Aufzeichnungen aus der Wirrnis des Alltags

Autor: Micky Seite 10 von 19

Hund, Katze, Maus

Zu behaupten, jede Sekunde mit ihnen genossen zu haben, würde die Verhältnisse nicht direkt auf den Kopf stellen, sie zumindest aber auf unzulässige Weise verklären. Ganz als ob man niemals geflucht hätte, weil man nach einem ohnehin stressigen Tag auch noch spät nach Feierabend ihre Käfige reinigen oder ihre Spuren vom Teppich beseitigen muss, tun wir dennoch so, als gehörten Haustiere zum Fantastischsten, das uns jemals passiert ist. Und Jahre nach ihrem Ableben kräht kein Hahn mehr nach den Lieblingen von einst.

Doch der Reihe nach…

Nicht nur weil sich meine Lieblingstante neben jungen aufgelesenen Igeln zum Überwintern stets Wellensittiche hielt, sondern vor allem dank meines Vaters waren Haustiere für mich als Kind gleichbedeutend mit Vögeln. Jegliche Debatten über Mäuse, Hunde oder Pferde hatte dieser nämlich mit dem „Argument“, nur wenn er/sie/es fliegen kann, relativ beizeiten beendet. Entsprechend war auch mein erstes eigenes Tier ein Wellensittich:

Flippi

ist eben so ein Name, dem man seinem Vogel gibt, wenn man zwölf Jahre alt ist. Flippi tat alles, was man von einem Wellensittich erwarten kann: Er kackte auf Sessel und Haare, schimpfte in den Morgenstunden und verließ uns nach Ablauf seiner Zeit. Für einen neuen gefiederten Freund war ich zunächst nicht bereit. Später hatte ich tausend andere Interessen. Insofern war es keine ganz so gut durchdachte Idee von meinen Freunden, mir zum 17. Geburtstag

Günther

zu schenken. Trotzdem war er dann halt da. Bis mein Kumpel Dirk ihn eines Morgens ausgeschaltet hat. An einem Sonntagmorgen nach einer dieser Zusammenkünfte, die wir zu jener Zeit Bandprobe nannten. Zwar hatten wir, wie die meisten neu gegründeten Bands des Genres Punkrock, keine Ahnung, wie wir Instrumente bedienen sollen, aber das war erst unser zweitgrößtes Problem. Das größte Problem war das grundsätzliche Nichtvorhandensein von Musikinstrumenten. Dieser für das kreative Schaffen an und für sich suboptimale Zustand erlaubte es uns aber immerhin, unsere Proben bequem in der Wohnung abzuhalten, wenn meine Eltern wochenends über Nacht auf dem Campingplatz am Kahler See blieben. Wir hatten einen Namen, wir hatten T-Shirts und einer hatte sich sogar einen Aufnäher mit unserem Logo gemacht. Aber Instrumente? Von welchem Geld denn überhaupt?! Der einzige, der sich einen Bass zugelegt hatte, hatte dann auch schnell andere Ambitionen und war der erste offizielle Abgang unserer Band. Wenn Du als Band keine echte Zuordnug der Mitglieder zu ihren Instrumenten hast, bleibt auch oft unklar, wer eigentlich dazugehört, aber dieser Bassist war jedenfalls draußen, und Günther dafür sehr laut an diesem Morgen. Denn auch ein einzelner Wellensittich kann laut sein. Erst recht wenn mehrere gut durchgehangene Gelegenheitstrinker sich nach zuwenig Schlaf überlegen, ob es für ihre Köpfe nicht besser wäre, einfach weiterzutrinken. Als in dieser Situation jemand fragte, ob man den Piepmatz nicht abschalten könne, richtete Dirk die Fernbedienung des TV auf letzteren, und auf einmal war er ruhig.

Leider war er wenige Tage später tot, weshalb es bis heute heißt, dass Günther von Dirk ausgeschaltet wurde. Auch wenn keiner wirklich wusste, wie. Ich habe Dirk im weiteren Verlauf unserer Freundschaft vorsätzlich Bier ins Gesicht geschüttet und fahrlässig seine Brille mit Sprühlack bemalt. Ich habe ihn getroffen, als ich in der voll besetzten Kneipe keinen Nerv hatte, mir eine Schneise zum Klo zu schlagen und mein kleines Geschäft unter dem Tisch erledigte. Aber eigentlich habe ich Dirk verziehen, dass er meinen Vogel auf dem Gewissen hat.

Bakunin

Nach dem Wellensittich kam dann eine Zeit lang nichts, dafür dann ein Meerschweinchen. Zu der Zeit hatten wir alle in meinem Freundeskreis einigermaßen Bock auf Meerschweinchen. Wohlgemerkt: Wir waren damals alle keine 10, sondern etwa 20 Jahre alt und darüber hinaus. Weil ich also auch eins wollte und dann eines Heiligabends ein Kumpel im Offenen Treff von seinem Meerschweinchen erzählte, das er loswerden will, war die Sachlage klar. Ich hatte mich noch kurz vergewissert, dass er das Tier nicht eben erst zu Weihnachten bekommen hatte, obwohl ich nicht weiß, inwieweit das an meiner Entscheidung, das Schwein zu nehmen, irgendetwas geändert hätte. Und als ich dann am nächsten Tag bloß noch meinen Vater davon in Kenntnis setzen musste, dass ein neues Haustier einziehen wird, hatte ich das Problem, dass ein Meerschweinchen nicht fliegen kann. Ich stellte mich auf alles mögliche ein, aber das einzige, was er zu der Diskussion beisteuerte, war „In Ordnung“.

Bakunin hatte mit seiner Farbkombination aus Schwarz und Weiß perfekte Voraussetzungen, persönliches Eintracht-Maskottchen zu werden. So gesehen wäre Charly der passende Name gewesen. Ich fand es in diesem Alter allerdings schicker, ein Tier nach einem russischen Anarchisten zu benennen. Ebenfalls in diesem Alter lernte ich, dass es für ein Tier unerheblich ist, ob es bei seinem richtigen Namen gerufen wird. Meine Mutter rief ihn Tiger, meine Freundin Eisbär, bei seinem eigentlichen Namen Bakunin wurde er eigentlich ausschließlich von mir gerufen.

Lotte

Als das Kapitel Bakunin beendet war, sollte es erneut eine Weile dauern, bis ich wieder zu einem Tier kommen sollte. Meine damals frisch kennengelernte spätere Ehefrau hatte diese alte Katze, von der sie behauptete, wenn sie sich nicht mit mir verstünde, wäre die Grundlage für die sich eben erst anbahnende Beziehung entzogen.

Natürlich gab es später Zeiten, in denen ich mir deswegen gewünscht habe, Lotte hätte mich an dem Abend gekratzt, gebissen oder mir auf sonst irgendeine Weise ihre Abneigung zum Ausdruck gebracht. Aber jenseits von Dingen, die jetzt nicht unbedingt hierher gehören, hat mir diese Beziehung ja einen wundervollen Sohn beschert. Dazu zwei Tiere, die bis heute bei mir leben.

Doch zurück zur Chronologie der Ereignisse. Lotte bekam nämlich schon bald Gesellschaft:

Pauli

Das Monster. Als er noch sehr jung war, übernahmen wir ihn von einer Kollegin meiner angehenden Frau, die sich freimütig dazu bekannte, den Kater an die Wand flatschen zu wollen. Da kamen wir ins Spiel.

Pauli war nicht der einzige Neuzugang im ersten Jahr dieser Beziehung, denn als ich gefragt wurde, was ich mir zum Geburtstag wünsche, hatte meine neue Freundin den Gag meiner Antwort nicht verstanden, als ich etwas von Meerschweinchen sagte. Also bekam ich zu meinem 33. Geburtstag ein Geschwisterpärchen.

Hinz und Kunz

sollte die beiden heißen. Bis die Tierärztin ihrer Praktikantin erläuterte, dass das Russenmeerschweinchen sind. Also wurden aus Hinz und Kunz Ivan und Olga. Ich wusste ja bereits, dass es den Tieren egal ist, was Du rufst, wenn Du mit einem Bund Möhren wedelst.

Dummerweise können Meerschweinchen erst ab einem Gewicht kastriert werden, das sie üblicherweise nach ihrer Geschlechtsreife erreichen. Dass sie Geschwister sind, ist ihnen in dieser Hinsicht überdies genauso egal wie der Name, den man ihnen gibt. Aber wir waren naiv und ahnungslos. Zwar bemerkten wir beide, dass Olga richtig schwer geworden ist, aber das nahmen wir nicht zum Anlass, größer drüber nachzudenken, bis ich eines Abends plötzlich ein paar Tiere zuviel im Käfig erblickte. Die Situation, Tiere einmal nicht zu uns zu holen, sondern sie abzugeben, war recht ungewohnt, aber wir haben sie überlebt. Und es sollte ja auch nicht allzu lange dauern, bis alles wieder nach gewohntem Schema verlief.

Chomik

Chomik lief eines Abends neben mir her. Aus den Augenwinkeln erspähte ich ein kleines Wesen, das für die üblichen Verdächtigen Maus oder Ratte eindeutig zu buntes Fell hatte. Ohne zu wissen, worum genau es sich handelt, versuchte ich das Tier in einer Tüte einzufangen. Ich muss ziemlich unmännlich ausgesehen haben bei diesem Vorhaben, weil ich nicht riskieren wollte, das Tier zu berühren. Schließlich wusste ich immer noch nicht, worum genau es sich handelt. Ein zufällig vorbeikommender Passant hatte weniger Berührungsängste, stellte kommentarlos seine beiden Tüten ab und half mir, das unbekannte Wesen in meine Tüte zu bugsieren. Nachdem alles erledigt war, fragte ich ihn, ob er wisse, um welches Tier genau es sich denn handelt. Sein mit breitem Grinsen vorgebrachtes „chomik“ brachte mich in dieser Frage allerdings nur bedingt weiter. Noch immer ohne zu wissen, was genau ich mir da eingefangen habe, ging ich nach Hause, diesen Fund meiner angehenden Frau zu zeigen.

