freundliche Autohändler auf die Frage nach dem schnellsten Weg zum Hauptbahnhof. Als er dann auf meine Erläuterung, dass wir das locker zu Fuß schaffen, seine Wegbeschreibung mit dem Satz „Von dort fährt eine Straßenbahn zum Hauptbahnhof“ beendete, war mir klar, dass ein Angestellter eines Autohauses niemals der richtige Ansprechpartner für solche Fragen sein würde. Aber wir würden das schon irgendwie hinbekommen, was sollte denn auch großartig passieren?!

Was wir angesichts freier Fahrt für freie Bürger bis zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht wahrgenommen hatten, offenbarte sich, als wir das Gelände des Autohauses verließen: Gehwege in welche Richtung auch immer waren nämlich de facto nicht vorhanden. Man hatte dort einfach ´mal überhaupt nichts geräumt. Was irgendwie auch logisch ist, denn wo sonst, wenn nicht auf den Bürgersteig, soll bitte der Schnee auch hin, der beim Räumen der Fahrbahn angefallen ist?! Der Arctic Outbreak hatte aus Erfurt sozusagen über Nacht eine „No-go-Area“ für alle gemacht, die nicht fahren können oder wollen.

Es waren ja für diesen Tag ursprünglich bis zu minus 17 Grad angekündigt gewesen. Selbst wenn wir die Frage an dieser Stelle offen lassen, wieso diese Prognose binnen zwei Tagen um satte 13 Grad nach oben korrigiert wurde, blieben noch sportliche minus 4 Grad. Unsere komplette Vorbereitung galt also der Auswahl der richtigen Garderobe für einen 6,5 Kilometer langen Spaziergang. Dass die Kälte überhaupt nicht unsere größte Herausforderung wird, konnten wir nicht auf dem Zettel haben. Dass wir sogar ins Schwitzen geraten würden, erst recht nicht. Immerhin: Dass die ursprünglich für den Weg veranschlagte Zeit zu optimistisch bemessen war, wurde uns sofort bewusst, als wir auf der Fahrbahn das Gewerbegebiet entlangliefen und uns bei jedem Fahrzeug so dünn wie möglich machten, was für zwei wohlgenährte Personen schon an sich eine nicht zu unterschätzende Leistung ist.

Nach der ersten halben Stunde wussten wir bereits: Nicht einmal das ist unser größtes Problem, sondern eher die Hoffnung, es würde sich verbessern: Wenn wir erst einmal in bewohnte Gegenden kommen oder nach der nächsten großen Kreuzung, wo es von weitem schon so viel besser ausgesehen hat, oder wenigstens wenn wir so etwas wie eine Fußgängerzone erreichen.

Um es nicht dramatischer klingen zu lassen als es tatsächlich war – irgendwann konnte wenigstens phasenweise der eigentlich für Fußgänger vorgesehene Bereich benutzt werden, weil dort nicht 40, sondern lediglich 15 Zentimeter Schnee das Leben schwer machten. Nie zuvor hatte ich auf der Arbeit das Gefühl, so dermaßen auf der Stelle zu treten wie an diesem Tag. Und dort, wo das Begehen des Bürgersteigs theoretisch ohne Gebirgsjägerausbildung möglich gewesen wäre, wurden viele Bereiche wegen drohender Dachlawinen oder Eiszapfen abgesperrt. Dass die Gefahr von oben auch dort gegeben ist, wo der Bereich nicht abgesperrt wurde, wurde mir gewahr, als eine satte Fuhre Schnee unmittelbar neben mir einschlug. Aus heiterem Himmel würde ich jetzt nicht sagen, denn dafür war es zu bewölkt, nachgerade unheiter, um nicht zu sagen trist. Aber gut – das ist jetzt natürlich Schnee von gestern beziehungsweise war er das sogar schon zu dem Zeitpunkt, als es geschah. Eine kleine Menge, die da abgegangen ist, aber groß genug, um aufzurütteln: Wenn schon sterben, so wenigstens mit etwas mehr Würde als erstens durch eine Dachlawine, zweitens während der „Arbeit“ und drittens in Erfurt. Was sollen denn die Kollegen denken?!

Wenn der Hauptbahnhof das Ziel ist, kann nicht der Weg das Ziel sein. Von dieser Warte aus betrachtet: Die Erfurter mögen ihre Gründe dafür haben, dass ihr Hauptbahnhof auf keinem der Wegweiser, denen wir unterwegs begegnet sind, eine Erwähnung wert ist. Für uns jedoch war dieser Umstand wenig zielführend. Und je mehr Leute wir nach dem Weg gefragt hatten, umso größer wurde der Verdacht, dass die uns nicht wegen des Vorhabens, durch diesen Schnee zu Fuß zum Hauptbahnhof gelangen zu wollen, für verrückt erklärt haben. Sondern dass denen vielmehr schon suspekt genug ist, dass jemand den Bahnhof überhaupt per pedes erreichen möchte. Kreise schließen sich, denn angesichts derart offen zur Schau gestellter Bewegungsunlust erscheint es eigentlich sogar konsequent, die Gehwege sich selbst zu überlassen. Aber gut – andere Länder, andere Sitten, sage ich immer.

Letzten Endes konnte keiner der Eingeborenen verhindern, dass wir nach 135 Minuten doch ohne Hilfsmittel wie Bus, Straßenbahn oder zufriedenstellender Wegbeschreibung am Bahnhof angekommen sind. Als man das Gebäude aus vielleicht 150 Metern Entfernung schon von weitem sehen konnte und sich seine Existenz demnach nicht mehr verleugnen ließ, fand sich dann auch tatsächlich der erste Hinweis auf einem Wegweiser. Wir waren gerührt und dankbar, dass die Stadt Erfurt auf diese Weise verhindert hat, dass wir unser Ziel auf den letzten Metern nicht noch verpasst haben und betraten ehrfurchtsvoll die Heiligen Hallen des Erfurter Bahnhofes. Da Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit selbst bei Wind und Wetter zu den Kernkompetenzen der Deutschen Bahn zählen, konnte ab jetzt eigentlich nichts mehr großartig passieren.

Dass die Bahn bei einer Verspätung von mehr als 60 Minuten jedem Fahrgast ein Glas Wasser spendiert, finde ich jedenfalls eine faire Geste. War mir vorher nicht bekannt. Und solange sie es nicht zur Gewohnheit werden lassen…

Forever young

„Wozu schicke ich Dich eigentlich so lange auf die Schule“ pflegte mein Vater früher zu fragen, wenn er bei einem Thema der Meinung war, dass ich dazu irgendetwas Fundamentales beisteuern können müsste.

Meine Entscheidung, Politikwissenschaften zu studieren, gab ihm später die Gelegenheit, da noch einen drauf zu setzen. Er musste lediglich die Schule durch die Universität ersetzen, und schon konnte dieser Standard weiter benutzt werden. Theoretisch sogar ein ganzes Jahrzehnt lang. Eines Tages allerdings kam der Anruf meiner Mutter, der so vieles veränderte. Die Zeit stand von einer Sekunde auf die andere still, auch wenn alle behaupteten, das Leben gehe weiter. Dass er nicht mehr mitbekommen durfte, dass ich diese Institution irgendwann mit Abschluss verließ, empfinde ich bis heute als ungerecht. Denn bestimmt hätten ihn meine Antworten auf so manche Frage, die das Leben stellt, ernsthaft interessiert.

Man wirft (auch) den (Sozial-)Wissenschaften ja häufig und vollkommen zu Recht eine gewisse Weltfremdheit vor. Und in der Tat ist dummerweise weder der Umgang mit Chancen noch der Umgang mit verpassten Chancen Inhalt irgendeines Studiengangs. Solche Dinge bringt einem unter anderem der Papa bei. Was ich von ihm in dieser Hinsicht bis dahin meinte zwischen den Zeilen immer ´mal wieder herauszuhören, war: Erwarte am besten erst ´mal gar nichts, dann wirst Du auch nicht enttäuscht. Und obwohl ich diesen Rat bislang recht konsequent zu beherzigen versuchte, blieb mir natürlich die eine oder andere Enttäuschung doch nicht erspart. Aber immerhin ist der aus diesen Enttäuschungen resultierende Frust noch nicht so groß, dass ich jetzt schon ständig allen Leuten „Das ist kein Radweg“ und vergleichbare Praxisratschläge hinterher plärren würde.

