„Wozu schicke ich Dich eigentlich so lange auf die Schule“ pflegte mein Vater früher zu fragen, wenn er bei einem Thema der Meinung war, dass ich dazu irgendetwas Fundamentales beisteuern können müsste.

Meine Entscheidung, Politikwissenschaften zu studieren, gab ihm später die Gelegenheit, da noch einen drauf zu setzen. Er musste lediglich die Schule durch die Universität ersetzen, und schon konnte dieser Standard weiter benutzt werden. Theoretisch sogar ein ganzes Jahrzehnt lang. Eines Tages allerdings kam der Anruf meiner Mutter, der so vieles veränderte. Die Zeit stand von einer Sekunde auf die andere still, auch wenn alle behaupteten, das Leben gehe weiter. Dass er nicht mehr mitbekommen durfte, dass ich diese Institution irgendwann mit Abschluss verließ, empfinde ich bis heute als ungerecht. Denn bestimmt hätten ihn meine Antworten auf so manche Frage, die das Leben stellt, ernsthaft interessiert.

Man wirft (auch) den (Sozial-)Wissenschaften ja häufig und vollkommen zu Recht eine gewisse Weltfremdheit vor. Und in der Tat ist dummerweise weder der Umgang mit Chancen noch der Umgang mit verpassten Chancen Inhalt irgendeines Studiengangs. Solche Dinge bringt einem unter anderem der Papa bei. Was ich von ihm in dieser Hinsicht bis dahin meinte zwischen den Zeilen immer ´mal wieder herauszuhören, war: Erwarte am besten erst ´mal gar nichts, dann wirst Du auch nicht enttäuscht. Und obwohl ich diesen Rat bislang recht konsequent zu beherzigen versuchte, blieb mir natürlich die eine oder andere Enttäuschung doch nicht erspart. Aber immerhin ist der aus diesen Enttäuschungen resultierende Frust noch nicht so groß, dass ich jetzt schon ständig allen Leuten „Das ist kein Radweg“ und vergleichbare Praxisratschläge hinterher plärren würde.

Man muss einerseits dafür nicht studieren und kann, andererseits, trotz Studiums nicht garantieren, irgendwann ein erfülltes und jederzeit spannendes Leben zu führen. Vieles spricht dafür, dass im Gegenteil eine Mehrheit der Menschen ab Vierzig ihre Restlaufzeit mehr oder weniger absitzt und mit ihrem Leben liebend gern Waffenstillstand schließen würden: Du lässt mich in Ruhe, dafür mute ich Dir auch nicht mehr zu viel zu. Im Grunde verhält sich der Mensch an sich nicht wesentlich anders als ein x-beliebiges Lebensmittel: Ist das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten, kann man damit durchaus noch längere Zeit etwas anfangen. Aber manchmal riecht es halt schon ein bisschen.

Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, in meinem Alter der einzige zu sein, der diese Situationen vermisst, in denen aus der Euphorie des Augenblicks aus einem „Man müsste eigentlich ´mal“ ein „Wir machen das jetzt einfach“ wird. Das, was jemand ´mal als „Abschiednehmen von Möglichkeiten“ als charakteristisch fürs Alter beschrieben hat, schließt zwar nicht aus, dass manche es noch einmal allen zeigen wollen und deswegen beginnen, Gitarrenunterricht zu nehmen. Doch das Fehlen dieser gewissen Aufbruchstimmung, des Feuers früherer Zeiten, lässt das ausgehen wie das Hornberger Schießen. Wer kann denn überhaupt seriös beurteilen, ob diese Typen, die sich mit 50 Jahren noch verhalten wie mit 25, sich nun treu geblieben sind oder sich eventuell doch einfach bloß null weiterentwickelt haben?

Mehrfach wiederholt und dennoch bis heute unbeantwortet ist auch die Frage, was wohl aus den Leuten geworden ist, die sich schon mit Anfang 20 trotz Einladung zur WG-Party zum Spiele- oder Fernsehabend verabredet haben.