Wie sich später leider herausstellte, musste dem Hamster, so die deutsche Übersetzung für das polnische „chomik“, erst einmal ein Bein amputiert werden. Aber da wir für diese Operation 50 Euro bezahlt hatten, war immerhin klar, dass er bei uns bleibt. Wir dachten, dass als Name Chomik ganz gut passen würde. Nach einem runden Jahr war dann der allgemeinen Lebenserwartung für Hamster folgend das Thema durch. Chomik hatte sich zuletzt auch nur noch in einem Erdloch verkrochen, was ihm zwar den neuen Namen Saddam einbrachte, aber sein Leben dennoch nicht weiter verlängern konnte. Alles war für die Katz´ gewesen.

Ronja

zog in einem Alter bei uns ein, in dem sie gerade nicht mehr umkippte, wenn sie sich mit einer Pfote irgendwo kratzte. Ging im Alter von etwas über einem Jahr wieder aufgrund einer Katzen-Epilepsie.

Ein gutes halbes Jahr vorher war bereits Lotte altersbedingt so weit gewesen. Drei Tage nach deren Ableben war

Oka

zu uns gekommen. Oka heißt laut seinen Papieren eigentlich Feivel, wurde aber zuletzt Speedy genannt. Wir beschlossen, dass beide Namen unangemessen für diesen Hund sind. Gemeinsam mit Pauli stellt Oka den verbliebenen Rest des Streichelzoos.

Und wenn ich mir diese Beiden so anschaue, muss ich leider feststellen: Selbst wenn ich es bei nasskalten minus 15 Grad bei der Gassirunde hier und da ´mal anders sehen werde – Haustiere gehören zum Fantastischsten, das uns passieren kann.

Endlich 18

Bereits unmittelbar nach dem Aufstehen wurde mir gewahr: Alles wie üblich. Einzig dass der Kater sich des Nachts nach Genuss einer mittleren Portion des im Bad stehenden Zypergrases sich gleich an Ort und Stelle übergab und ich entsprechend als erste Maßnahme des Tages eine Komplettreinigung meines Waschbeckens vornehmen musste, kontrastierte zu meinem sonstigen Tagesablauf. Ansonsten war aber tatsächlich alles wie immer, und um es unumwunden zuzugeben: Wenn ich mir auch gelegentlich etwas Abwechslung im Alltag wünsche – solche Aktionen sind nicht das, was ich damit meine. Kein besonders gelungener Start in meinen Ehrentag. Um es aber angemessen einzuordnen: Streng genommen hätte ich ein solches Missgeschick auch an keinem anderen Tag meines Lebens wirklich gebraucht.

Nachdem mir das Schicksal auf diese Weise unmissverständlich klargemacht hatte, dass es sich keineswegs die Mühe geben würde, mir gefallen zu wollen, bloß weil sich an dem Tag meine Abstinenz von Alkoholika zum 18. Mal jährt, war die Marschrichtung vorgegeben: Alles wie immer. Warum sollte sich die Welt auch vor mir verneigen? Ich bin einer von vielen. Ein großer Schritt für mich, immerhin. Für die Menschheit als solche aber dann doch ein eher bescheidener Beitrag zu ihrer Fortentwicklung.

Das ist die eine Seite.

Auf der andere Seite flüstert mir eine Stimme ins Ohr, dass es sehr wohl eine Leistung ist, auf der man aufbauen kann und deretwegen ich zu Recht die Kollegen zur Feier des Tages mit Windbeuteln, Laugenbrezeln und vegetarischem Mettigel versorge. Denn wenn ich nicht darauf aufmerksam mache, nimmt niemand außer Tina und Johannes, die mir jedes Jahr zuverlässig gratulieren, überhaupt Notiz davon.

Wie zu vielen anderen Dingen auch, gebe ich zum Thema Alkoholmissbrauch meinen Senf nahezu ausschließlich dann dazu, wenn ich gefragt werde. Missionieren war noch nie mein Auftrag gewesen. Wenn ich im aktuellen Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung von einer Studie lese, wonach im Fernsehen in sechs von zehn Sendungen Alkohol im Bild ist, fordere ich keine Verbesserung des Programms. Sondern stelle nüchtern fest, dass da vermutlich lediglich der Zustand auch auf der anderen Seite des Bildschirms wenigstens ansatzweise realistisch abgebildet wird. In der gleichen Veröffentlichung wird festgestellt, dass in Deutschland jeder sechste Mensch zu viel Alkohol trinkt. Die hier zu Grunde liegende kritische Menge liegt übrigens unterhalb der gängigen Praxis: Solange man noch in der Lage ist, Flasche oder Glas selbstständig zum Mund zu führen, ist es nicht zu viel.

Jeder Sechste. In welcher Runde auch immer Ihr Euch gerade befindet – zählt noch nicht durch, sondern erst dann, wenn Ihr Euch vergegenwärtigt habt, dass an jedem dieser professionellen Trinker Angehörige und Freunde dranhängen, denen meistens außer Zugucken und Ertragen nicht viel übrig bleibt. Eine etwa zwei Wochen alte Nachricht soll diesen Sachverhalt illustrieren: Ein Mann war mit seiner angetrunkenen Frau und ihrem der Trunkenheit geschuldeten aggressivem Auftreten dermaßen überfordert, dass er ihre Abgabe auf einer Polizeiwache als alternativlos empfand. Unbeteiligte werden auch bei Verkehrsunfällen und Körperverletzungen unter Alkoholeinfluss unfreiwillig zu Beteiligten. Ich möchte niemandem den Spaß verderben, aber das bitte immer mitdenken. Jetzt dürft Ihr durchzählen. Auf der Arbeit oder im Freundeskreis. Ihr werdet womöglich feststellen, dass die genannte Zahl nicht furchtbar weit neben der Wirklichkeit liegt. Wer einen deutlich höheren Anteil in seinem Umfeld feststellt, sollte sich erst recht Gedanken machen. Falls jemand gar keine Trinker in Familie und Freundeskreis hat, bedeutet das nicht zwangsläufig Entwarnung, denn eine Untersuchung aus dem Jahr 2012 kam zu dem Ergebnis: „Gebildete anfälliger für Alkoholkonsum“. Mit Blick auf meine Person erklärt das natürlich einiges. Vielleicht würde es nicht schaden, wenn unsere Gesellschaft ihre Bildungsziele einer kritischen Überprüfung unterzieht.

Ein immens wichtiges Thema darf in diesem Zusammenhang nicht unterschlagen werden: Es wurde nämlich bei Fruchtfliegen festgestellt, dass diese mit Alkohol versetztes Futter gegenüber normalem Futter bevorzugen, wenn sie sich nicht paaren können. Der Grund liegt darin zu suchen, dass durch beide Tätigkeiten derselbe wichtige Botenstoff des Belohnungszentrums aktiviert wird.

Jetzt werden nicht wenige solcherlei Forschung für ähnlich überflüssig halten wie einen Neubau für das Deutsche Tapetenmuseum. Wenn man weiß, dass bei Säugetieren ein sehr ähnlicher Botenstoff existiert, wird die Angelegenheit schon interessanter. Allerdings muss noch weiter erforscht werden, ob sich die Ergebnisse auf den Menschen übertragen lassen.

Es lässt sich darüber streiten, ob man tatsächlich umfangreiche Studien durchführen muss, wenn man auch ohne großangelegte Forschung Phänomene wie Frustsaufen erkennen und erklären kann. Weitgehend unstrittig dagegen dürfte auf der anderen Seite sein – und auch dafür reichen Alltagsbeobachtungen -, dass Alkoholkonsum unter den richtigen Umständen die Chancen auf Beischlaf tendenziell erhöht.

Alkohol bringt einen ja dazu, Dinge zu tun, die man normalerweise nicht tun würde. „Die Risikobereitschaft steigt, während gleichzeitig das Urteilsvermögen herabgesetzt wird.“ Was zunächst eine völlig wertfreie Feststellung ist, führt hinterher unter anderem zu Schlagzeilen wie „Japanischer Co-Pilot wollte nach 2 Flaschen Wein und 2 Liter Bier noch fliegen“. Da jeder zweite Nordostasiate aufgrund eines fehlenden Enzyms keinen Alkohol verträgt, wäre diese Menge zur Erlangung der Fluguntüchtigkeit unter Umständen nicht einmal nötig gewesen. Dass man sich über solche Meldungen mit glimpflichem Ausgang amüsieren kann und darf, soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Thema an und für sich für fun facts zu ernst ist.

Angesichts des Stellenwertes von Gebranntem und Gegorenem in unserer Gesellschaft freut einen an so einem Jubiläum so ziemlich jede Ermutigung, auch wenn es zunächst nur die beiden oben bereits genannten Menschen sind. Die Geste zählt. Als mein damaliger Mitbewohner seinerzeit zu mir kam, um mir zu meinem ersten abstinenten Monat zu gratulieren, war das angesichts seiner beeindruckenden Fahne eine falsch verstandene Geste, aber es war eine Geste. Wenn man vorher jahrelang täglich gesoffen hat, ist ein Monat richtig, richtig lang. Und jetzt sind 18 Jahre draus geworden.

Und heute wie damals, trocken oder nass, geht es bei aller Unterschiedlichkeit in der Wahl der Mittel in der Hauptsache darum, geliebt, gemocht, anerkannt oder als Minimalziel wenigstens beachtet zu werden. Auch das dürfte ein Motiv sein, mittels dieses Blogs regelmäßig Nabelschau zu betreiben.

Insofern gilt auch unter diesem Gesichtspunkt: Alles wie üblich.

K(l)eine Katastrophen

Wenn man unterstellt, dass dieser Blog hier mein Innenleben einigermaßen korrekt abbildet, könnte man versucht sein, angesichts der Nicht-Präsenz des Themenkomplexes Glück/Zufriedenheit in den letzten Monaten zu schließen, ich hätte mit der Zeit eventuell das Ziel ein wenig aus den Augen verloren. Die Stille ist selbst dann höchst verdächtig, wenn berücksichtigt wird, dass ich manche Themen wegen der Gefahr der Wiederholung bewusst auslasse. Schließlich würden nur wenige hier Woche für Woche lesen wollen, wer der geilste Fußballclub der Welt ist oder warum das Leben speziell zu mir ausgesprochen ungerecht ist, obwohl ich doch so ein feiner Kerl bin. Dass diese edle Absicht diesen Blog nicht davor bewahrt hat, auch so wie er ist nur von wenigen Menschen gelesen zu werden, fällt unter die Rubrik „Der Plan war jedenfalls ursprünglich ein anderer gewesen“.