Man muss einerseits dafür nicht studieren und kann, andererseits, trotz Studiums nicht garantieren, irgendwann ein erfülltes und jederzeit spannendes Leben zu führen. Vieles spricht dafür, dass im Gegenteil eine Mehrheit der Menschen ab Vierzig ihre Restlaufzeit mehr oder weniger absitzt und mit ihrem Leben liebend gern Waffenstillstand schließen würden: Du lässt mich in Ruhe, dafür mute ich Dir auch nicht mehr zu viel zu. Im Grunde verhält sich der Mensch an sich nicht wesentlich anders als ein x-beliebiges Lebensmittel: Ist das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten, kann man damit durchaus noch längere Zeit etwas anfangen. Aber manchmal riecht es halt schon ein bisschen.

Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, in meinem Alter der einzige zu sein, der diese Situationen vermisst, in denen aus der Euphorie des Augenblicks aus einem „Man müsste eigentlich ´mal“ ein „Wir machen das jetzt einfach“ wird. Das, was jemand ´mal als „Abschiednehmen von Möglichkeiten“ als charakteristisch fürs Alter beschrieben hat, schließt zwar nicht aus, dass manche es noch einmal allen zeigen wollen und deswegen beginnen, Gitarrenunterricht zu nehmen. Doch das Fehlen dieser gewissen Aufbruchstimmung, des Feuers früherer Zeiten, lässt das ausgehen wie das Hornberger Schießen. Wer kann denn überhaupt seriös beurteilen, ob diese Typen, die sich mit 50 Jahren noch verhalten wie mit 25, sich nun treu geblieben sind oder sich eventuell doch einfach bloß null weiterentwickelt haben?

Mehrfach wiederholt und dennoch bis heute unbeantwortet ist auch die Frage, was wohl aus den Leuten geworden ist, die sich schon mit Anfang 20 trotz Einladung zur WG-Party zum Spiele- oder Fernsehabend verabredet haben.

Ich behaupte gar nicht erst, Antworten auf diese und noch weitaus komplexere Fragen zu haben, wurde aber im Leben schon mit Menschen konfrontiert, die einem alles erklären können. Zum Beispiel fragte mich vor einigen Jahren eine mir seinerzeit relativ nahestehende Person völlig ernsthaft, ob ich denke, dass mein Kater Pauli mein wiedergeborener Vater sei.

Spontan wollte ich antworten: Ich denke nein, denn mein Papa würde mir nicht manchmal interessiert beim Rattern zuschauen. Weil mir aber gerade noch rechtzeitig eingefallen ist, dass dieser Hinweis im Beisein meiner damaligen Ehegattin eine ganze Reihe weiterer und womöglich weitaus unangenehmerer Fragen nach sich ziehen könnte, fiel meine Antwort aus strategischen Gründen recht einsilbig aus.

Andererseits: Vielleicht war des Tieres Blick nicht interessiert, sondern vorwurfsvoll. Zu anderen Gelegenheiten jedenfalls eindeutig melancholisch. Letzteres immerhin würde für die These vom wiedergeborenen Papa sprechen.

Allerdings können einem auch Leute mit noch ein paar Tassen mehr im Schrank schon gewaltig auf den Keks gehen. Dann nämlich, wenn sie behaupten, man sei immer so alt, wie man sich fühlt. Ich verstehe die hinter solchen Äußerungen steckende Motivation. Aber hat dabei überhaupt ´mal jemand in Erwägung gezogen, dass man sich ja auch älter fühlen kann als man tatsächlich ist? Hat man ´mal drüber nachgedacht, wie deprimierend das sein kann? Und wie kann man überhaupt wissen, wie man sich mit zehn Jahren mehr auf dem Buckel fühlen würde, ohne nicht mindestens einmal wiedergeboren zu sein?

Manchmal, wenn ich abends den Rechner hoch- und den Körper ´runterfahre, legt sich der Kater so penetrant auf die Tastatur, dass ich nicht einmal youporn in die Adresszeile des Browsers eingeben kann. Das bedeutet, dass er mit mir zu reden hat. Er sagt dann meistens „Dafür habe ich Dich nicht auf die Uni geschickt.“

„Ich wollte mir gerade zur Entspannung ein paar Katzenvideos angucken“, verteidige ich mich.

„Katzenvideos? Da lacht die Koralle!“

„Okay, ich weiß, was Du sagen willst. Ich habe es selbst versemmelt. Hatte keinen Plan B. Streng genommen nicht einmal einen Plan A. Eine Idee immerhin. Ein Ziel, aber keinen wirklichen Plan, wie ich dorthin gelangen könnte. Dass ich ursprünglich vorhatte, meinen Lebensunterhalt mit Schreiben zu bestreiten, weißt Du ja noch. Ihr beide habt mich unterstützt so gut Ihr es konntet und mir an und für sich gute Voraussetzungen geschaffen. Es läuft halt nicht immer alles nach Plan.“

„Das meine ich nicht einmal“, sagt mein Kater dann zu mir. „Solange die mangelnde Aufbruchstimmung Dein einziges Problem ist und nicht Hunger und Siechtum, Obdachlosigkeit oder dass Du wie Dein missratener Bruder zu den Kickers konvertierst – solange geht es Dir unterm Strich verdammt gut! Dessen musst Du Dir immer bewusst sein.“

Wenn es scheiße läuft und mehr noch wenn es gut läuft, kann man um einen herum Menschen gut gebrauchen, die einem völlig ohne Eigennutz zur Seite stehen. Als solcher stand mein Vater mir nicht mehr zur Verfügung, seit ich 30 geworden war. Die Tage wäre er 80 Jahre alt geworden, wenn es das Schicksal besser gemeint hätte. Mit 80 ist man heute ein Jahr über der durchschnittlichen Lebenserwartung. Zum Zeitpunkt seines Todes vor nunmehr 19 Jahren hatte er den Durchschnitt nach unten gesenkt.

Aber er hatte mich ja lange genug zunächst auf die Schule und hinterher auf die Uni geschickt, dass ich zu dieser Zeit immerhin schon wusste, dass der Statistik Gerechtigkeit egal ist.

Nachts ist es kälter als draußen

So etwas sagt man doch nicht! Jedenfalls nicht mehr. Dachte ich zumindest. Entsprechend bin ich regelrecht zusammengezuckt, als ich die Tage einen Mann, als dieser zu einem anderen Mann ins Auto stieg, zur Begrüßung sagen hörte: „Was bringst denn Du für ein Wetter mit?“

Donnerwetter, dachte ich, das sind ja Aussichten. Schließlich sagt es nicht eben wenig über den Zustand einer Gesellschaft aus, wenn Einzelne mit Sprüchen, die vor 40 Jahren einmal originell waren, heute noch andere beeindrucken wollen.

Aber ich übe Nachsicht. Weil Smalltalk ein Grundbedürfnis und das Wetter dafür nach wie vor ein geeigneter Einstieg ist. Man darf halt nur nicht zu viel erwarten. Das gilt für den Smalltalk genauso wie für den Versuch eigentlich spaßbefreiter Zeitgenossen, einfach ´mal einen lässigen Spruch ´rauszuhauen.

In diesem Punkt Milde walten zu lassen bedeutet allerdings nicht, gleich jegliche Überlegung zu unterdrücken, warum zum Henker ein völlig zu Recht in Vergessenheit geratener Spruch wie dieser aus der Mottenkiste gekramt werden muss, obwohl der Typ ja seit dem Aufstehen Zeit genug gehabt hätte, sich einen originelleren Gesprächseinstieg auszudenken. Und bei genauerem Hinsehen stellt man auch rasch fest, dass es sich dabei mitnichten um einen Einzeltäter handelt, sondern dass dahinter eine gewisse Methode erkennbar ist und solche Jahrzehnte alten Phrasen nämlich häufiger recycelt werden als der oberflächliche Blick vermuten lässt:

Bleiben wir zunächst beim Wetter. Einer der Kalendersprüche meiner Generation überhaupt ist ja die Behauptung, es gebe kein schlechtes Wetter, nur falsche Kleidung. „Am Arsch die Räuber“ kann ich dazu nur sagen. Wer schon einmal dabei zusehen musste, wie ein Tornado schön das Dach über dem Kopf abfräst, wird anerkennen müssen, dass es sehr wohl schlechtes Wetter gibt. Wenn also das nächste Mal irgendwer mit dieser unhaltbaren These vom Wetter und der Kleidung um die Ecke kommt, darf man ihm getrost ein „Erzähl´ mir nichts vom Gipskrieg“ entgegen schmettern. Das ist die Universalformulierung, um eine Behauptung zurückzuweisen.

