Kleine Ursache, große Wirkung: Im Jahr 2001 sank in Deutschland der Pro-Kopf-Verbrauch an Bier gegenüber dem Vorjahr von 125,6 auf 115,3 Liter. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es die Statistik dermaßen in die Knie zwingt, wenn ich mit dem Saufen aufhöre. Da behaupte nochmal jemand, als Einzelner könne man in diesem Land sowieso nichts bewirken.

Die ersten zehn Jahre sind die schwersten. So vernahm ich es in der Selbsthilfegruppe und nahm mit diesem Hinweis zumindest eine brauchbare Sache daraus mit: Abstinent zu leben ist kein Spaziergang. Inzwischen bin ich sogar 20 Jahre trocken. „Darauf einen Korn“, möchte ich mir zurufen, bevor mir wieder einfällt, dass ich weder der erste noch der einzige war, der diesen Gag in den letzten 20 Jahren gebracht hat.

20 Jahre. Zur besseren Einordnung: Bier gab es zu jener Zeit noch nicht in Plastikflaschen und erst recht nicht mit Schraubverschluss. DJ Ötzis Hit „Anton aus Tirol“ wurde vor 20 Jahren veröffentlicht. Eine gewisse Laura Müller wurde im Sommer dieses Jahres geboren, aber noch vermochten sich selbst die kühnsten Trendforscher nicht vorzustellen, dass zwei Jahrzehnte später „Influencerin“ ein Beruf geschweige denn überhaupt eine gesellschaftlich relevante Tätigkeit werden könnte. Immerhin: Der Hype um die Anfang desselben Jahres gestartete erste Staffel von „Big Brother“ gab einen ersten Fingerzeig, dass es künftig leichter als jemals zuvor möglich sein würde, ohne nennenswerte Fähigkeiten Berühmtheit zu erlangen.

Angesichts dieser kulturellen Großwetterlage hätte es mir im Grunde niemand wirklich übelnehmen können, wenn ich einfach weiter gesoffen hätte.

Andererseits ging es ja gerade darum, eben nicht mehr wie in den Jahren zuvor jeden noch so sehr an den Haaren herbeigezogenen Grund gelten zu lassen. Die fetten Jahre waren vorbei.

Eine der ersten Lektionen, die ich lernen durfte: Wie gut Alkohol beim Einschlafen hilft, war mir nicht bewusst, solange ich allabendlich in so ziemlich jeder nur erdenklichen Position und vor allem auch ohne größere Rücksicht darauf, wo genau ich mich gerade befand, teils ohne größere Vorankündigung wegratzen konnte. Sieben bis acht Feierabendbiere helfen definitiv zuverlässiger, ein gesundes Maß an Bettschwere zu erreichen, als andere Hausmittel wie Autogenes Training, Schäfchenzählen oder Wichsen.

Ich benötigte einige Zeit, bis ich eher zufällig auf ein simples, aber effektives Mittel stieß: Einfach ´mal wieder ein schlechtes Buch lesen. Genre ist egal, Hauptsache langweilig. Ich möchte in diesem Rahmen eigentlich keine Werbung machen, aber Ludo Kaisers Regionalkrimi „Seipels Geheimnis“ hat diesen Zweck seinerzeit voll und ganz erfüllt.

Solange man sonst keine Sorgen hat. Ich vernehme diese Zwischenrufe, merke dazu aber an: Die Probleme bei des Alkoholikers Trockenübungen fangen ja bereits ganz woanders an, nämlich schon bei der Vorbereitung zum Schlafengehen: Man sieht sich eine beliebige Show im Fernsehen an. Irgendwann im Verlauf der Sendung kommt ein Programmpunkt, dem man nicht allzu großes Interesse schenkt. Noch vor wenigen Wochen hatte man bei solcher Gelegenheit einen der mit erhöhtem Biergenuss zwangsläufig einhergehenden regelmäßigen Toilettengänge vorgenommen und auf dem Rückweg die logistische Meisterleistung vollbracht, die leere Flasche gegen eine volle umzutauschen. Die Erde muss sich schließlich weiterdrehen. Nach überstandener Entgiftung entfällt plötzlich im schlimmsten Fall beides. Infolgedessen sieht man Programminhalte, auf die man gut und gern hätte verzichten können. Wenn man weiß, dass vor rund 20 Jahren auch die Karriere eines hyperaktiven Berliner Komikers namens Mario Barth Fahrt aufnahm und dieser also sehr viele Fernsehauftritte hatte, bekommt man eine Ahnung, dass der auf diese Weise entstandene psychische Schaden unter Umständen nur schwer wiedergutzumachen ist.

Genug gejammert – kommen wir zu den Vorteilen: Weil das durchschnittliche Erstheiratsalter hierzulande jenseits der Dreißig liegt, wurde ich bei den allermeisten Junggesellenabschieden in meinem Umfeld als trockener Alkoholiker schon nicht mehr berücksichtigt. Seinerzeit fand ich nicht immer gerecht, nicht mehr zur Zielgruppe solcher Veranstaltungen zu gehören. Im Rückblick geht das aber wohl in Ordnung. Schließlich laden diese größtenteils misslungenen Versuche, alte Zeiten „ein letztes Mal“ aufleben zu lassen, zum Alkoholmissbrauch quasi ein. Betroffene Trauzeugen berichten, dass sie angesichts der meisten Vorschläge zur Gestaltung dieses Tages bereits in der Planungsphase ein erhöhtes Bedürfnis nach Alkohol verspürt hatten. Andere stellten ernüchtert fest: Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr. Das Missverständnis scheint darin zu bestehen, dass viele Teilnehmer an solchen Veranstaltungen die Ansicht vertreten, das freiwillige Abgeben der persönlichen Würde ginge schon irgendwie in Ordnung, wenn sich nur angemessen viele Leute daran beteiligen.

Wenn der Erfolg einer solchen Zusammenkunft üblicherweise daran gemessen wird, wie früh der Bräutigam den Verlust der Muttersprache zu beklagen hat, musste mein eigener Junggesellenabschied zwangsläufig etwas aus dem Rahmen fallen. Meinen Leuten musste das selbstredend nicht erst umständlich erklärt werden, warum das so ist. Mit den Erwartungen der Außenstehenden haben wir jedoch mit dieser Vorgehensweise maximal gebrochen. Allein dafür hat sich der Aufwand am Ende doch gelohnt, auch wenn es an jenem Tag Situationen gegeben hat, in denen mancher von uns die Luft anhielt: Wenn mein gelegentlich zur leichten Reizbarkeit neigender Bruder jetzt die Kontrolle abgibt, könnte die Stimmung kippen und das alles wird am Ende doch nur ein stinknormaler Junggesellenabschied. Doch Ende gut, alles gut – der Tag war gelungen, aber verlangt auch nicht zwangsläufig eine Wiederholung, selbst wenn ich nach überstandener Scheidung theoretisch nochmal die Option ziehen könnte.

Ende gut, alles gut. Nach 20 Jahren könnte man versuchen, eine solche Phrase auch für das gesamte Unterfangen Abstinenz zu benutzen. Aber auch wenn außer der Wurst alles ein Ende hat – erreicht ist dieses Ende eben auch nach 20 Jahren noch nicht. Doch selbst wenn eine Schlussstrichmentalität in dieser Situation fahrlässig wäre, kann man sich wenigstens auf die Formel einigen: Eine gute Ausgangssituation für die nächsten 20 Jahre habe ich mir damit immerhin erarbeitet.

In diesem Sinne: Prost!.