Dieses Scheitern von an und für sich ganz guten Plänen wiederum zieht sich dermaßen penetrant durch mein bisheriges und – so die Prognose – vermutlich auch mein zukünftiges Leben, dass ich meine, darin eine der Ursachen zu erkennen, weshalb die Frage nach Glück oder wenigstens Zufriedenheit stets von neuem gestellt wird. Der Gegenentwurf dazu könnte ja lauten, es einfach zu sein, ohne jedes Mal erst darüber nachzudenken, wie man es am besten anstellt, glücklich oder wenigstens zufrieden zu sein.

Und mag besagtes Scheitern auch einzigartig sein – in der Verarbeitung der Misere befinde ich mich in bester Gesellschaft. Dass ich dort niemals hin wollte? Umschreiben wir es so: Der Plan war jedenfalls ursprünglich ein anderer gewesen.

Keine Frage: Innerhalb unserer Gesellschaft ist deren Reichtum äußerst ungerecht verteilt. Ich sehe auch die soziale Isolation, den in Frage gestellten Selbstwert der Betroffenen und weitere Probleme, wenn man beim Verteilen des Kuchens nur die übrig gebliebenen Krümel abbekommt. Aber in 99 Prozent der Fälle hat ein hierzulande als arm geltender Mensch fließend Wasser, ein Dach über dem Kopf samt Heizung darin und muss nicht täglich um sein Leben fürchten. Noch dazu muss man im Normalfall nicht einmal besonders begabt, fleißig oder klug sein, um daran teilzuhaben. Man muss sich im Gegenteil fast schon anstrengen, am Wohlstand so überhaupt nicht teilzuhaben. Aus der Sicht eines pakistanischen Bauern leben wir hier im Paradies. Aber anstatt das auch ´mal zu würdigen, empfinden wir es als Katastrophe, wenn die Bahn sich verspätet. Man stellt sich Fernsehgeräte von der Größe eines Kleiderschranks ins Wohnzimmer und beklagt sich darüber, dass nur Schrott gesendet wird. Man bekommt Tobsuchtsanfälle, weil der Vordermann abbremst anstatt durchzustarten und wie schon die anderen drei Fahrzeuge vor ihm ebenfalls noch bei Gelb über die Ampel zu huschen. Wenn ich es nicht ohnehin schon wüsste, bekäme ich in solchen Momenten durch den Rückspiegel immerhin anschaulich vermittelt, wie hässlich Menschen sind, wenn sie nur wütend genug sind. Zugegeben: Mein ausgestreckter Mittelfinger ist in einer solchen Konstellation kein effektiver Beitrag zur Deeskalation der Situation. Das muss ich in einer kritischen Nachbetrachtung hinterher meistens anerkennen. Ich will an dieser Stelle nicht behaupten, der Plan sei ursprünglich ein anderer gewesen, aber das ist nicht State of the Art.

Es sind aber solche Begebenheiten, die mir beweisen: Im Haben und Verbreiten von schlechter Laune bin ich bestenfalls Mittelmaß. Wenn ich mir allein schon ansehe, bei wie vielen Menschen die Antwort darauf, was sie den ganzen Tag über machen, offensichtlich lautet: Das Wetter hassen. Wie so ein Schlumpf: „Ich hasse Sommer“ hier. „Ich hasse Regen“ dort. Und egal was kommt – am meisten hassen sie den ab dem folgenden Tag gemeldeten Wetterumschwung. Ich hasse solche Berufsnörgler.

Das U des Lebens

Da kommen Erklärungsansätze gerade recht, wonach der Grad der Zufriedenheit vor allem eine Frage des Alters ist. So sollen nach dieser Theorie Menschen im Alter von 20 Jahren am zufriedensten sein, während danach das Wohlbefinden allmählich sinkt. Erst ab etwa 50 Jahren kriegen wir wieder die Kurve und werden zufriedener. Der Verlauf der Kurve beschreibt ein U.

Ich habe da natürlich im Laufe meines Lebens auch ganz andere Typen kennengelernt. Menschen, die in jungen Jahren schon so deprimiert von allem waren, dass wir uns sehr sicher waren, dass sie sehr alt sehr sicher nicht werden. Andererseits Menschen, die noch mit Mitte 30 ständig wider besseren Wissens mit einer verdächtigen und beinahe ans Widerliche grenzenden guten Laune daherkamen. Entsprechend geriet ich angesichts dieser Studienergebnisse spontan in Versuchung, mich dem Chor der Kritiker anzuschließen und von unseriöser Forschung zu sprechen.
Allerdings hat ja niemand behauptet: Jeder. Sondern: Durchschnitt.
Jedenfalls klingt so unplausibel das alles nicht: Mit 20 hat man das Gefühl, die Welt stehe einem offen. Darauf folgt wenige Jahre später entweder Ernüchterung, denn der Plan war schließlich ursprünglich ein anderer gewesen. Oder es kommt die Phase der Routine: Man steht in etwa dort, wo man sich hingearbeitet, in selteneren Fällen auch hingevögelt hat. Da man auch im privaten Bereich danach strebt, irgendwann einmal wo auch immer „anzukommen“, herrscht in beiden Sphären oftmals ab einem gewissen Alter Stillstand. Das Gefühl, dass ab jetzt nicht mehr viel passieren werde, setzt sich durch. Da sind Winner und Loser wieder vereint. In ihrer Unzufriedenheit. Geht es dann in Richtung Ruhestand, werden Erwartungen an das Leben wieder etwas größer; die Zufriedenheit steigt.

Jetzt kann man sich natürlich darüber beklagen, dass bezogen auf die durchschnittliche Lebenserwartung eines Menschen eine 30 Jahre währende Phase der Unzufriedenheit übertrieben ungerecht ist.. Sollte es stimmen, dass das Lebensalter und nicht etwa die Einstellung zum Großen und Ganzen die Zufriedenheit determiniert, kann man proaktiv nur wenig machen, sondern nur zuschauen. Freiwillig schneller als geplant älter werden wäre eine Option, aber wer will das schon?! Und auch wenn man manchmal schwierige Menschen (Kollegen, Freunde, Ehegatten) in seiner Umgebung hat, die einem das Gefühl vermitteln, man würde schneller altern, weil sie einem permanent Zeit von der Uhr nehmen, bleibt es ja eine Illusion, dass die Zeit dadurch tatsächlich schneller vergeht.

Auf der anderen Seite: Wenn das alles stimmt, könnte man zwar eine Zeit lang nichts machen, müsste dann aber auch nichts mehr tun, wenn es so weit ist, dass es wieder aufwärts geht. Mit meinen 46 Jahren könnte ich mich demnach langsam zurücklehnen, denn so lang bis zum Umschwung ist es nicht mehr. Wenn das mal kein Anlass ist, jetzt schon ein ganz klein wenig zufriedener zu sein.
Obwohl der Plan ursprünglich natürlich ein anderer gewesen ist.

Das Grauen kehrt zurück

Man kann an diesem Land einiges kritisieren – an gruseligen Gestalten hat es ihm jedoch nur in den seltensten Fällen gemangelt. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Entscheidung, Halloween als Thema des dieswöchigen Blogeintrags zu wählen, am Ende schneller gefallen als zunächst befürchtet werden musste, wenn man bedenkt, dass das Alternativthema die Zeitumstellung gewesen wäre und damit ein Thema, dessen Gruselfaktor eigentlich nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.

Man tausche einmal Narren gegen gruselige Gestalten und merke an, diese bereits das ganze Jahr über in ausreichender Anzahl um sich herum zu haben. Schon hat man Halloween analog zu Fasching zur ganz und gar überflüssigen Veranstaltung erklärt. Auf diese Weise könnte man sich halbwegs passabel in den Text kalauern. Doch dieser Spruch kam auf der Arbeit schon nicht so gut an wie eigentlich beabsichtigt, als ich ihn diese Woche dort platzierte.

Dabei hatte ich damit ausnahmsweise nicht einmal explizit meine Kollegen beleidigen wollen, sondern die Zombies, die einem auf der Straße, beim Einkaufen oder anderen Alltagssituationen über den Weg laufen. Auf die Gefahr hin, wieder ungerecht zu erscheinen, ein Beispiel zur Illustration: Männer, denen der Zahn der Zeit nicht mehr als einen Haarkranz am Hinterkopf gelassen hat, retten diese unvorteilhafte Situation mitnichten, indem sie ihre Sonnenbrille nach oben auf die Halbglatze schieben. Mit Verlaub: Das sieht gespenstisch aus, um nicht zu sagen haarsträubend, und ich musste es einfach gesagt haben, bevor in den nächsten Tagen jemand die gelungene Maske lobt.

In solche Verlegenheiten kommen unsere meist sehr jungen Aushilfskollegen noch früher als ihnen lieb sein kann, auch wenn sie aktuell noch nicht damit rechnen. Doch so klar im Grunde ist, dass weder Alter noch Äußerlichkeiten wie die Haarpracht Indikatoren für die Grausigkeit eines Individuums sein können, so unheimlich ist auf der anderen Seite, zahlreichen Gesprächen unter eben jenen jungen Kollegen zu entnehmen, dass bei ihnen an den meisten Tagen nach 20 Uhr außer Berieselung auch nicht mehr allzuviel stattfindet. Wollte man Lebendigkeit am Aktivitätsgrad jenseits der Tagesschau messen, sind die Untoten wohl in jeder Generation in der Mehrheit. Ein Befund mindestens so grauenhaft wie die Blini, welche die Klitschko-Brüder auf der Universität immer essen mussten, bevor sie die Milchschnitte entdeckten.