Wem da der rhetorische Feinschliff fehlte, der drückte seine Zweifel an einer Aussage gerne auch mit einem trocken vorgetragenen „Da lacht die Koralle“ aus. Das klingt weniger offensiv, funktioniert allerdings nur unter gewissen Voraussetzungen: Während die Formel mit dem Gipskrieg zur Kennzeichnung jedweden Unfugs als Unfug taugt, bezieht sich die Redewendung mit der Koralle speziell auf jemandes Erklärungen, in Zukunft dies oder jenes zu tun oder zu unterlassen. Typisches Anwendungsbeispiel wäre als Entgegnung auf die Ankündigung des notorischen Säufers, er wolle seine Exzesse von nun an nur noch sehr sparsam dosiert einsetzen, wenn man genau weiß, dass er drei Tage später von diesem Vorsatz nicht mehr viel wissen möchte. Jeder kennt ja mindestens einen dieser Ankündigungsweltmeister („Ich komm´ morgen vorbei, geht nicht, gibt’s nicht“), die auf kleinste Irritationen ihrer gewohnten Abläufe mit Sprüchen wie „Ein alter Mann ist kein D-Zug“ oder „Ich bin auf der Arbeit, nicht auf der Flucht“ reagieren. So Leute halt, die man eben doch irgendwann auf Augenhöhe ertragen muss, wenn stets der Klügere nachgibt.

Es darf nicht überraschen, dass man sich mit solchen Menschen hin und wieder in einem offenen Schlagabtausch wiederfindet. Dann ist es natürlich äußerst hilfreich, eine passende Formulierung für das Zünden der nächsten Eskalationsstufe parat zu haben. Aus heutiger Sicht kaum nachzuvollziehen, hielten wir eine Zeitlang Phrasen wie „Noch so´n Spruch – Kieferbruch“ als Ankündigung einer unmittelbar bevorstehenden körperlichen Auseinandersetzung für zielführend. Fortgeschrittene benutzten Varianten wie „Noch so´n Satz – Zahnersatz“. Selten so gelacht. Eigentlich kein Wunder, dass der Angesprochene sich von solchen Sprüchen in aller Regel maximal unbeeindruckt zeigte. „Ruckzuck sind wir ein Knäuel“ war charmanter, letzten Endes aber auch nur geringfügig geeigneter, eine bessere Verhandlungsposition zu erlangen. Im Normalfall war die großspurig angekündigte zünftige Rangelei demnach weniger wahrscheinlich als es die Ausdrucksweise vermuten ließ.

Dabei hätte man ein bis zwei Anekdoten von mittleren Ausschreitungen an anderer Stelle gut gebrauchen können. Dann nämlich, wenn man ´mal wieder von irgendeinem Kegelbruder der Eltern aufgefordert wurde: „Erzähl´ doch ´mal einen Schwank aus Deiner Jugend!“

Und vielleicht hätte man anstatt schüchtern zu schweigen in solchen Momenten besser das Visier hochgeklappt. Etwa so: „Ich glaub´, mein Schwein pfeift! Nachdem Ihr mir sonst seit Jahren erfolgreich eingeredet habt, dass der Krümel zu schweigen hat, wenn der Kuchen spricht, spiele ich gewiss nicht den Pausenclown, weil Euch gerade Eure eigene Unterhaltung langweilt. In fünfzehn Jahren werde ich mit meiner Therapeutin herausgearbeitet haben, dass die Kombination dieser beiden Sprüche dazu geführt hat, nur dann zu reden, wenn ich gefragt werde. Also seht es mir nach, dass mein Bedürfnis nach Smalltalk im Moment ausgereizt ist.

Und wo wir gerade dabei sind: Mir ist und bleibt es egal, ob egal nun ein Handkäs´ ist oder nicht. Entscheidet Ihr Euch lieber endlich ´mal, ob es in meinem Zimmer aussieht wie bei Hempels unterm Sofa oder wie bei den Hottentotten. Das macht nämlich einen Riesenunterschied. Und überhaupt: Kommt Ihr erst ´mal in mein Alter!

Wenn Ihr ernsthaft etwas für meine Entwicklung tun wollt, erläutert mir doch einfach ´mal: Wie muss man sich das vorstellen, wenn ein Hamster bohnert? In etwa so, wie Hechtsuppe zieht?

Eins vielleicht noch: Das Wetter wird auch von niemandem mitgebracht, sondern das ist meistens schon da. Damit Ihr das endlich ´mal kapiert!“

Klar kann man auf das Problem, dass die meisten Sprüche nach mehrmaliger Wiederholung einfach nicht mehr witzig sind, auch diplomatischer aufmerksam machen. Aber ein bisschen Spaß muss schließlich sein.

In diesem Sinne Ende Gelände. Ich mache mich vom Acker und sage Wirsing, tschüssikowski und bis Baldrian!

Alles nur geklaut

Lassen wir den ersten Blogeintrag des Jahres einfach ´mal mit einer guten Nachricht starten: Die Zahl der Ladendiebstähle nimmt ab. Gut – es wird zur gleichen Zeit auch weniger verkauft, wenn die Läden dicht sind, aber irgendein Haar in der Suppe wird sich immer finden lassen. Damit schlechte Stimmung deswegen gar nicht erst aufkommt, schiebe ich die nächste gute Nachricht gleich hinterher: Auch Wohnungseinbrüche haben infolge vermehrten Zuhausebleibens stark abgenommen.

Doch bevor jetzt die ersten wieder mit Schaum vor dem Mund in die Tasten hauen, dass in der „Corona-Diktatur“ selbst die Langfinger „Berufsverbot“ haben – nehmt Euch an ihnen lieber einmal ein Beispiel! Die angesprochene Gruppe weiß sich schon zu helfen. Nach dem Motto „Nicht immer nur meckern, sondern auch ´mal etwas tun“ wird Pragmatismus gepflegt: Wenn man schon nichts klauen kann, was irgendeinen Gebrauchswert hätte, erweitern wir eben unser Produktportfolio kurzerhand und nehmen das, was wir bekommen können.

Dass manche offenbar wirklich jeden Mist gebrauchen können, belegt nicht nur ein Blick in mein Wohnzimmer, sondern auch in die Meldungen aus aller Welt, die in der Regel in Tageszeitungen auf der letzten Seite eher der Unterhaltung als der Information dienen. Ein Einnetzgerät für Weihnachtsbäume wurde da beispielsweise vor kurzem entwendet. Falls auch nur irgendein Zusammenhang mit den andernorts gestohlenen 100 Tannen besteht, ergibt diese Aktion sogar Sinn. Wenn nicht, hat man halt ein Einnetzgerät zuviel. Und 100 Weihnachtsbäume nenne ich sowieso ambitioniert! Die verkauft man ja nicht einfach ´mal eben aus dem Kofferraum an Kollegen und die Vereinskameraden vom Handball. 100 Tannenbäume sind schon groß gedacht.

Die Weihnachtsbäume stehen dabei durchaus exemplarisch für ein generelles Problem der konsequenten Anwendung des Prinzips „Gelegenheit macht Diebe“. Denn was stellt man mit dem in Zueignungsabsicht in ein ausreichend großes Transportmittel verladenen Jagd-Hochsitz am Ende des Tages an? Der Anfangsverdacht, dass der Aufwand größer als der Ertrag ist, besteht auch bei den 90 Leitplanken-Teilen, die vergangenen Sommer in Südhessen zur Beute wurden. In Texas wurde 2018 sogar ein Hai aus einem offenen Pool eines dortigen Aquariums mitgenommen. Solche Erzeugnisse sind aufgrund ihrer Unhandlichkeit sowie ihrer „ungeklärten“ Herkunft ja auch weder für einen Flohmarkt noch für den Kleinanzeigenmarkt geeignet.

Bei einem im Frühjahr 2018 von einer Baustelle entwendeten 48 Tonnen schweren Kran ist später immerhin der Abnehmer ausfindig gemacht worden. Seitdem rätselt die Fachwelt bloß noch darüber, wie es gelingen konnte, solch schweres Gerät unentdeckt von Stuttgart nach Ägypten zu schaffen. Da kann der kleine Mann, der bestenfalls im Holiday Inn bei der Abreise versehentlich einen Bademantel mit einpackt, einfach nicht mithalten. Wobei anerkannt werden muss, dass die Diebstähle aus Hotels in letzter Zeit durchaus etwas einfallsreicher wurden: Matratzen, ein Rudergerät aus dem Fitnessraum oder ein Piano aus der Bar sind in dieser Hinsicht schon ´mal recht eindrucksvolle Beispiele, was möglich ist. Denn Gegenstände solcher Größenordnung müssen ja unbeobachtet nicht nur an der Rezeption vorbei, sondern vor der Tür auch noch unter Beachtung sämtlicher Aspekte von Ladungssicherung auf ein geeignetes Fahrzeug kommen. Der gewöhnliche Dachgepäckträger scheint mir da nicht ´mal die zweitbeste Lösung zu sein.

