10.000 Dinge besitzt der Durchschnittseuropäer, meldete das Statistische Bundesamt schon vor einigen Jahren. Als ich neulich wieder über diese Zahl gestolpert bin, bewegte ich meinen geschundenen Körper in mein gewöhnlich wenig frequentiertes Wohnzimmer und begann, die dort aufbewahrten CDs zu zählen. Irgendwann bei etwas über 1000 war Schluss. Nicht weil ich mit der Zählung durch war, sondern weil ich auch ohne vorläufiges amtliches Endergebnis zu diesem Zeitpunkt bereits erahnen konnte, dass ich tendenziell nicht zu dem Personenkreis gehöre, der den Schnitt nach unten drückt. Zumal nach den ganzen Tonträgern ja auch noch Bücher, Hemden und Schlümpfe auf eine Inventur gewartet hätten.

Ich habe mich danach erst einmal an einen Ort zurückgezogen, an dem man einen solchen Befund gemeinhin am besten verarbeiten kann: aufs Klo. Da die Erwähnung dieser Örtlichkeit in meinen Texten üblicherweise nur ein überflüssiges Detail ist, das lediglich dazu dient, einige Fäkalausdrücke unterzubringen, sei darauf hingewiesen, dass es sich dieses Mal um eine relevante Information handelt, weil ich von diesem Platz aus beste Sicht auf einen Balkon des Hauses eines Nachbargrundstückes habe. Dieser Balkon sieht aus wie die Fortsetzung des Kellers mit anderen Mitteln. Als wenn jemand die Geschäftsidee entwickelt hätte, gegen geringes Entgelt sämtlichen Sperrmüll der näheren Umgebung bis zur Abholung auf diesem Balkon zwischenzulagern. Andere würden vielleicht wieder einfach nur sagen: Offenbach halt.

Der Flur in einer früheren, von mir und einem damaligen Kumpel bewohnten Bude hatte regelmäßig so ausgesehen wie dieser Balkon. Besagter Mitbewohner praktizierte nämlich bei angekündigtem Damenbesuch die von ihm entwickelte Aufräum-Technik: Er zählte bis Drei. Danach hat er alles, was sich nicht von selbst auf einen vernünftigen Platz begeben hat, in den gemeinschaftlich benutzen Bereich befördert. Seinen Gästen erzählte er, das wäre mein Zeug. Ich bin kein Fachmann, sah aber die Schwelle zur Behandlungswürdigkeit ab dem Punkt überschritten, an dem er das sogar mir gegenüber behauptete.

Man muss aber natürlich zugestehen, dass der Schwindel nicht hätte funktionieren können, wenn ich in der Gegend als Musterschüler in Sachen Ordnung bekannt gewesen wäre. Das Gegenteil ist der Fall. Ich war schon seit jeher anfällig dafür, die räumlichen Kapazitäten an die Grenze der Belastbarkeit und darüber hinaus zu strapazieren. Schon früh hatten mich daher zum Beispiel Menschen fasziniert, die sich für einen anderen Weg entscheiden, ihre Wohnung kündigen und ihr gesamtes Hab und Gut auf ein Maß reduzieren, das locker in einem Einkaufswagen Platz findet. Die Profis unter ihnen bringen sogar noch einen altersschwachen Hund in diesem Einkaufswagen unter.

Überhaupt die Tiere. Für die einen sind diese das letzte, was sie herzugeben bereit sind. Andere agieren da weitaus pragmatischer: Bewahren zwar ansonsten jeden Scheißdreck auf, entscheiden im Falle des Hundes aber angesichts des bevorstehenden Urlaubs verhältnismäßig schnell: Wirklich brauchen tun wir das Tier eigentlich nicht, streng genommen kann der weg.

Mancher schüttelt da mit dem Kopf, doch eigentlich darf es nicht überraschen, dass bei der Frage, was bleiben darf und was weg soll, Irritationen entstehen. Weil das Aufbewahren von Dingen evolutionsgeschichtlich keine Frage von Sentimentalitäten, sondern hauptsächlich Überlebensstrategie gewesen ist, fehlen schlicht und einfach zum Allgemeingut gewordene Maßstäbe dafür. Die Angst vor Mangel prägte den Menschen Jahrtausende lang. Dass wenigstens Teile der Welt im Überfluss leben, ist ein relativ neues Phänomen. Die Trennlinien werden noch teilweise sichtbar, wenn Oma schimpft, weil Opa den defekten Toaster partout nicht wegwerfen mag, weil schließlich irgendein Teil davon für nochmal für irgendetwas gebraucht werden könnte, während Papa zur gleichen Zeit einen funktionierenden Toaster zum Wertstoffhof fährt, dessen Farbe sich jedoch mit der des neuen Wasserkochers beißt.