Auf der anderen Seite steht die jüngere Generation für einen fast beneidenswerten Umgang mit Halloween, resultierend aus dem Umstand, dass es dieses Ereignis für sie einfach immer schon gegeben hat. Insofern dreht es sich für sie lediglich um die Frage, in welchem Umfang man daran teilnimmt. Und nicht wie bei manchen Älteren um den Glauben daran, dass der Spuk irgendwann auch wieder vorüber gehen könnte.

Dass das Gruselfest unter den heute Über-Vierzig-Jährigen besonders beliebt wäre, will wahrscheinlich in der Tat niemand ernsthaft behaupten. Ursprünglich erstmals 1991 wegen Faschings-Ausfall mit größerem Nachdruck promotet, halten die Widerstände gegen das hierzulande traditionslose Fest teils bis heute an. Zu amerikanisch, lautet die Argumentation mitunter bis in die Gegenwart. Nicht immer war amerikanischer Kulturimperialismus in Deutschland so unwillkommen. Aber auch bei den Jeanshosen, dem Kaugummi und speziell dem Rock´n´Roll der Nachkriegszeit hat es skeptische Stimmen der damals älteren Generation gegeben. Wie man hinterher immer besser weiß, auch in diesen Fällen nicht besonders erfolgreich. Und angesichts der ganzjährigen Penetranz von Coca Cola und McDonalds kann man Halloween wohl gerade noch verkraften.

Auf Deutsch: Man kann es auch scheiße finden, aber man wird sich kaum dagegen wehren können, dass sich eine signifikante Anzahl an Menschen findet, die es feiern. Erst recht nicht wird man den Handel dazu drängen können, auf diese Umsatzquelle zu verzichten. Denn es geht ja längst nicht mehr bloß um ein paar Kostüme zusätzlich, sondern um Dekoration, Süßigkeiten und noch einiges mehr. Die Supermärkte haben schon seit Wochen entsprechend aufgerüstet, und wahrscheinlich ist der Absatz von Eiern zur Zeit in der Tat erkennbar höher als sonst. Die Veranstaltungsbranche reibt sich ebenfalls die Hände. Im Endeffekt gibt es halt einen Vorwand mehr, sich zu besaufen und ´rumzupöbeln. Zwei Dinge, die in diesem Land immer funktionieren.

Selbst wenn man sich eigentlich noch von der Zeitumstellung erholen muss.

Schluss mit lustig

Ich möchte nicht undankbar erscheinen, doch diese permanenten Ratschläge können einem schon manchmal auf den Keks gehen. Womit noch nicht einmal die oftmals ungefragt erhaltenen Tipps von Freunden, Kollegen sowie – auch wenn es hier manchmal besonders schwierig ist – Müttern gemeint sind. Bedeuten diese doch immerhin, dass da überhaupt jemand ist, der Anteil nimmt. Und wer von ihnen kann schon ernsthaft etwas dafür, wenn zu den meisten unserer Probleme außer Plattitüden nichts so recht einfällt, was mir ja zugegeben umgekehrt oft auch nicht anders geht.

Viel schlimmer als solche unbeholfenen, aber doch immerhin gut gemeinten Ratschläge sind doch die ungefragt im Raum stehenden Tipps, die einen an manchen Tagen ob ihrer Allgegenwärtigkeit schon durch ihre bloße Existenz auf die Palme bringen. Ja – man benutzt sie auch selbst. Wenigstens hin und wieder. Richtig – so völlig unwahr, dass man ihnen umgehend widersprechen müsste, sind sie ja auch nicht. Jedenfalls nicht solange man noch einigermaßen bei Trost ist. Trotzdem.

Nicht in Problemen, sondern in Lösungen zu denken ist zum Beispiel so ein Spruch. Hört sich super an, und da man außer denken zunächst nichts tun muss, wird auch der Umsetzung nicht gar zu viel im Weg stehen.

Wenn man dann allerdings einen technisch nur mittelmäßig ausgestatteten Haushalt wie ich führt, scheitert dieser Vorsatz bereits morgens bei einer vergleichsweise harmlosen Übung wie dem Aufstehen. Der Wecker schafft es nämlich, in dem jetzt noch nicht ganz halben Jahr, seit ich die Uhr bei der Umstellung auf Sommerzeit neu gestellt habe, sagenhafte acht Minuten nachzugehen. Man hat ja Kollegen, die auf diese Weise funktionieren: immer ein bisschen langsamer als der Rest. Jeder Fußballfan kennt das Problem, dass sein Lieblingsverein mindestens einen Spieler in seinen Reihen hat, der bei jeder Aktion diesen einen Schritt zu spät ist. Menschen müssen nach meiner Auffassung allerdings auch nicht perfekt sein. Bei einer Uhr, die zwar nicht für teures, immerhin aber doch für Geld verkauft wird, lege ich die Messlatte etwas höher. Auf meinen Wecker will ich mich verlassen können. Vielleicht habe ich unser gesellschaftliches System trotz über vierzigjähriger intensiver Teilhabe daran einfach immer noch nicht verstanden, aber selbst nach einer so langen Zeit der Gewöhnung würde ich mich schämen, ein nicht einwandfrei funktionierendes Produkt auf den Markt zu bringen.

Derweil zeigt mir die andere Uhr im Schlafzimmer, die des Radioweckers, den ich nach dem Kauf des neuen Weckers behalten musste, weil das Display der Neuanschaffung vom Bett aus praktisch gar nicht lesbar ist, eine Uhrzeit vier Minuten über der eigentlichen Zeit an. Ich hoffe, nicht extra erwähnen zu müssen, dass die Uhr dieses Geräts ebenfalls Ende April gestellt wurde. Wenn ich mich also ein knappes halbes Jahr später um eigentlich 6 Uhr wecken lasse, der Wecker mit acht Minuten Verspätung anfängt zu scheppern, ich auf die Uhr sehe, die vier Minuten vorgeht, bekomme ich 6.12 Uhr angezeigt. Bei mir zuhause bekommt die Redewendung, dass die Zeit rast, eine komplett neue Bedeutung. Wann soll ich das jemals wieder aufholen? Aber: Nicht in Problemen, sondern in Lösungen denken. Gute Idee eigentlich. Höchstens noch zu toppen von: Vielleicht sollte ich auch einfach ´mal eine Nacht drüber schlafen, denn: Bestimmt sieht morgen die Welt schon wieder ganz anders aus. Ein Versuch kann ja nicht schaden, denke ich mir, auch wenn ich im Falle der Uhren zu einer gewissen Skepsis tendiere. Der obligatorische Blick auf die beiden Wecker am nächsten Morgen bestätigt: Mein Pessimismus war gerechtfertigt.

Manchmal denke ich, die Drei-Schritte-Strategie Fenster auf – Wecker ´raus – Fenster wieder zu wäre die zwar nicht perfekte, aber die einzige Lösung. Und wer glaubt, noch jeder Wecker, der morgens mit einem gezielten Wurf auf der Straße gelandet ist, wäre mehr Dichtung statt Wahrheit, nicht viel mehr als ein verzweifelter Versuch, einer Geschichte etwas mehr Pep zu geben, unterschätzt die Realität in der Offenbacher Ziegelstraße. Aus pädagogischen Gründen merke ich hiermit an, dass ich die Aktion kacke gefunden hätte, wenn dadurch jemand verletzt worden wäre. Da dies aber nicht der Fall gewesen ist: Ganz großes Tennis! Allererste Sahne (Fischfilet)!

Es muss nicht immer Kaviar sein

Ich hoffe, man verzeiht mir den Versuch, an dieser Stelle eine höchstens halbgare Überleitung zu generieren, aber: Wo wir gerade beim Thema Essen sind, fällt mir die nächste Ungeheuerlichkeit an Tipp ein. Wer hat nicht schon einmal gehört: Wer zu schnell ist, verpasst den Sättigungspunkt.

Als ich das zum ersten Mal gehört habe, dachte ich an einen Scherz, aber die meinen das ernst! Es gibt in Deutschland tatsächlich Menschen, die an einen Sättigungspunkt glauben! Ich gebe bereitwillig zu, dass die Qualität meines Essens nicht das oberste Fach im Regal ist, aber: Wenn ich „nur“ esse, bis ich satt bin, verzehre ich sehr sicher mehr als ich das momentan tue. Aus sehr ähnlichen Gründen glaubte ich übrigens nicht daran, dass wiederverschließbare Packungen bei Schokolade sich jemals durchsetzen würden. Inzwischen haben sie sich jedoch genauso im Markt etabliert wie Wecker, die nicht richtig ticken. Ein erfolgreicher und weitsichtiger Unternehmer werde ich in diesem Leben jedenfalls nicht mehr. Was mir im Rahmen dieses Textes immerhin erlaubt, erneut von der individuellen auf die gesamtgesellschaftliche Ebene zu springen und damit zu einem Punkt, der in Predigten und anderen Sonntagsreden gern hervorgehoben wird, wenn es irgendwo knirscht im Gebälk: das Verbindende gegenüber dem Trennenden in den Fokus zu rücken. Ein Textbaustein mit ähnlich geringem Gebrauchswert wie mein Wecker oder wie all die anderen hier im Text erwähnten Floskeln. Denn wenn ich mir beispielsweise die seit Jahren wiederkehrenden Bilder von Wutbürgern ansehe und ihre Äußerungen in den Kommentarspalten des www verfolge, weil es mir nicht gelingen will, sie zu ignorieren, stelle ich fest: Wir werden auf keinen gemeinsamen Nenner kommen. Wir haben weder in ethischen noch in orthografischen Fragen gemeinsame Standards. Unterm Strich sprechen wir in etlichen Fällen nicht einmal die gleiche Sprache, auch wenn sämtliche Witze darüber wahrscheinlich bereits erzählt wurden. Nehmen wir – auch wenn ich mich frage, wie ich ausgerechnet auf diesen Dialekt komme – Sächsisch: Ich verstehe nicht alles, aber das meiste. Und im Grunde höre ich es gern. Wenn mich etwas daran stört, dann wenn Sätze in diesem Idiom zum Besten gegeben werden, von denen „Hören Sie auf, mir ins Gesicht zu filmen“ noch zu den harmloseren Äußerungen gehören.