Angesichts dieser und anderer Schwierigkeiten darf es nicht verwundern, dass die weniger kreativen Diebe den vermeintlich einfacheren Weg gehen und zum Beispiel versuchen, Geldautomaten um ihren Inhalt zu erleichtern. Das geschieht dann wahlweise durch Abtransport des kompletten Gerätes oder durch Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion direkt vor Ort. (Wobei Fachleute keine pauschale Empfehlung für eine der genannten Methoden abgeben, sondern zur Beurteilung, welche der beiden die effektivere ist, die Einzelfallabwägung bevorzugen.) Wie auch immer man sich am Ende entscheidet – zu beachten bleibt in jedem Fall, dass Zeitdruck die Fehleranfälligkeit erhöht. Nicht wenige Gangster, die sich zunächst diebisch gefreut hatten, dann aber in einer abgelegenen Lagerhalle vor einem profanen Kontoauszugsdrucker standen, werden dies bestätigen können. Betrachtet man zudem die beim Umgang mit explosiven Stoffen nicht unerhebliche Verletzungsgefahr, ergibt sich oft genug das Bild, dass auch bei Geldautomaten Aufwand und Ertrag in keinem besonders gesunden Verhältnis stehen.

Zum Glück arbeitet man aber in einem Milieu, das wie kein zweites Brüche im Lebenslauf duldet, vielleicht sogar erwartet. Wo Lücken in der Vita nicht krampfhaft als Auslandsaufenthalte beschönigt werden müssen, kann man leichter einfach noch einmal neu anfangen. So wie der Protagonist des folgenden fiktiven Dialogs, der dem Klischee entsprechend im Hinterzimmer einer verrauchten Kneipe stattfindet. Dort versucht unser Antiheld, nennen wir ihn „Kickers-Schorsch“, bei einer Art Job-Interview beim „Lächelnden Joe“ die ersten Sprossen seiner Karriereleiter zu erklimmen.

Kickers-Schorsch: „Bist Du Joe?“

Der lächelnde Joe: „Wer will das wissen?“

„Theo sagt, wenn ich Bares für Rares haben will, soll ich bei Dir vorstellig werden.“

Der lächelnde Joe zieht skeptisch eine Augenbraue hoch. „Der gute alte Terror-Theo… dieser Nichtsnutz! Ist er diesen 48-Tonnen-Kran eigentlich inzwischen losgeworden? Aber gut, lassen wir die alten Geschichten. Was kannst Du für mich tun?“

Kickers-Schorsch beginnt etwas zögerlich: „Haftcreme…?!“

Der lächelnde Joe: „Haftcreme!“

„Ja, 140 Tuben.“

„Du stiehlst mir meine Zeit.

Pablo“, bedeutete er dem stumm neben ihm stehenden Typ der Marke Knochenbrecher, „geleite den Herrn hinaus.“

„Warte! Ich mache ein Super-Angebot“, sucht Kickers-Schorsch seine letzte Chance.

„Nun gut, was ist letzte Preis?“

„50 Cent pro Tube.“

„Pablo, richte ihm aus, dass ich nicht interessiert…“

„…nein, warte! Das sind 25 Prozent des Ladenpreises.“

„Jetzt hör´ mir ´mal zu, Du Wicht! Ich weiß nicht, seit wann Theo mit Kindern Geschäfte macht, aber ich habe heute schon ein Piano sowie ein Rudergerät gekauft und vor ein paar Minuten noch 100 Weihnachtsbäume von einem Geschäftspartner angeboten bekommen. Das ist heißer Scheiß! Komm´ wieder, wenn Du mir ein Angebot in dieser Größenordnung machen kannst. Ansonsten kannst Du mir gestohlen bleiben.“

„Ich werde sehen, was sich machen lässt.“

„Das hoffe ich für Dich. Enttäusch´ mich nicht noch einmal!

Pablo…bitte!“

Bevor unser sympathischer Antiheld von Pablo mit einer gewissen Verbindlichkeit zur Tür herausgebracht wird, richtet der lächelnde Joe noch einmal das Wort an ihn:

„Wenn Du mir Leitplanken besorgen kannst, sind wir im Geschäft.“

„Leitplanken? Echt jetzt?“

„Sehe ich so aus, als wäre mir nach Witzen zumute?“

„Mit Verlaub – bei einem permanenten Lächeln im Gesicht kann man das nicht immer zweifelsfrei ausschließen.“

„Touché! Doch Spaß beiseite: Ich plane eine Autobahn, um schneller von einem Teil unseres Anwesens zum anderen zu gelangen.“

„Ich werde sehen, was sich machen lässt.“

„Oder einen Hochsitz. Die Wildschweine in meinem Wald entwickeln sich allmählich zur Plage.“

Vor der Tür wird Pablo plötzlich unerwartet redselig: „Eins muss man Dir lassen: Mut hast Du. Früher hätte ich Typen wie Dir beide Beine brechen müssen. Aber seit der Boss bei der Detonation eines Kontoauszugdruckers fast draufgegangen wäre, als er zufällig am Automat nebenan Geld abheben wollte, hat er sich vorgenommen, jedem Tag mit einem Lächeln zu begegnen. Außerdem hinterfragt er sein eigenes Konsumverhalten ständig und denkt vermehrt darüber nach, worauf es im Leben wirklich ankommt und welche Dinge man wirklich gebrauchen kann und welche dagegen nur eine – wie er es beschreibt – kurze Illusion eines Glücksgefühls verschaffen.

Naja, dann trotzdem viel Erfolg!

Und noch was: Leg´ Dir einen Namen zu, bei dem nicht jeder Narr sofort checkt, dass Du nur ein harmloser Kleinkrimineller bist!“

Man merkt eventuell, dass ich keinen Schimmer habe, wie in dieser Branche Geschäfte angebahnt werden. Was ich allerdings weiß: Wenn die Bevölkerung noch länger zuhause bleiben soll, droht großen Teilen dieses Wirtschaftszweigs das Aus. Deswegen: Denkt dran, dass Diebe, Einbrecher und andere in diesem Gewerbe Tätigen meistens selbstständig sind und also auch in Pandemie-Zeiten kaum staatliche Hilfen erwarten können. Seid also solidarisch mit diesen Menschen und verlasst hin und wieder trotz Home-Office, Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen Eure vier Wände, damit die Langfinger dort ihr Tagwerk verrichten können. Ein Ausflug zum Feldberg ist völlig ausreichend. Der garantiert momentan einen ganzen Tag Abwesenheit. Das sollte Euch Euer Lieblings-Gauner einfach wert sein.

Hurra, wir leben noch

Die meisten haben ja das Jahr selbst erlebt. Das macht einen Rückblick darauf üblicherweise zu einer leicht abgegriffenen Angelegenheit.

Einerseits.

Andererseits sieht man bekanntlich nicht nur mit dem Zweiten besser und ansonsten nur mit dem Herzen gut, sondern außerdem je nach Standpunkt höchst Unterschiedliches. Das Wembley-Tor 1966 hat auch jeder etwas anders gesehen. Mancher hat den von der Unterkante der Latte auf, vor oder hinter die Linie und von dort ins Spielfeld gesprungenen Ball auch im Netz zappeln sehen. Seitdem rätselt die Fachwelt, an welcher Stelle eines Fußballtores genau der damalige Bundespräsident Heinrich Lübke, von dem diese Aussage stammt, das Netz anbringt. Souveränes Auftreten bei totaler Ahnungslosigkeit – fraglos ein sehr früher Fall eines Phänomens, das wir seit einiger Zeit verstärkt als Problem nicht nur bei Staatsoberhäuptern wahrnehmen und das halt auch irgendwie zu diesem fast abgelaufenen Jahr 2020 gehört.

Nun mag die Frage, ob sich die Subjektivität der Betrachtung positiv oder negativ auf das Unterfangen Jahresrückblick auswirkt, allein vom Einzelfall entschieden werden. Unabhängig vom Ergebnis darf allerdings festgestellt werden, dass der Rückblick gegenüber dem Ausblick die allemal dankbarere Aufgabe ist. Eine Ausnahme von dieser Regel tritt freilich in Kraft, wenn das, worauf zurückgeblickt werden soll, das Jahr 2020 ist.