Ich behaupte gar nicht erst, Antworten auf diese und noch weitaus komplexere Fragen zu haben, wurde aber im Leben schon mit Menschen konfrontiert, die einem alles erklären können. Zum Beispiel fragte mich vor einigen Jahren eine mir seinerzeit relativ nahestehende Person völlig ernsthaft, ob ich denke, dass mein Kater Pauli mein wiedergeborener Vater sei.

Spontan wollte ich antworten: Ich denke nein, denn mein Papa würde mir nicht manchmal interessiert beim Rattern zuschauen. Weil mir aber gerade noch rechtzeitig eingefallen ist, dass dieser Hinweis im Beisein meiner damaligen Ehegattin eine ganze Reihe weiterer und womöglich weitaus unangenehmerer Fragen nach sich ziehen könnte, fiel meine Antwort aus strategischen Gründen recht einsilbig aus.

Andererseits: Vielleicht war des Tieres Blick nicht interessiert, sondern vorwurfsvoll. Zu anderen Gelegenheiten jedenfalls eindeutig melancholisch. Letzteres immerhin würde für die These vom wiedergeborenen Papa sprechen.

Allerdings können einem auch Leute mit noch ein paar Tassen mehr im Schrank schon gewaltig auf den Keks gehen. Dann nämlich, wenn sie behaupten, man sei immer so alt, wie man sich fühlt. Ich verstehe die hinter solchen Äußerungen steckende Motivation. Aber hat dabei überhaupt ´mal jemand in Erwägung gezogen, dass man sich ja auch älter fühlen kann als man tatsächlich ist? Hat man ´mal drüber nachgedacht, wie deprimierend das sein kann? Und wie kann man überhaupt wissen, wie man sich mit zehn Jahren mehr auf dem Buckel fühlen würde, ohne nicht mindestens einmal wiedergeboren zu sein?

Manchmal, wenn ich abends den Rechner hoch- und den Körper ´runterfahre, legt sich der Kater so penetrant auf die Tastatur, dass ich nicht einmal youporn in die Adresszeile des Browsers eingeben kann. Das bedeutet, dass er mit mir zu reden hat. Er sagt dann meistens „Dafür habe ich Dich nicht auf die Uni geschickt.“

„Ich wollte mir gerade zur Entspannung ein paar Katzenvideos angucken“, verteidige ich mich.

„Katzenvideos? Da lacht die Koralle!“

„Okay, ich weiß, was Du sagen willst. Ich habe es selbst versemmelt. Hatte keinen Plan B. Streng genommen nicht einmal einen Plan A. Eine Idee immerhin. Ein Ziel, aber keinen wirklichen Plan, wie ich dorthin gelangen könnte. Dass ich ursprünglich vorhatte, meinen Lebensunterhalt mit Schreiben zu bestreiten, weißt Du ja noch. Ihr beide habt mich unterstützt so gut Ihr es konntet und mir an und für sich gute Voraussetzungen geschaffen. Es läuft halt nicht immer alles nach Plan.“

„Das meine ich nicht einmal“, sagt mein Kater dann zu mir. „Solange die mangelnde Aufbruchstimmung Dein einziges Problem ist und nicht Hunger und Siechtum, Obdachlosigkeit oder dass Du wie Dein missratener Bruder zu den Kickers konvertierst – solange geht es Dir unterm Strich verdammt gut! Dessen musst Du Dir immer bewusst sein.“

Wenn es scheiße läuft und mehr noch wenn es gut läuft, kann man um einen herum Menschen gut gebrauchen, die einem völlig ohne Eigennutz zur Seite stehen. Als solcher stand mein Vater mir nicht mehr zur Verfügung, seit ich 30 geworden war. Die Tage wäre er 80 Jahre alt geworden, wenn es das Schicksal besser gemeint hätte. Mit 80 ist man heute ein Jahr über der durchschnittlichen Lebenserwartung. Zum Zeitpunkt seines Todes vor nunmehr 19 Jahren hatte er den Durchschnitt nach unten gesenkt.

Aber er hatte mich ja lange genug zunächst auf die Schule und hinterher auf die Uni geschickt, dass ich zu dieser Zeit immerhin schon wusste, dass der Statistik Gerechtigkeit egal ist.