Erneut könnte mir günstigstenfalls mein Unterbewusstes Antworten auf die Frage geben, wie ich gerade jetzt auf Eichhörnchenhirne komme, aber wie diese Woche berichtet wurde, ist in den USA vor einiger Zeit ein Mann nach Verspeisen eines solchen an der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit gestorben. Auch hier muss zumindest die Frage gestattet sein: Was verbindet mich mit so jemandem? Unabhängig von meinem Esstempo wäre angesichts einer solchen Mahlzeit mein Sättigungspunkt unter Garantie schon vor dem ersten Bissen erreicht. Da ich insgesamt eine Neigung zu weniger spektakulären Hobbys habe, werde ich auch über diesen Punkt keine Gemeinsamkeiten herstellen können.

Was bleibt also? Wenn das hier das Ergebnis der Absicht ist, einen optimistischen Text über Frustbewältigung und über das Lachen schreiben zu wollen, sollte ich eventuell wirklich ´mal anfangen, nicht in Problemen, sondern in Lösungen zu denken sowie das Verbindende über das Trennende zu stellen. Dann würde die Welt morgen zwar auch keine andere sein, aber vielleicht tatsächlich ganz anders aussehen. Am besten, ich schlafe ´mal eine Nacht drüber und fange dann gleich nächste Woche damit an.

Und vielleicht, aber nur vielleicht esse ich sogar auch etwas langsamer.

Grüner shoppen

Trends, von denen ich eher zufällig im Nachhinein mitbekomme, dass es sie überhaupt gegeben hat, sind mir offen gestanden die liebsten. Völlig unaufgeregt kultiviere ich mein Nicht-Wissen und meine Nicht-Teilhabe, während ich den Bekannten beim Wetteifern zuhöre, wer von ihnen der erste gewesen sein will und etwas Bestimmtes schon gemacht oder besessen hat, bevor alle anderen überhaupt Notiz davon nahmen, dass es so etwas überhaupt gibt. Was ja in den allermeisten Fällen sowieso nichts anderes bedeutet als dass der vermeintliche Gewinner einem geschickten Marketing als erstes auf den Leim gegangen ist.

Meine Neigung zur Ignoranz von Trends jedweder Art zeigt sich insbesondere in den Märkten der Mode sowie der Unterhaltungselektronik. Aber auch „Urban Jungle“ hätte ich beinahe verpasst, wenn ich nicht letzte Woche, also etwa eineinhalb Jahre nach Anwerfen der Trendmaschine und resultierendem Ausspucken des Begriffs zufällig in einer wöchentlich in meinem Briefkasten befindlichen kostenlosen Zeitung einen Beitrag zum Thema gefunden hätte.

Jetzt wird sich jeder pseudo-intellektuelle Blogger natürlich als erstes daran abarbeiten, dass schon der Begriff erstens wenig originell und zweitens mindestens irreführend ist. Wer die von Einrichtungshäusern und Pflanzenhändlern zwecks besserer Darstellung dieses Trends komplett durchgestylten Wohnungen begutachtet, ahnt, dass diese perfekt angeordneten Arrangements von der Unübersichtlichkeit sowohl einer Großstadt als auch eines Dschungels in etwa so weit entfernt ist wie meine SGE von der Verteidigung ihres Titels als DFB-Pokalsieger. Zudem fällt auf, wie sehr es in vielen Beiträgen zum Thema primär um die Instagram-Tauglichkeit der eigenen Wohnung geht und erst irgendwann am Rande auch um den Wohlfühlfaktor derselben jenseits dieser Vorzeigbarkeit.

Damit nicht genug, löst der oft einleitende Hinweis, dass Zimmerpflanzen vor „Urban Jungle“ als relativ spießig galten, zusätzliche Irritationen aus. In welcher Blase lebe ich eigentlich? Nicht nur, dass ich erst jetzt mitbekomme, dass Elefantenfuß und Fensterblatt plötzlich so trendy sind, dass sie aus dem großstädtischem Leben nicht mehr wegzudenken sind – ich hatte darüber hinaus nicht einmal mitbekommen, dass sie vorher als spießig verpönt waren.

Vielleicht bin ich resistent gegen Trends, aber ich hätte mich eigentlich vor dieser Modeerscheinung aufgrund meiner Eigenschaft als Zimmerpflanzenhalter nicht als besonders spießig bezeichnet. Jedenfalls als weniger spießig als der Durchschnitt der Bevölkerung oder wenigstens als der Durchschnitt aller Zimmerpflanzenhalter. Gerade auch weil ich weiß: Spießig sind sowieso immer nur die anderen.

Und: Nur weil Gestrüpp in der Wohnung auf einmal angesagt ist, fühle ich mich dagegen auch nicht besonders hip, bloß weil ich schon Bock auf Pflanzen hatte, bevor Urban Jungle um die Ecke kam. Das wäre ja auch noch schöner.

Spießigkeit als neue coolness

Aber ehrlich gesagt verstehe ich sowieso nicht, weshalb an dieser Stelle ein Gegensatz zwischen Spießern und Hipstern aufgemacht wird. Weil sie wie immer an Äußerlichkeiten festgemacht wird, während es sich in Wirklichkeit eher um eine Frage der Einstellung handelt. Natürlich gibt es auch den real existierenden Prototyp des Spießers, der bereitwillig jedes dementsprechende Klischee bedient. Aber nur weil jemand vom Kopf bis zu den Füßen tätowiert ist und – noch(!) – am Nachtleben teilnimmt, bedeutet das nicht automatisch, dass er immun gegen Spießigkeit wäre. Spießigkeit findet im Kopf statt. Findet – zugegeben – manchmal in Äußerlichkeiten seine Bestätigung. Kehrt dann am Ende aber wieder in den Kopf zurück. Deswegen ist eine Rechtsschutzversicherung definitiv spießiger als ein Bogenhanf.

Beispiel: Die Nachbarin fragt mich, ob ich mitbekommen hätte, dass die neuen Nachbarn im Treppenhaus rauchen. Habe ich nicht. Sie auch nicht. Ob sie denn etwas gerochen hätte, will ich wissen. Hat sie nicht. Aber es würde sie stören, wenn sie es tun. Schon klar. Das nenne ich spießig. Dass sich die Nachbarin dagegen wenig bis gar nicht daran stört, wenn ihr eigener Gatte regelmäßig einen Zigarillo anwirft, bevor er von ganz oben nach ganz unten durchs Treppenhaus wackelt, macht die Angelegenheit nicht weniger spießig, ist dafür tendenziell eher mein Humor.

Doch verlassen wir diese Nebenkriegsschauplätze und wenden uns einem ernsthaften Problem zu: Wenn es nämlich jemand gibt, der noch nie ein Problem damit hatte, spießige Gegenstände als trendy zu vermarkten, dann sind das die Homeshopping-Sender, die meine Mutter auf den vorderen Programmplätzen gespeichert hat und den halben Tag lang anschaut. Wer sich jetzt fragt, worin genau nun das Problem bestünde, darf sich glücklich schätzen. Alle anderen kennen die Situation, wenn Mutter stolz ihren letzten Einkauf präsentiert und erwartet, dass man das überteuerte, dafür minderwertige Zeug genauso schick und praktisch findet wie sie.

Es ist ja nicht so, dass ich als Pflanzenfreund nicht sowieso schon genügend Sorgen hätte.

Der schwarze Daumen

Nicht allein, dass ich in meiner Wohnung mehr Platz für Pflanzen habe als Licht dafür hereinkommt.

Nicht nur, dass ich ob der Allgegenwärtigkeit des Themas momentan ständig dazu verführt werde, meinen Pflanzenbestand trotzdem weiter zu erhöhen.

Nicht bloß, dass ich nicht einkalkuliere, dass die Dinger idealtypisch auch noch wachsen, sondern ich im Gegenteil damit rechne, dass mir einiges aus der grünen Vielfalt in der nächsten Zeit eingehen wird. So wie ich bis jetzt noch immer geschafft habe, einige der schönsten Gewächse zwar nicht vorsätzlich, so aber dennoch zielgerichtet und gründlich innerhalb kurzer Zeit zu ruinieren.

Auch dass manchmal die Beschaffung adäquaten Ersatzes mit tierärztlichen Behandlungskosten oder anderen Sonderausgaben konkurriert und mein schmales Budget nicht immer ein Sowohl-als-auch akzeptiert, gehört hierher.

Das alles ist aber noch lange nichts gegen die Mutter aller Probleme: Pflanzen und Katzen auf Kompatibilität zu überprüfen.

Wer versucht, seinen Urban Jungle katzengerecht zu gestalten, kann streng genommen nicht viel richtig machen. Eine Modellrechnung: Unter angenommenen 30.000 verschiedenen Zimmerpflanzen können 15.000 beim Shopping außer Acht gelassen werden, weil sie definitiv giftig sind. Dummerweise sind deswegen nicht alle restlichen 15.000 zweifelsfrei unbedenklich für Sammy und Muschi, sondern nur etwa zehn. Bei den anderen 14.990 herrscht Uneinigkeit. Das Ende vom Lied: Die Konsequenz, mit der man anfangs noch anrüchiges Grün meidet, weicht auf, weil man es irgendwann einfach satt hat, wenn man in drei Katzenforen und zwei Büchern gelesen hat, dass eine Pflanze unproblematisch ist und sich aber kurz nach der letztendlichen Anschaffung dann in einem vierten Forum die Behauptung findet: Ätsch! Doch gefährlich. Man erinnert sich daran, dass der Stubentiger Freigänger ist, war oder werden soll und draußen auch niemand auf das Tier aufpassen kann, konnte oder können wird und er aber trotzdem in 99,99 Prozent aller Fälle gesund nach Hause kommt, kam beziehungsweise kommen wird. Mit folgendem Resultat:

Zu den (bis auf Widerruf) unbedenklichen Pflanzen gesellen sich einige, die man sich guten Gewissens zugelegt hat, bevor irgendein Ketzer auf die Gefahren aufmerksam machte. Weil man aber auch nicht pausenlos sämtliche Freunde mit aussortierten Gewächsen zuscheißen kann und weil den Tieren bis dato auch nichts passiert ist, bleibt nach und nach auch das eigentlich ungenießbare Zeug in der Wohnung. Und damit es dort nicht so allein ist, gesellen sich bald einige wenige Pflanzen dazu, von denen man schon vorher weiß, dass sie unter Umständen schädlich sein können. Schließlich ist es mit der anderen nicht ganz astreinen Ware ja auch schon gutgegangen. Ausgesperrt bleiben also am Ende dieser Rolle rückwärts doch nur die in der Modellrechnung genannten 15.000 stigmatisierten Pflanzen. Selbstverständlich abzüglich der Exemplare, die Mütter irgendwann ´mal bei Homeshopping-Sendern für uns bestellt haben und die garantiert unproblematisch sind, weil die dort ja sicher gesagt hätten, wenn die bedenklich für die Tiere wären.