Dabei fing das Jahr selbst, wie in solchen Fällen üblich, mit dem 1. Januar noch recht normal an. Für die ersten guten Vorsätze war zwar schon kurz nach dem Ausschlafen Schluss, aber auch das bewegte sich wahrscheinlich durchaus im Rahmen des Gewohnten und konnte die meisten zunächst nicht von der Annahme abhalten, dass sie in 2020 so richtig durchstarten würden. Aber… hinterher und schlauer und immer und so. Man kennt das.

Hätte irgendjemand am 27. 12. 2019 prognostiziert, dass im nächsten Jahr der FC Bayern das Triple gewinnt, der Flughafen BER eröffnet wird und eine Pandemie das gesellschaftliche Leben weltweit auf den Kopf stellt, wäre das mögliche Triple das einzige Ereignis gewesen, dem man eine halbwegs realistische Chance des Eintreffens gegeben hätte.

Nicht dass ich diesem fiktionalen Genre besonders viel abgewinnen könnte, aber gönnen wir uns doch einmal den Spaß, mit dem Wissen von heute die Jahreshoroskope für 2020 daraufhin abzuklopfen, wie gut sie uns durch das Jahr gebracht haben. Der Klassiker, man möge sich mehr um die Gesundheit kümmern, wurde von der Entwicklung definitiv eingeholt, ein weiterer Klassiker („Unternehmen Sie mehr mit Freunden“) von derselben Entwicklung dagegen tendenziell ad absurdum geführt. Der Komplex Beruf und Karriere wurde bei den allermeisten Menschen weniger von der Stellung von Jupiter oder Saturn beeinflusst, sondern davon, ob man Pakete zustellt, Kranke pflegt oder ein Restaurant führt.

Trotzdem habe ich mir ´mal ein Horoskop für das nächste Jahr angeschaut. Sicherheitshalber. Es könnte ja sein, dass mich 2021 irgendein Knaller erwartet. Da würde ich ungern völlig unvorbereitet sein, wenn es soweit ist. Doch dem ersten Anschein nach wird sich das neue Jahr ähnlich wenig Mühe geben wie das alte, irgendetwas Besonderes für mich bereitzuhalten. Teamgeist soll ich halt entwickeln. Was soll das denn jetzt wieder? Jedes Team, das bisher mit mir arbeiten durfte, war stets dann am besten, wenn alle nach meiner Pfeife tanzten. Ich befürchte daher, dass überhaupt nur wenige Menschen so teamfähig sind wie ich. Sollte sich das nächstes Jahr wider Erwarten ändern, nehme ich das gern in Kauf. Bis dahin erledige ich die wichtigen Aufgaben lieber selbst.

„Geben Sie nicht so viel Geld aus für Dinge, die Ihnen nichts nützen“, wird mir noch geraten. Das könnte ich mir übrigens auch gut als Gedächtnisstütze an meinem Monitor vorstellen, wenn ich mir ´mal wieder plötzlich Massagepistolen ansehe, obwohl ich ursprünglich einen neuen Schreibtischstuhl gesucht habe. Doch Spaß beiseite! Das kann man mir zwar nicht oft genug sagen, soll an dieser Stelle allerdings wohl eher davon ablenken, dass es eigentlich in das letztjährige Jahreshoroskop gehört hätte. Eine brauchbare Vorhersage hätte gelautet: „Decken Sie sich am besten im Januar mit Nudeln ein, denn wenige Wochen später drehen die Leute deswegen komplett durch.“

Ansonsten wären mir – bei aller Kritik – Bilder von Fußball-EM und Olympischen Spielen als Gegenstand eines Jahresrückblicks aus ästhetischen wie inhaltlichen Gründen wesentlich sympathischer gewesen als so manche verstörenden Aufnahmen einiger Demonstrationen. Nehmen wir an, jemandem aus diesem erlesenen Kreis der Erleuchteten würde im Verlauf einer Unterhaltung die Phrase „Für wie blöd hältst Du mich eigentlich“ herausrutschen, und Dir fällt partout kein adäquater Vergleich ein, dann hast Du 2020 recht gut zusammengefasst. Allerdings – ich gebe es zu – ist dieses Szenario schon sehr weit hergeholt, und diese Frage gehörte natürlich mehrheitlich in die andere Richtung gestellt: an die Adresse derjenigen, die sich permanent anmaßen, mich über Dinge zu belehren, von denen sie selbst nichts verstanden haben. Die mich in Großbuchstaben und mit reichhaltig Ausrufezeichen und auch ansonsten wenig sensibel gegenüber sämtlichen Regeln von Ortografie und Rechtschreibung anpöbeln, ich solle mich, bitte, ´mal informieren.

Man kann über 2020 sagen, was man will, aber es hat die Leute auf die eine oder andere Weise aus ihrer Komfortzone geholt. Oder, je nach Interpretation, auch in die Komfortzone gebracht, weil die Losung schließlich über weite Strecken lautete, dass man mit dem Arsch zuhause bleiben sollte. Apropos Arsch… der Vollständigkeit halber sei das Stichwort „Klopapier“ in die Runde geworfen, ohne das ein Jahresrückblick zwangsläufig unvollständig wäre.

2020 war angesichts diverser einschneidender Ereignisse auch das Jahr, in dem so mancher auf ganz andere dumme Gedanken kam. Ich würde mutmaßen, dass rund die Hälfte der Menschheit sich im abgelaufenen Jahr wenigstens einmal für einen kurzen Moment lang der Überlegung gewidmet hat, ob nicht genau jetzt der richtige Zeitpunkt wäre, einmal darüber zu sinnieren, was im Leben wirklich wichtig ist.

Da allerdings im selben Jahr von der Fastfoodkette KFC eine Spielekonsole mit integriertem Warmhaltefach für kleine Speisen angekündigt wird, muss auch klar geworden sein, dass man auf die Frage nach Lösungen für die Probleme unserer Zeit eben auch solche Antworten erwarten muss.

Insofern könnte es sein, dass mein Fazit pessimistischer klingt als es gemeint ist, aber: Das neue Jahr kommt so oder so. Was wir daraus machen, liegt irgendwie an uns allen.

Schöner wohnen

Wer es sich leisten kann, rüstet aktuell sein Zuhause massiv auf. Das ist, da man sich angesichts eines um sich greifenden neuartigen Virus´ so oft es geht ausschließlich dort aufhalten sollte, so verständlich wie konsequent. Aber auch für den schmalen Geldbeutel ist ein schöneres und gemütlicheres Heim kein reines Luftschloss. Die Gleichung für ein attraktiveres Heim lautet: Keine Veranstaltungen = keine Tombolas = keine Lose = keine Preise = weniger Zinnober in der Bude. Und das Beste: Endlich kann man ´mal durch Unterlassen Gutes tun. In einer Auflistung von Dingen, die ich rein gar nicht vermissen würde, sollte es sie von jetzt auf gleich nicht mehr geben, würden Tombolas immer auf den ganz vorderen Rängen landen.

Zwar gilt die Problematik um die beliebten Verlosungen prinzipiell ganzjährig, ihren Höhepunkt erreicht sie jedoch regelmäßig in der Vorweihnachtszeit. Ganz als ob nicht jeder von uns nur wenige Tage später ohnehin ausreichend mit Plunder beschenkt wird, der im Grunde nicht benötigt wird. Immerhin: Der These folgend, dass viele spätere Tombolapreise ursprünglich unliebsame Geschenke waren, sorgt das Weihnachtsfest, wie es gemeinhin praktiziert wird, für steten Nachschub an mehr oder minder brauchbaren Gewinnen bei der Weihnachtsfeier von Gesangs-, Tischtennis- oder – gibt es wirklich – Zuckersammlerverein.

Nun ist es ja nicht so, dass ich erst eine Bescherung bräuchte oder bei einer Tombola das große Los ziehen müsste, um mir die Wohnung mit Schrott voll zu stellen. Tinnef-freie Zonen mag es geben, hat mich als Gesamtkonzept allerdings nie so recht abgeholt, wie man heute zu sagen pflegt. In meinem Männerhaushalt konnten sich schon immer Staubfänger ansammeln, bei denen die Frage, ob das denn noch Punk sei, zu Recht gestellt und negativ beschieden werden durfte. Ich besitze genügend Gegenstände, von denen ich im Nachhinein nicht mehr so überzeugt bin wie ich es zum Zeitpunkt der Anschaffung noch gewesen war. Schon der Umstand, dass Kaufentscheidungen im allgemeinen nicht rational gefällt werden, sorgt für regelmäßigen Nachschub in dieser Hinsicht, so dass ich im Brustton der Überzeugung behaupten kann: Ich weiß, wovon ich rede, wenn ich über inadäquate Alltagsgegenstände referiere. Doch die Tombolas, die ich in meinem bisherigen Leben gesehen habe, stellen selbst meinen Geschmack in den Schatten.