Bei aller Kritik an der Wegwerfmentalität unserer Tage plädiere ich allerdings trotz allem natürlich eher für das gelegentliche Ausmisten als für das permanente Vergrößern der Wohneinheiten, um den ganzen angehäuften Mist überhaupt noch unterzubekommen. Es ist weder darstellbar noch überhaupt notwendig, dass am Ende dieser Entwicklung jedes Individuum in einer ausreichend großen Umgebung ein persönliches Museum mit Erinnerungen aus sämtlichen Lebensphasen pflegen kann.

Das Grundproblem beim Aussortieren nicht mehr oder noch nie benötigter Dinge sollte jedoch beachtet werden: Es darf auf keinen Fall so wirken, als würde man bloß deshalb reduzieren, weil man den Platz für neue Sachen benötigt. Auch dies ist ein Aspekt, bei dem sich mancher immer wieder ´mal ertappt fühlt. Dabei hat Shoppen ja nicht nur Nachteile wie beispielsweise die relativ systematische Ausplünderung des Planeten, sondern auch Vorteile, die nur zu selten wirklich gewürdigt werden. Während zum Beispiel die Welt um uns herum stets komplexer wird, freut sich ein von diesem Umstand überforderter Mensch, wenn mit dem Einkaufen eine Sphäre erhalten bleibt, deren Prozesse in ihren Grundzügen erhalten geblieben ist. Sicher – man muss Verständnis aufbringen, dass einzelne Leute durchdrehen, weil der Supermarkt alle paar Jahre „dauernd“ umräumt und die Teigwaren fortan einen Gang weiter stehen. Aber jenseits von solchen Begleiterscheinungen ist beim Einkaufen doch die Welt noch in Ordnung. Und die übergeordnete Frage ist doch ohnehin: Macht es uns glücklich? Und da fällt die Antwort eindeutig aus: Ja, Shoppen macht glücklich. Zumindest eine kurze Zeit lang, mindestens also so lang, bis der Bezahlprozess abgeschlossen ist. Wie lange dieses Glücksgefühl anschließend letzten Endes anhält, hängt von vielen Faktoren ab. Man wird also kaum den Konsum grundsätzlich in Frage stellen können, bloß weil einige wieder ´mal nicht mitzuziehen in der Lage sind, wenn es um Angelegenheiten von grundlegender Bedeutung für die Menschheit geht.

Ohnehin ist ungeklärt: Wenn Ausmisten oder wenigstens Aufräumen glücklich macht, Kaufen aber auch – nach welchen Kriterien soll man bitte entscheiden, was man als nächstes tut? Dazu kommt: Hat man erst einmal das Leben als einfacher Konsument hinter sich gelassen und das nächste Level des Schnäppchenjägers erreicht, vervielfacht sich die Problematik, weil man ja dazu neigt, mehr zu kaufen, weil noch Geld übrig ist. Man braucht also mehr Platz oder muss besser Ordnung halten. Gleichzeitig beansprucht die Jagd nach Schnäppchen mehr Zeit, die dann exakt wofür fehlt? – Richtig: Aufräumen und Ausmisten.

Der durchschnittliche Schnäppchenjäger ist männlich, kaufkräftig und überdurchschnittlich gebildet. Das mit der Kaufkraft muss ich vielleicht etwas relativieren, aber die anderen beiden Attribute kann ich bestätigen. Wenn andererseits schon der Anblick von „%“-Zeichen das Belohnungszentrum des Gehirns aktiviert, gleichzeitig aber der Verstand aussetzt, kann ich mir davon am Ende auch nichts kaufen. Trotzdem freue ich mich nicht nur darüber, kurz vor Schluss doch noch dieses Wortspiel in einer halbwegs passenden Umgebung platziert haben zu können, sondern auch über die Bestätigung weiterer Studienergebnisse: Es scheint nämlich zu stimmen, dass es sich in einem unordentlichen Arbeitsumfeld kreativer lebt. (Auch wenn ich Komplimente über meine „kreativen“ Texte anders einordne, seit ich davon gehört habe.) Und einen Haken gibt es sowieso überall: Man lebt nämlich auch ungesünder. Dass man in einer unordentlichen Umgebung eher zu Süßwaren greift, erklärt einiges, vielleicht sogar alles über den Zustand meines Zuhauses.

Nur dass meine Neigung zu Keks und Schokolade auf der Arbeit genauso stark ausgeprägt ist, also dort, wo meine Aufgabe nun einmal ist, Ordnung zu schaffen und zu halten, gibt mir zu denken.

Aber das müssen die Bosse schon selbst entscheiden, ob sie für diesen Mist weiter Geld ausgeben wollen.