Ich glaube allerdings mittlerweile, dass es meinen Pauli nicht die Bohne interessiert, wieviel Gedanken ich mir über seine Gesundheit mache. Solange nur ausreichend Zypergras im Haus ist, rührt er sowieso nichts anderes an.

Analog dazu lassen sich sehr wahrscheinlich auch meine Zimmerpflanzen höchstens in geringem Maße davon beeindrucken, welche Pflege ich ihnen zukommen lasse. Ob ich peinlich genau auf angemessene Luftfeuchtigkeit, Temperatur, Licht, Nährstoff- und Wasserzufuhr achte – die meisten machen ohnehin, was sie wollen. Nicht immer zu meinem Gefallen und manchmal ganz hart an der Grenze, ab der ich am liebsten einfach alles zusammen mit einem Plakat „Zum mitnehmen“ auf die Straße stellen will.

In solchen Momenten wünsche ich mir dann auch, es hätte diesen Trend mit den Zimmerpflanzen tatsächlich nie gegeben.

Wahrheit oder Pflicht

Da nur die allerwenigsten Menschen morgens regelmäßig mit dem Gedanken aufwachen, was sie sich denn an diesem Tag vornehmen könnten zu verändern, ist davon auszugehen, dass das Bedürfnis ernstzunehmen ist, wenn es dann doch einmal so weit ist und man eines Morgens die dringende Notwendigkeit dazu verspürt. Das mag im Falle der Klassiker wie Abnehmen, mehr Sport oder weniger Alkohol zu teilweise schönen Ergebnissen führen, stößt jedoch bereits dort das erste Mal an Grenzen, wo mehr Personen als man selbst von dieser Veränderungsabsicht betroffen sind. Und spätestens wenn es sich bei dem zu ändernden Zustand um eine Angelegenheit aus der Arbeitssphäre handelt, ist das alles nicht nur unangenehm, sondern auch ungemein schwierig zu handhaben. Wenn man mit einem Kollegen absolut nicht kann, gibt es im Prinzip nur zwei Alternativen. Boss zu sein könnte die Sache in unethischer Weise zuungunsten des Antagonisten beeinflussen, würde die Entscheidungsfindung aber wenigstens um ein gutes Stück abkürzen. Doch wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, sind die meisten von uns nicht in dieser Position. Jetzt darf man raten, was alle diese Gedanken mit dem Thema des heutigen Blogeintrags zu tun haben.

Die seinerzeitige Unlust, permanent unbefriedigende Auseinandersetzungen mit einer bestimmten Kollegin aus der Buchhaltung führen zu müssen, hat maßgeblich zur Gründung meines Hüpfburgen-Imperiums beigetragen. Das war 2005. Da ich meinen Geschäftssinn glücklicherweise ansatzweise realistisch einschätzen konnte und also wusste, dass ich meinem Plan mit dem Imperium nicht zu 100 Prozent vertrauen konnte, arbeitete ich trotz dieses Drachens von Kollegin weiter im Lager eines Tonträgervertriebs und kümmerte mich um den Aufbau des Imperiums nur nebenher. Die Hüpfburgen sind längst Geschichte, das dazugehörige Imperium wurde nie realisiert, aber die Episode veranschaulicht, dass ich in Sachen Berufsfindung nicht zu jeder Zeit meines Lebens die glücklichsten Hände hatte.

Der erste Beruf, den ich mir als Kind halbwegs ernsthaft für mein späteres Leben vorstellen konnte, war Briefträger. Und das obwohl mir sowohl die realen Zusteller als auch der nette Onkel Heini in der beliebten Serie „Neues aus Uhlenbusch“ vermittelt hatten, dass der Beruf des Postboten einen vergleichsweise geringen Glamour-Faktor hat. Aber es war bodenständiger als Filmschauspieler, Rockstar oder Fußballtorwart. Feuerwehrmann oder Astronaut hatten merkwürdigerweise nie eine Rolle für den kleinen Micky gespielt.

Konditor war in der achten Klasse aktuell, als die Berufsorientierung in der Gesamtschule bei vielen, die nicht planen konnten, nach der neunten noch weitere Jahre dranzuhängen, auch schon Grundsatzentscheidungen erforderte. Konditor deshalb, weil ein Test des Berufs-Informations-Zentrums bei mir dieses Ergebnis einbrachte und ich mit diesem Resultat besser leben konnte als diejenigen Klassenkameraden, denen der Test den Vorschlag einbrachte, es beispielsweise als Damenschneider zu versuchen. Zur selben Zeit hatte ich meine ersten Gehversuche in BASIC auf dem Commodore 64 gemacht und war auf dem besten Weg, selbst geschriebene Software mittels Kleinanzeigen zu vermarkten. Da ich heute weiß, dass ich mich stets nur mit Sachen an die Öffentlichkeit gewagt habe, die wirklich reif sind, können die so schlecht nicht gewesen sein, auch wenn es halt nur BASIC auf dem C64 war.

Was wäre wenn…

Auch wenn mit meiner Affinität zu Computern alle ganz gut hätten leben können, hatte mein Klassenlehrer, in seltener Übereinstimmung mit meinen Eltern übrigens, bereits andere Pläne mit mir: Etwas Kaufmännisches, am besten bei einer Bank. Das waren damals die erstrebenswerten Jobs. Und niemand, am wenigsten ich selbst, dessen Interessen sich im weiteren Verlauf der jugendlichen Selbstfindung bald erneut radikal änderten, konnte ahnen, dass ich Jahrzehnte später tatsächlich einen kaufmännischen Abschluss in der Hand halten sollte. Weil bekanntlich viele annehmen, Lageristen würden den ganzen Tag hauptsächlich uninspiriert Paletten durch die Gegend rangieren, geht in der öffentlichen Wahrnehmung nämlich gern unter, dass Fachkraft für Lagerlogistik ein kaufmännischer Abschluss ist. Nicht dass ich mir besonders viel darauf einbilde, aber unterschlagen wollen wir es dennoch nicht. Überhaupt muss man wohl festhalten, dass das Bild von einem Lageristen tendenziell geprägt davon ist, dass alle denken, das könne man selbst auch gerade noch.

Das ist auf der einen Seite wahr, weil viele Tätigkeiten aus unserem Arbeitsalltag beileibe kein Hexenwerk sind. Man muss auch klar sehen, dass ich überhaupt gar nicht als Aushilfe im Lager begonnen hätte, wenn die Leute das nicht grundsätzlich jedem zutrauen würden. Auf der anderen Seite habe ich im Laufe der Jahre genügend Menschen als lebende Beweise kennenlernen müssen, dass man wirklich nichts mehr voraussetzen kann.

Also kann man durchaus einmal die Frage stellen, was heute in meinem Lebenslauf stünde, wenn ich mich damals ebenfalls angestellt hätte wie die Henne zum Pissen. Weiter gesponnen: Was, wenn die Chefin den Anmerkungen zu meinem als problematisch zu bezeichnenden Alkoholkonsum anders als mit dem Konter „Und Ihr glaubt, dass Ihr bessere Arbeit leistet, weil Ihr nur kifft“ begegnet wäre?

Was wäre, wenn sie nicht irgendwann gegen Ende meines Studiums gesagt hätte, dass sie mich mit Kusshand in Festanstellung nehmen würde?

Was wäre, wenn ich daraufhin gezwungen gewesen wäre, mir einen Job zu suchen, der mehr mit meinem Studienabschluss zu tun hat? Was wäre, wenn ich darüber hinaus den Mut gehabt hätte, bei der Stellensuche auch Angebote in Betracht zu ziehen, die mich zu einem Umzug in eine andere Stadt genötigt hätten? Überhaupt: Was wäre eigentlich gewesen, wenn die eine Bewerbung erfolgreich gewesen wäre, die ich im Bemühen um eine Ausbildungsstelle als Buchhändler abgeschickt hatte, nachdem mir zu Beginn des Politologie-Studiums nicht ganz klar war, ob es das ist, was ich will? Oder wenn ich, als die Absage auf diese eine Bewerbung mich zum Weiterstudieren veranlasst hatte, einmal ansatzweise ernsthaft studienbegleitend meinen eigentlichen Berufswunsch Journalist verfolgt hätte? Die für diesen Beruf eigentlich erforderliche Kommunikationsbereitschaft kann man sich auch antrinken, wie ich irgendwann als freier Mitarbeiter für die Redaktion Sport der lokalen Tageszeitung schnell feststellen konnte. Und so viel schlechter als bei Briefzustellern oder Lageristen würde auch der Glamour-Faktor bei Journalisten kaum sein können.

Ich stelle diese Fragen nicht, um voller Groll verpassten Chancen nachzutrauern. Schon gar nicht um der Behauptung willen, mit anderen Entscheidungen unter Umständen heute ein glücklicherer Mensch sein zu können. Sondern einfach um aufzuzeigen, dass ich bei meinen Entscheidungen im Zweifel immer den Weg des geringsten Widerstandes gegangen bin. Ich weiß nicht, was wäre, wenn ich an irgendeiner Stelle im Lebenslauf einmal anders abgebogen wäre und die mutigere Entscheidung gewählt hätte. Auch niemand sonst kann das von sich mit Sicherheit, sondern bestenfalls mit großer Wahrscheinlichkeit wissen.

Eigentlich schade angesichts des Erfahrungshintergrundes, dass Dich ein einziger Kollege Jahre Deines Lebens kosten kann und Du deswegen eines Morgens aufwachst und das dringende Bedürfnis verspürst, dass sich etwas ändern muss.