Allein schon die Souveränität, mit der jedes denkbare Klischee erfüllt wird: Schlüsselanhänger, Kugelschreiber und Kalender – auf welchem Mangelempfinden beruht das Bedürfnis, sich Lose einer Tombola zu kaufen, die zu einem Drittel aus Preisen solcher Güteklasse bestückt ist? Ein weiteres Drittel sind bizarre Gegenstände, deren Nutzlosigkeit selbst die Redaktionen von Homeshopping-Sendern von dem Versuch abhalten würde, diese unters Volk zu bringen. Das letzte Drittel besteht aus Gütern, die immerhin einen Gebrauchswert größer oder gleich desjenigen eines x-beliebigen Gimmicks aus einem Yps-Heft haben. Und wegen genau dieses Drittels kauft man Lose. Mit etwas Glück bekommt man einen Gegenwert, aber die Zweifel, ob man nicht auch ohne diesen Kram ein recht erfülltes Leben führen könnte, werden zu keiner Zeit ausgeräumt. Damit wäre eigentlich schon alles über Tombolas gesagt. Eigentlich ist eine Tombola wie eine Bestellung bei Wish: a) Man weiß nicht, ob man überhaupt etwas bekommt. b) Selbst wenn man etwas bekommt, kann man sich nicht darauf verlassen, dass es auch das ist, was man ursprünglich wollte. c) Im günstigsten Fall bekommt man etwas, das man vorher gewollt hat, trotzdem aber nicht wirklich benötigt.

Halten wir bis hierhin das Prinzip des klassischen Tombolapreises fest: Zu schade, um es sofort wegzuwerfen, andererseits zu unnütz, um irgendetwas damit anzufangen, das über das bloße Hinstellen hinausgeht. Man kann das Risikopotenzial eventuell schon erahnen. Es wurden in der Vergangenheit jedenfalls schon deutlich geringere Grundlagen als Ausgangsbasis für später stattliche Sammlungen benötigt. Mit nur ein bisschen Pech mehr wird aus dem Loskauf für einen guten Zweck eine besessene Jagd nach Waldtieren aus Keramik.

Es sagt zudem bereits einiges, wenn nicht gar alles über den Rest der Veranstaltung aus, wenn die Verlosung dieser Ansammlung von Flohmarktartikeln als Höhepunkt des Abends angekündigt wird.

Wenn ich als Kind bei den Verlosungen des Kegelclubs meiner Eltern mit unserer Ausbeute nicht zufrieden war, hatte ich immerhin noch das Glück, dass meine Mutter sich im weiteren Verlauf des Abends stets ausreichend Verhandlungssicherheit angetrunken hat, um wenigstens einen Teil unserer Preise drei Tische weiter gegen etwas einzutauschen, das geringfügig weniger sinnlos war. Auf diese Weise wurde am späten Abend aus einem Eiskratzer noch eine Biographie von Peter Alexander. Das machte die Angelegenheit nicht besser. Aber mit dem Prinzip, eine Sache irgendwie recht akzeptabel zu finden, weil das komplette restliche Angebot noch beschissener ist, hatte ich immerhin schon als Kind ein wesentliches Element kennenlernen dürfen, das mir später bei Wahlen vom Vereinsvorstand bis zum Bundestag wiederbegegnen sollte.

Inzwischen habe ich selbst einen Sohn in etwa in dem Alter, in dem ich mit acht Jahren gewesen bin. Klar, dass der Kleine von mir schon den ein oder anderen Schwung Lose oder auch einen Dreh am Glücksrad spendiert bekam. Mit den altbekannten Ergebnissen, nur dass am späten Sonntagnachmittag, wenn seine Sachen gepackt werden, die Lotterie in eine zweite Runde geht. Mit der nur mäßig subtilen Manipulation „Das willst Du ja bestimmt bei Dir zuhause Deiner Mama zeigen und dann in Eurer Wohnung auf einen Ehrenplatz stellen“ versuche ich die Entscheidung „zu ihr oder zu mir“ regelmäßig in Richtung etwas größerer Schadenfreude meinerseits zu beeinflussen. Um am Ende feststellen zu müssen, dass die alte Fußballerweisheit „Mal verliert man, mal gewinnen die Anderen“ sich 1:1 auf mein Leben übertragen lässt.

Wenn man die Ereignisse isoliert voneinander betrachtet, könnte man das alles für Pech halten. In der Gesamtschau ergibt sich jedoch das Bild: Hinter so viel Ungemach kann nur ein System stecken. Manchmal natürlich auch Blödheit. Denn dass bei einer Tombola des Kickers-Fanmuseums die Gefahr recht hoch ist, einen leider schwer entflammbaren Gegenstand mit Bezug zu diesem Verein zu erhalten, sollte auch einem in Wahrscheinlichkeitsrechnung unbedarften Menschen sofort einleuchten.

Deutlich mehr Chancen, einen Volltreffer zu landen, hatte ich bei einer Begebenheit, die sich in meiner Jugend abgespielt hat: Es galt, aus den zig Flaschen Wein, die bei uns im Keller lagerten, eine auszuwählen, die fortan diesem ewigen Kreislauf, Jahr für Jahr erneut für die nächste Tombola gestiftet zu werden, gezielt entzogen und einem edleren Ziel zugeführt werden sollte: Dem Test, welche Mengen Alkoholika welche körperlichen Reaktionen bei zwei soeben 16 Jahre alt gewordenen Buben, einer davon ich, hervorrufen. Das Ergebnis war ein Erlebnis: Der hat so nach Essig gestunken, dass er für unsere Zwecke nicht mehr zu gebrauchen war. Zwar wurde er auf diese Weise seiner Funktion als Tombolagewinn maximal gerecht. Das vermochte aber an diesem Abend den Verlust nicht auszugleichen, dass ein ungenießbarer Wein für unser ursprüngliches Ansinnen definitiv nicht zielführend war. Von den etwa 30 Flaschen Wein, die ich zur Auswahl hatte, habe ich zielsicher den mutmaßlich einzigen Wein erwischt, bei dem man schon kotzen muss, bevor man ihn trinkt. Das hat nicht nur mein Vertrauen in meine eigenen Fähigkeiten nachhaltig erschüttert, sondern auch meine Beziehung zu Wein bereits zu einem Zeitpunkt zerstört, bevor ich eine solche Bindung überhaupt aufbauen konnte. Wein, sofern nicht aus Äpfeln hergestellt, war fortan kein Thema mehr.

Ob es nicht schlauer gewesen wäre, schon ab diesem Zeitpunkt die Finger nicht nur von Wein, sondern generell von Tombola-Losen zu lassen – man weiß es nicht.

Es gibt viel zu tun

Hauptsache, der Bub hat Beschäftigung. Immer mehr Menschen erstellen sich im Kampf gegen ihre Langeweile eine sogenannte bucket list, im Deutschen sinngemäß eine Löffelliste. Auf ihr werden Dinge fixiert, die man noch zu erledigen gedenkt, bevor man den Löffel abgibt. Der Hype um solche Listen begann wohl mit dem Film „Das beste kommt zum Schluss“, der von zwei dem Tod geweihten Patienten erzählt, die sich kurz vor knapp noch drauf und dran machen, ein paar viele letzte Wünsche zu erfüllen. Man kann allerdings eine Löffelliste auch dann erstellen, wenn man noch gar keine Ambitionen hat, demnächst das Zeitliche zu segnen. Wenn´s hilft, das Leben besser in den Griff zu bekommen, haben ja am Ende alle etwas davon.

Ich hatte mir den Film auch vor einiger Zeit auf DVD gekauft und mir das Vorhaben, diese zu gegebener Zeit anzusehen, auf meine bis dato nur in meinem Schädel existente Liste relativ weit nach oben gesetzt. Alsbald habe ich den Titel verliehen und nie zurückbekommen. Mein bislang nicht uneingeschränkt positives Verhältnis zu solchen Listen könnte mit diesem Vorgang zusammenhängen, aber auch anderen Ursprungs sein. Wer weiß das schon so genau beziehungsweise wer will das schon so genau wissen? Jedenfalls bräuchte ich persönlich eher eine Liste mit Angelegenheiten, die ich besser nicht mehr mache. Zum Beispiel eben Dinge an Freunde zu verleihen, die nicht einmal mehr wissen, dass sie noch im Besitz weiterer Gegenstände aus meinem (ehemaligen) Inventar sind. Es sei denn, es handelt sich bei diesen Dingen um Tonträger der Kelly Family, alte Reifen, die Ehegattin oder sonstige Sachen, die ich ohnehin irgendwann loswerden wollte.

Zumindest hat sich zwar besagte DVD niemals in meinem Player gedreht, dafür seitdem aber die Erde diverse Male, ohne dass ich in all dieser Zeit jemals auf den Gedanken gekommen wäre: Hätte ich eine Löffelliste, wäre alles viel besser.

Es ist ja auch nicht so, dass mein Lebenslauf bis jetzt ein leeres Blatt Papier wäre. Meine größten Erfolge chronologisch sortiert: Abitur, Diplom, Staplerschein. Das toppt zwar nicht den dritten Platz beim Christbaumwerfen, den meine Exgattin einst errungen hatte. Dafür habe ich in so gut wie jedem Verein oder anderen Zusammenhang, in dem ich mehr als einmal bei einer Zusammenkunft war, eine Funktion übernommen oder sagen wir besser übernehmen müssen. Ich habe mehrere Male politische Reden geschrieben und selbst vorgetragen und damit mindestens einmal dazu beigetragen, dass öffentlich darüber debattiert wurde, weshalb ausgerechnet dieser Redner eingeladen wurde. Ich habe ein Gewerbe angemeldet und dabei neben für meine Verhältnisse viel Geld viel wertvolle Lebenszeit verloren, die ich für andere Punkte auf meiner nicht vorhandenen Liste wahrlich besser hätte nutzen können. Ich habe Wände mit Parolen besprüht und mich gefreut wie ein kleines Kind zu Weihnachten, als ich tags darauf den Nazi-Tankwart gesehen habe, wie er mein Werk überstreichen musste. Als Jan Aage Fjörtoft im Mai 1999 seinen Übersteiger performte, stand ich im Block L und hielt kurz die Luft an, um Sekunden später die Erfahrung zu genießen, was Ekstase heißt. Ich habe Pete Townshend unplugged im autonomen Zentrum spielen sehen und The Offspring in Hanau, als sie noch die unbekannte Supportband von No FX waren.

Nichts davon hat jemals auf einer Liste der unbedingt zu erlebenden Dinge gestanden. Demnach kann man theoretisch auch ohne gut leben. Mit Liste hätte ich andere Dinge erlebt, aber ob das dann besser oder schlechter geworden wäre, kann niemand sagen. Deswegen: Hört auf, immer diese Listen auf einen Sockel zu heben. Mag sein, dass das Thema Löffelliste ein schönes Thema für einen Blogeintrag ist, aber niemand wird ein besserer Mensch, weil er eine bucket list führt.

Falls man sich dennoch dazu entschließt, eine solche Liste zu führen, wird man schnell merken, dass es nicht allein von der Lebenserwartung und dem allgemeinen gesundheitlichen Zustand, sondern nicht unwesentlich auch von der Fülle des Geldbeutels abhängt, welche Punkte man noch wird abhaken können. Da sich nicht zuletzt auch Interessen verschieben können, wird man gelegentlich Punkte von der Liste streichen können, ohne dass man sie vollendet hat. Und damit die Entscheidung leichter fällt, welche Punkte das sein könnten, habe ich wieder einmal wertvolle Vorabrecherchen getätigt und präsentiere:

5 Punkte, die auf Deiner bucket list getrost fehlen dürfen

1. Eine Barttransplantation

Ich warte auf das Zeitalter, in welchem der moderne Mann endlich die richtigen Antworten auf die Frage gibt, wie unlogisch es eigentlich ist, sich im Gesicht Haare zu wünschen. Dass Gestrüpp an Kinn und Wange äußerst lästig sein können, weiß man doch nicht erst seitdem wir angehalten sind, in Gesellschaft Mund und Nase zu bedecken. Selbst auch nicht mit dem üppigsten Wuchs ausgestattet, kann ich mit gewissem zeitlichen Abstand sagen, dass unvollständige Gesichtsbehaarung meiner Männlichkeits- wie Persönlichkeitsentwicklung im weiteren Verlauf nicht allzu sehr geschadet hat. Sagt jedenfalls meine Mutter. Wer also gerade mit dem Gedanken an eine Gesichtsaufforstung spielt, sollte sich deswegen keine grauen Haare wo auch immer wachsen lassen.

2. Mit Delfinen schwimmen

Kann man machen. Größeren Nervenkitzel verspricht aber das Tauchen mit Haien. Georgina Harwood hat dies getan. Was es so besonders macht, ist allerdings nicht etwa ein tragisches Unglück, sondern folgendes: Sie tat das wenige Tage nach ihrem 100. Geburtstag. An besagtem Ehrentag selbst hatte sie besseres zu tun: einen Fallschirmsprung. Es war das dritte Mal in ihrem Leben, dass sie sich aus einem Flugzeug gestürzt hat; ihr erstes Mal war 2007 mit zarten 92 Jahren. Das hinterlässt einen größeren Eindruck als es das Schwadronieren eines 18-jährigen Möchtegern-Influencers über Löffellisten jemals könnte.

3. Der Fallschirmsprung

Mit dem Fallschirmsprung wurde im Absatz vorher auch schon der Klassiker schlechthin angesprochen, der auf keiner Löffelliste fehlen darf. Ich hatte bis heute nicht das Bedürfnis, einen zu absolvieren, aber was nicht ist, kann ja noch werden. Vermutlich werde ich allerdings erst dann reif für einen Sprung, wenn ich keine Angst mehr vorm Sterben habe. Deshalb: Folgt diesem Blog! Denn wenn es irgendwann einmal so weit ist, wird man es hier zuerst erfahren.

4. Reiseklassiker

Der Helicopterflug durch den Grand Canyon klingt nicht nur massiv beeindruckender als die Alpaka-Tour durch den Odenwald, sondern hat vermutlich in der Tat einen besonderen Erinnerungswert. Unbestritten ist auch Hawaii attraktiver als der Bodensee. Das Problem bleibt allerdings: Möchte man der übernächsten Generation statt haufenweise Wüsten auch noch sehenswerte Flecken hinterlassen, sollte man allmählich ´mal auf den Trichter kommen, dass man den eigenen Aktionsradius vielleicht doch irgendwann ´mal etwas einschränkt anstatt weiterhin viermal im Jahr in Urlaub zu jetten.

5. Der Halbmarathon

Bevor man irgendwann mit Mitte Vierzig feststellt, dass als größte sportliche Herausforderung höchstwahrscheinlich nur Dart übrigbleibt, ist ein auf Bewegung setzender Lebenswandel natürlich in jeglicher Hinsicht vorzuziehen. Aber muss man es deshalb immer gleich übertreiben? Kann man nicht einfach regelmäßig mit dem Rad seine 10 Kilometer zur Arbeit fahren? Wer das tagtäglich über Jahre hinweg macht, ist doch die coolere Sau als derjenige, der sich einmalig ein halbes Jahr auf etwas vorbereitet hat und danach 15 Jahre lang seine Umgebung mit seinem „Finisher“-T-Shirt nervt.

Ich bin bei diesem Thema natürlich auch befangen, da ich in meinem bisherigen Leben nicht direkt als Sportskanone aufgefallen bin. Wenn man 13 lange Jahre nicht über ein „befriedigend“ im Schulsport hinausgekommen ist, ist Schießen die richtige Entscheidung, wenn man den Eindruck vermitteln möchte, dass man sich überhaupt sportlich betätigt. So (aber eigentlich auch aus jeder anderen Richtung) betrachtet ist Schießen auch nur der große Bruder von Dart.