Wimmelbilder

Am Ende will es wieder keiner gewesen sein. So wie in den Jahren 1985 und 1986, als es einer Band wie Modern Talking gelang, mit fünf Singles hintereinander Platz Eins der deutschen Charts zu erklimmen, obwohl sich eigentlich nirgends jemand dazu bekannte, die Musik so gut zu finden, dass er sich einen dieser Tonträger zugelegt hätte. Diesem Phänomen nicht ganz unähnlich liest und hört man heute massenhaft davon, dass beinahe jede Frau schon mindestens einmal ein Foto eines männlichen primären Geschlechtsmerkmals via elektronischer Post erhalten hat. Im Gegensatz zur Masse der empfangenen Bilder findet man jedoch auf Versender-Seite so gut wie niemanden, der zuzugeben bereit ist, schon einmal auf solch eigenartige Weise um Aufmerksamkeit geworben zu haben.

Jetzt war das menschliche Balzverhalten natürlich noch zu keiner Zeit eine Sphäre ausgeprägt rationaler Verhaltensweisen gewesen. (Sehr zu meinem Leidwesen übrigens, doch das tut hier ausnahmsweise nichts zur Sache.) Das Zurschaustellen des Genitals setzt dem Ganzen jedoch vorläufig die Krone auf. Es mag bei einigen Affenarten Usus sein, die Paarungsbereitschaft durch Präsentieren des Pinsels zu signalisieren. Aber – bei allem Respekt – das sind halt auch Affen. Unter Menschen käme ich auf die Idee erst gar nicht, das als angemessenes Mittel der Brautwerbung in Betracht zu ziehen. So sehr ich mir manchmal ein klein wenig mehr Klartext bei der Beziehungsanbahnung auch wünschte.

Da wie gesagt der Vielzahl der Pimmelbilder nur sehr wenige bekennende Urheber gegenüberstehen, ist die Frage nicht ganz einfach zu klären, was sich Männer dabei denken, wenn sie ein Foto ihres Gemächts in Umlauf bringen. Eine der naheliegendsten Antworten lautet: Nichts. Nicht mehr, dafür auch nicht weniger. Simpel, aber zutreffend. Nichts.

Wie auch? Wenn der Blutkreislauf plötzlich dahingehend beeinträchtigt ist, dass alle Kräfte gebündelt werden, Regionen unterhalb der Gürtellinie zu versorgen, kann man kaum erwarten, dass die Blutzufuhr ins Hirn bei gleichbleibender Qualität gewährleistet bleibt. Und also kann man von einem Mann auch kaum erwarten, dass sich über solche Nebensächlichkeiten noch Gedanken gemacht werden. Ich weiß nicht, ob auch das eventuell schon zu viel erwartet ist, aber über grundsätzliche Fragen, wo Grenzen liegen, könnte man sich ja auch vorher einmal in einer ruhigen Minute Gedanken machen, dann würde es nicht zu solchen Aussetzern kommen, wenn das Hirn zugunsten des Schwanzes unterversorgt ist.

Mein Erkenntnisinteresse zwingt mich dazu, weiter nachzubohren: Männer! Was glaubt Ihr damit zu erreichen? Liebe auf den ersten Blick wohl tendenziell weniger. Ihr befindet Euch gerade in der Kennenlernphase und denkt irgendwann „Jetzt gehe ich aufs Ganze“ und schickt dann so etwas ab? Und wundert Euch, dass Ihr eine verstörte Frau hinterlasst, die eventuell bis exakt zu dieser Nachricht noch dachte: Eigentlich ist er ja ganz in Ordnung. Wenn´s das ist, dann Hut ab! Ihr habt´s wohl verkackt.

Blöderweise ist das Versenden solcher Bilder, selbst wenn der abgebildete Dödel nicht der eigene sein sollte, nicht nur kontraproduktiv und also äußerst dumm, sondern bis auf wenige unrühmliche Ausnahmen auch eine Grenzüberschreitung.

Ein Pimmelbild als kleine Aufmerksamkeit ähnlich einer harmlosen Gute-Nacht-Textnachricht – wer nicht wenigstens für eine Nanosekunde darüber nachdenkt, wie das beim Gegenüber ankommen könnte, sollte ob dieses grandiosen Einfühlungsvermögens eigentlich nicht wirklich damit rechnen dürfen, das Interesse auch nur irgendeiner Frau zu generieren.

Hol´ schon ´mal die Gurken..!“

Umso entsetzter war ich, als ich lesen musste, dass in einigen wenigen Fällen der Chat damit nicht beendet war, sondern sich teils noch einige Wochen munter weiter hin- und hergeschrieben wurde. Sicher darf es Unterschiede in der Grenzziehung geben, die Anschlussfrage lautet aber: Wie zum Teufel geht man nach so einer Offenbarung wieder zur Tagesordnung über? Etwa „Ich weiß zwar nicht, wie ich gerade jetzt darauf komme, aber ich muss für den Salat noch Gurken hobeln“?

Die bisher nur als dürftig zu bezeichnenden Erklärungsversuche werden derweil auch nicht besser. So trifft man zum Beispiel immer wieder auf Erklärungsversuche wie diesen hier: Weil Männer sich ja auch gern Brüste und anderes von Frauen gern ansehen, glauben sie, Frauen würden sich umgekehrt über Penisfotos freuen. Das klingt plausibel. Wenigstens für diejenigen erwachsenen Männer, die ihr bisheriges Leben auf einer einsamen Insel verbracht haben. Alle anderen sollten im Laufe ihres Lebens zumindest den Hauch einer Ahnung davon erhalten haben, dass dem nicht so ist.

In einer weiteren Variante nicht zustande kommender Beziehungen wird die von der Angebeteten nicht oder nicht mehr erhaltene Aufmerksamkeit als weiteres Motiv gehandelt. Man kennt das ja: Nach Wochen unerwiderter Sympathie ein Foto des besten Stücks geschickt, und umgehend meldet sich die Adressatin: „Oh, warum schickst Du das nicht gleich?! Lass´ uns treffen..!“

Ich hoffe eindringlich, und zwar für alle Beteiligten sowie für die Aufrechterhaltung meines Weltbildes, dass das auf diese Weise nicht funktioniert. Auch wenn es die Angelegenheit keineswegs besser macht, wenn die Dinger in dieser Situation aus purem Trotz abgeschickt werden, ist mir jedes Motiv sympathischer als die Erwartung, sie dadurch am Ende doch noch für sich gewinnen zu können.

Halten wir fest: Ursache für das Versenden eines Pimmelbildes können unterschiedliche Motivlagen sein, deren gemeinsame Ausgangssituation von einem Sexualpsychologen sehr treffend wie folgt zusammengefasst wurden: „Es handelt sich (…) um eine Art Unfähigkeit, einen Kennenlernen-Prozess einvernehmlich so weit zu gestalten, bis die Frage nach einem Penis womöglich von selbst aufkommt.“

Nachdem das also geklärt ist, können wir uns der Frage zuwenden, welches Fotomotiv denn stattdessen tatsächlich geeignet sein könnte, Frauen nachhaltig zu beeindrucken.

Fakt ist nämlich auch, dass Bilder von mir vor meinem Bücherregal die Frauen bislang tendenziell genauso wenig angetörnt haben.

Es könnte natürlich auch sein, dass es bloß noch keine zugegeben hat.

Wer weiß das schon so genau..?!

Der Kult-Text

Einmal abgesehen davon, dass ständiges Jammern sich ungünstig auf die Lebenserwartung auswirken kann, hat der Umstand, dass ich kaum noch weggehe, unter Leute komme und irgendwohin eingeladen werde, auch positive Begleiterscheinungen, die meines Erachtens noch viel zu selten gewürdigt werden:

Man verpasst ja nicht nur die tollen Momente mit inspirierenden Menschen, sondern mindestens ebenso viele zeitraubende Gespräche mit anstrengenden Zeitgenossen und Situationen, über die man hinterher sagt: Da hätte ich gern drauf verzichtet. Spätestens wenn sich in einer Clique von midlife-crisis-geplagten Männern der eigenen geistigen Zulänglichkeit versichert wird, indem zum Vergleich kompromittierende Zitate von Profi-Fußballern zum Besten gegeben werden, ist ja meistens sowieso schon der Punkt erreicht, ab dem man sich die Frage stellt, ob es schon Zeit zum Gehen ist.

Nicht dass ich überhaupt niemals an solchen Runden teilgenommen hätte. Wenn man Sprüche wie „Ich habe es mir sehr genau überlegt und dann spontan zugesagt“ zum ersten Mal hört, sind viele davon ja auch eine Offenbarung. Im Prinzip aus dem gleichen Grund, weshalb gute (!) Comedians regelmäßig neue Gags entwickeln, krame ich allerdings seit mindestens 20 Jahren höchstens noch in Ausnahmefällen ein passendes Zitat ´raus. Wenn man ausdrücken möchte, dass man sich noch nicht entschieden hat, kann der Klassiker „Mailand oder Madrid, Hauptsache Italien“ als Antwort auf die Frage nach den diesjährigen Urlaubsplänen durchaus noch zitierfähig sein. Wenn das Gespräch sich danach um Fußballerweisheiten und nicht mehr um Urlaub dreht, muss man jedoch davon ausgehen, dass es einer der Beteiligten nicht begriffen hat. Dann wird es auch nicht lange dauern, bis einer aus dieser heiteren Runde das Wort „Kult“ in den Mund nimmt.