Ich weiß nicht, wie ich jetzt darauf komme, aber falls ich einmal jemanden erschieße (und sei es nur mich selbst, wenn ich noch einmal eine derart schlechte Überleitung verfasse), würde ich mit etwas Glück sozusagen nebenbei noch einen weiteren wichtigen Wunsch erfüllen: einmal auf der Titelseite einer bedeutenden Zeitung zu landen. Man muss dann natürlich mit der Konsequenz leben können, dass diese eine Aktion die Verwirklichung anderer Ziele tendenziell verunmöglicht. Denn auch wenn diese vergleichsweise bescheiden daherkommen –

Ich habe noch etwas vor

So habe ich Besuche im Miniatur Wunderland sowie einer Eisskulpturen-Ausstellung neben der bereits angesprochenen Alpaka-Tour auf meinem imaginären Zettel stehen. Ich war zunächst selbst etwas erschrocken darüber, wie wenig ich noch vom Leben erwarte. Doch es müssen nicht im Wochentakt Knaller der Güteklasse Niagarafälle auf dem Programm stehen. Vielleicht sehe ich das in zehn Jahren anders, so wie ich es mir vor fünf Jahren nicht vorstellen konnte, jemals ein Leben ohne Luftballons führen zu können. Vielleicht beiße ich mir eines Tages in den Arsch, dass ich mir keine höheren Ziele gesetzt habe, aber vielleicht ist es auch genau andersrum und ich sehe mich eines Tages darin bestätigt, dass die kleinen Dinge die wirklich großen Momente sind. Und da wir gerade von wirklich großen Momenten sprechen: Weiterhin gute Texte schreiben und die besten davon regelmäßig auf Bühnen vortragen und die Leute damit so gut unterhalten, dass andere Leute sich auf ihre Löffellisten schreiben: Einmal Micky auf der Bühne sehen. Das wäre nochmal etwas, wofür es sich morgens aufzustehen lohnt.

Falls mich irgendjemand bei diesem Vorhaben unterstützen kann und will – gerne!

Die unendliche Geschichte

Kleine Ursache, große Wirkung: Im Jahr 2001 sank in Deutschland der Pro-Kopf-Verbrauch an Bier gegenüber dem Vorjahr von 125,6 auf 115,3 Liter. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es die Statistik dermaßen in die Knie zwingt, wenn ich mit dem Saufen aufhöre. Da behaupte nochmal jemand, als Einzelner könne man in diesem Land sowieso nichts bewirken.

Die ersten zehn Jahre sind die schwersten. So vernahm ich es in der Selbsthilfegruppe und nahm mit diesem Hinweis zumindest eine brauchbare Sache daraus mit: Abstinent zu leben ist kein Spaziergang. Inzwischen bin ich sogar 20 Jahre trocken. „Darauf einen Korn“, möchte ich mir zurufen, bevor mir wieder einfällt, dass ich weder der erste noch der einzige war, der diesen Gag in den letzten 20 Jahren gebracht hat.

20 Jahre. Zur besseren Einordnung: Bier gab es zu jener Zeit noch nicht in Plastikflaschen und erst recht nicht mit Schraubverschluss. DJ Ötzis Hit „Anton aus Tirol“ wurde vor 20 Jahren veröffentlicht. Eine gewisse Laura Müller wurde im Sommer dieses Jahres geboren, aber noch vermochten sich selbst die kühnsten Trendforscher nicht vorzustellen, dass zwei Jahrzehnte später „Influencerin“ ein Beruf geschweige denn überhaupt eine gesellschaftlich relevante Tätigkeit werden könnte. Immerhin: Der Hype um die Anfang desselben Jahres gestartete erste Staffel von „Big Brother“ gab einen ersten Fingerzeig, dass es künftig leichter als jemals zuvor möglich sein würde, ohne nennenswerte Fähigkeiten Berühmtheit zu erlangen.

Angesichts dieser kulturellen Großwetterlage hätte es mir im Grunde niemand wirklich übelnehmen können, wenn ich einfach weiter gesoffen hätte.

Andererseits ging es ja gerade darum, eben nicht mehr wie in den Jahren zuvor jeden noch so sehr an den Haaren herbeigezogenen Grund gelten zu lassen. Die fetten Jahre waren vorbei.

Eine der ersten Lektionen, die ich lernen durfte: Wie gut Alkohol beim Einschlafen hilft, war mir nicht bewusst, solange ich allabendlich in so ziemlich jeder nur erdenklichen Position und vor allem auch ohne größere Rücksicht darauf, wo genau ich mich gerade befand, teils ohne größere Vorankündigung wegratzen konnte. Sieben bis acht Feierabendbiere helfen definitiv zuverlässiger, ein gesundes Maß an Bettschwere zu erreichen, als andere Hausmittel wie Autogenes Training, Schäfchenzählen oder Wichsen.

Ich benötigte einige Zeit, bis ich eher zufällig auf ein simples, aber effektives Mittel stieß: Einfach ´mal wieder ein schlechtes Buch lesen. Genre ist egal, Hauptsache langweilig. Ich möchte in diesem Rahmen eigentlich keine Werbung machen, aber Ludo Kaisers Regionalkrimi „Seipels Geheimnis“ hat diesen Zweck seinerzeit voll und ganz erfüllt.

Solange man sonst keine Sorgen hat. Ich vernehme diese Zwischenrufe, merke dazu aber an: Die Probleme bei des Alkoholikers Trockenübungen fangen ja bereits ganz woanders an, nämlich schon bei der Vorbereitung zum Schlafengehen: Man sieht sich eine beliebige Show im Fernsehen an. Irgendwann im Verlauf der Sendung kommt ein Programmpunkt, dem man nicht allzu großes Interesse schenkt. Noch vor wenigen Wochen hatte man bei solcher Gelegenheit einen der mit erhöhtem Biergenuss zwangsläufig einhergehenden regelmäßigen Toilettengänge vorgenommen und auf dem Rückweg die logistische Meisterleistung vollbracht, die leere Flasche gegen eine volle umzutauschen. Die Erde muss sich schließlich weiterdrehen. Nach überstandener Entgiftung entfällt plötzlich im schlimmsten Fall beides. Infolgedessen sieht man Programminhalte, auf die man gut und gern hätte verzichten können. Wenn man weiß, dass vor rund 20 Jahren auch die Karriere eines hyperaktiven Berliner Komikers namens Mario Barth Fahrt aufnahm und dieser also sehr viele Fernsehauftritte hatte, bekommt man eine Ahnung, dass der auf diese Weise entstandene psychische Schaden unter Umständen nur schwer wiedergutzumachen ist.

Genug gejammert – kommen wir zu den Vorteilen: Weil das durchschnittliche Erstheiratsalter hierzulande jenseits der Dreißig liegt, wurde ich bei den allermeisten Junggesellenabschieden in meinem Umfeld als trockener Alkoholiker schon nicht mehr berücksichtigt. Seinerzeit fand ich nicht immer gerecht, nicht mehr zur Zielgruppe solcher Veranstaltungen zu gehören. Im Rückblick geht das aber wohl in Ordnung. Schließlich laden diese größtenteils misslungenen Versuche, alte Zeiten „ein letztes Mal“ aufleben zu lassen, zum Alkoholmissbrauch quasi ein. Betroffene Trauzeugen berichten, dass sie angesichts der meisten Vorschläge zur Gestaltung dieses Tages bereits in der Planungsphase ein erhöhtes Bedürfnis nach Alkohol verspürt hatten. Andere stellten ernüchtert fest: Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr. Das Missverständnis scheint darin zu bestehen, dass viele Teilnehmer an solchen Veranstaltungen die Ansicht vertreten, das freiwillige Abgeben der persönlichen Würde ginge schon irgendwie in Ordnung, wenn sich nur angemessen viele Leute daran beteiligen.

Wenn der Erfolg einer solchen Zusammenkunft üblicherweise daran gemessen wird, wie früh der Bräutigam den Verlust der Muttersprache zu beklagen hat, musste mein eigener Junggesellenabschied zwangsläufig etwas aus dem Rahmen fallen. Meinen Leuten musste das selbstredend nicht erst umständlich erklärt werden, warum das so ist. Mit den Erwartungen der Außenstehenden haben wir jedoch mit dieser Vorgehensweise maximal gebrochen. Allein dafür hat sich der Aufwand am Ende doch gelohnt, auch wenn es an jenem Tag Situationen gegeben hat, in denen mancher von uns die Luft anhielt: Wenn mein gelegentlich zur leichten Reizbarkeit neigender Bruder jetzt die Kontrolle abgibt, könnte die Stimmung kippen und das alles wird am Ende doch nur ein stinknormaler Junggesellenabschied. Doch Ende gut, alles gut – der Tag war gelungen, aber verlangt auch nicht zwangsläufig eine Wiederholung, selbst wenn ich nach überstandener Scheidung theoretisch nochmal die Option ziehen könnte.

Ende gut, alles gut. Nach 20 Jahren könnte man versuchen, eine solche Phrase auch für das gesamte Unterfangen Abstinenz zu benutzen. Aber auch wenn außer der Wurst alles ein Ende hat – erreicht ist dieses Ende eben auch nach 20 Jahren noch nicht. Doch selbst wenn eine Schlussstrichmentalität in dieser Situation fahrlässig wäre, kann man sich wenigstens auf die Formel einigen: Eine gute Ausgangssituation für die nächsten 20 Jahre habe ich mir damit immerhin erarbeitet.

In diesem Sinne: Prost!.

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