Die allzu sorglose Verwendung dieses Begriffs zu beklagen, ist natürlich in etwa so originell wie das Zitieren von Fußballersprüchen. Weil „Kult“ allerdings in der Liga der nervigsten Ausdrücke immer noch Jahr für Jahr um den ersten Platz mitspielt, ist die Erneuerung der Kritik nach wie vor aktuell. Drei Minuten „Recherche“: Die News-Seite einer bekannten Suchmaschine listet unter dem Stichwort „Kult“ am 22. September 2018 Schlagzeilen unter anderem zu folgenden Themen: Kult-Rockband, Kult-Konsole, Kult-Auto, Kult-Filme, Kult-Kneipe, Kult-Drinks, Kult-Serie, Kult-Kiosk, Kult-Karussell oder Kult-Konferenz. Der Begriff wird verwendet in so unterschiedlichen Zusammenhängen wie dem früheren Fußballtrainer Dragoslav Stepanovic, der Currywurst, den Simpsons, Altona 93, einer Friseurin, einer Scheune, einem Stadionsprecher sowie diversen Veranstaltungen, die über lokale Relevanz nicht hinausreichen. Alles, was mehr als zwei Leute länger als zwei Tage fasziniert, ist Kult. Ganz offensichtlich ist nichts denkbar, das sich nicht dazu eignet, als „Kult“ geadelt zu werden. Selbst Produkte, die gerade erst in den Markt dringen und also noch nicht einmal von irgendjemandem vermisst werden können, sind schon Kult. Keine Spur davon, dass sich dieses Ungetüm an Wort seit inzwischen bestimmt 30 Jahren abnutzt.

Wenn man masochistisch genug veranlagt ist, sich eine Folge der Comedy-Spielshow „Für immer Kult“ anzusehen, stellt man sehr bald fest, dass dort so gut wie alles, was zwischen 1970 und 1999 bekannt war, nostalgisch verklärt zum Kult überhöht wird. Mit dieser Gleichsetzung von Retro und Kult ist die Beliebigkeit, die den Begriff ohnehin schon umgibt, in nochmals neue Dimensionen vorgestoßen. Wenn aber alles Kult ist, das aber im Grunde genommen rein gar nichts mehr aussagt, verstehe ich nicht ganz, wieso überhaupt noch alles Kult sein will.

Ein selbst ernannter Kultreporter blamiert sich bei RTLs „Supertalent“. Nicht dass die Sendung in irgendeiner Weise als Maßstab für Qualität bekannt wäre, aber wer nicht einen Satz geradeaus sprechen kann, wird mit Recht auch beim dritten Anlauf verrissen. Wer sich selbst als Kult bezeichnet, kann sowieso schon nicht alle Tassen im Schrank haben. Wenn dazu weder an der Persönlichkeit noch am Auftreten irgendetwas zu erkennen ist, das die Verwendung der Bezeichnung „Kult“ objektiv rechtfertigen würde, kommt man natürlich ins Grübeln über den Zustand unserer Gesellschaft im allgemeinen sowie darüber, woher solche Leute ihr Sendungsbewusstsein nehmen, im speziellen. Dass der Kandidat aus Offenbach kommt, macht das alles nicht besser. Hier in Offenbach bekommt auch der chronisch unterfinanzierte Fußball-Viertligist mangels anderer vorzeigbarer Eigenschaften den Stempel „Kult“. Man muss dem Verein und speziell seinen Fans natürlich zugute halten, dass hier einiges kreiert wird, das diese Bezeichnung durchaus eher rechtfertigt als bei einer x-beliebigen Biermarke. Aber wenn eine Kreativ-Agentur sich Gedanken macht und dann den komplett unkreativen Slogan „Kult sind wir“ präsentiert, lässt das tief blicken.

Falls also irgendwann einmal in Zusammenhang mit dem Meilensteinbildhauer das Wort Kult fallen sollte, hoffe ich inständig, mindestens einer meiner wenigen Freunde möge mich bei den selten gewordenen Gelegenheiten, Zeit miteinander zu verbringen, daran erinnern, dass eine solche Titulierung keine Ehrerbietung ist, sondern der Anfang vom Ende.

Tagebuch einer nicht nennenswert charismatischen Person

„Lassen Sie Ihre Persönlichkeit leuchten“, „Schritt für Schritt in 30 Tagen eine umwerfende Ausstrahlung entwickeln“ oder „9 Schlüssel, die Dir alle Türen öffnen“. Wenn wir Wahlwerbung als Sonderform der Reklame einmal bewusst ausklammern, ist der Markt der Persönlichkeitsentwickler mutmaßlich der Bereich mit den kühnsten Versprechungen. Das Missverhältnis zwischen vollmundigen Ankündigungen und tatsächlichen Erfolgen ändert allerdings nichts an meiner grundsätzlichen Empfänglichkeit für einige solcher Inhalte. Weshalb es auch nur eine Frage der Zeit gewesen ist, bis ich wieder einmal einen Selbstversuch starte.

Da mir eine ad hoc durchgeführte repräsentative Selbstbefragung keinen vernünftigen Grund lieferte, der gegen ein Mehr an charismatischer Ausstrahlung spricht, war das Übungs-Design verhältnismäßig schnell abgesteckt: „Menschen mit Charisma gehen mit Komplimenten verschwenderisch um.“ Konkret: Kann ja nicht so schwer sein, zunächst wenigstens ´mal einen Tag lang auszutesten, inwiefern ich mich abends als ein besserer Mensch fühle, nachdem ich tagsüber meine mitunter teils groben Kommentare gezielt durch kontrolliertes Aussprechen anerkennender Worte ersetzt habe.

Wie sehr ich den Schwierigkeitsgrad dieser Versuchsanordnung unterschätzt habe, konnte ich vorher nicht ahnen.

Doch der Reihe nach: Da ich mir selbst gegenüber sowieso meistens nur lobende Worte finde, beginnt der Tag in diesem Sinn mit dem ersten Heraustreten auf den Hof. Die nicht schließende Haustür erinnert mich daran, dass ich meinem Vermieter eigentlich viel zu selten mitteile, wie aufopfernd er sich permanent um den Zustand seiner bescheidenen Hütte kümmert.

Bevor ich zur Tat schreiten kann, muss ich mich mit einem Nachbarn auseinandersetzen, der wieder irgendeine sagenhafte Story zum Besten gibt, wen er wieder aus welchem eigentlich nichtigen Grund geboxt hat oder was er früher eigentlich alles erfolgreich gemacht hat. Geschichten dieser Art erzählt er jedes Mal, aber es ist irgendwie noch zu früh, um angemessen im Sinne meines selbstauferlegten Programms zu reagieren. Jedoch: Erste und für den Tag bestimmt nicht die letzten Gedanken, das Ganze einfach abzubrechen und zu tun, als wäre nie etwas gewesen, sind bereits jetzt vorhanden.

Im weiteren Verlauf der ersten Hunderunde taue ich langsam auf. Der Wagen eines Servicepartners der Deutschen Post hat es mir angetan. Ein sichtbar ramponiertes Auto ist nach meiner Beobachtung offenbar entscheidendes Kriterium, um im Auftrag der Deutschen Post die Briefkästen leerenzu dürfen. „Coole Karre“ murmele ich im Vorbeigehen, noch etwas zurückhaltend, aber ein Anfang ist gemacht.

Jetzt habe ich Blut geleckt: Die zuverlässig übel gelaunte Kassiererin im gegenüber gelegenen Rewe bekommt heute endlich einmal mitgeteilt, dass ich ihr am liebsten den ganzen Tag bei der Arbeit zusehen würde. Nur wenig später, ich befinde mich inzwischen im Auto, erhalte ich die nächste Gelegenheit, zu beweisen, wie charismatisch ich bin: Als ein anderes Fahrzeug mir ohne überhaupt zu gucken die Vorfahrt nimmt, um danach ohne große Eile vor mir her zu tuckern, hupe ich etwa zehn Sekunden lang, um auf die Anwesenheit weiterer Verkehrsteilnehmer aufmerksam zu machen. Ich kurbele die Scheibe ´runter und will gerade den Mittelfinger recken, bevor mir gerade rechtzeitig noch einfällt, dass das nicht richtig wäre. Ich hebe stattdessen meinen Daumen, nicke ihm anerkennend zu und rufe ihm ein paar warme Worte bezüglich seiner umsichtigen Fahrweise zu.

Das war gut, muss ich mich zwischendurch auch ´mal selbst loben. So kann es weitergehen. Zum Glück bin ich bald auf der Arbeit, wo sich erfahrungsgemäß massenweise Gelegenheiten bieten, im Sinne meines Experiments initiativ zu werden.

Überraschend positives Zwischenfazit

Einer der Kollegen kommt wie immer zu spät. Beiläufig erwähne ich seine Konsequenz, sich auch durch gutes Zureden von Vorgesetzten nicht von dieser Gewohnheit abbringen zu lassen. Ich merke, wie das Programm langsam auf Touren kommt. Eine weitere Aushilfskraft bekommt von mir gesagt, was ich schon eine ganze Weile loswerden wollte. Dass ich nämlich seine Art, mit einer Hand in der Hosentasche durch den Kommissioniergang zu schlendern, für außerordentlich lässig halte.

Ich komme in Fahrt. Zwar spüre ich auch, wie schwer es noch fällt, angesichts eines weißen T-Shirts keinen gehässigen Kommentar abzulassen, wenn die Bestellung eigentlich ein schwarzes verlangt. Aber es fühlt sich plötzlich so richtig an, dem hierfür verantwortlichen Kollegen eben nicht die zwei falsch kommissionierten Teile vorzuwerfen, sondern ihm stattdessen die Mitteilung machen zu dürfen: „Vier richtige von sechs Stück insgesamt sind ein verdammt guter Wert!“

Habe ich das eben wirklich gesagt? Ich muss langsam aufpassen, dass meine garantiert ernst gemeinten Komplimente nicht als ironisch aufgefasst werden. Vielleicht muss ich auch aufpassen, dass ich selbst die beiden Dinge nicht verwechsle. Die Grenzen sind jedenfalls fließend. Dafür steht eines allemal fest: Ich darf auf keinen Fall vergessen, heute noch den Bossen für ihre in zwei oder drei Fällen fürwahr gelungenen Personalentscheidungen zu gratulieren.

Allmählich wünsche ich mir, ich würde auch ab und zu ´mal so nette Sachen gesagt bekommen wie ich heute austeile. Aber mir ist natürlich klar, dass nicht jeder so charismatisch sein kann wie ich. Ist ja auch ein langer und steiniger Weg gewesen bis zu dem Punkt, an dem ich diesbezüglich heute stehe.

Ohne weitere erwähnenswerte Möglichkeiten, meine frisch erworbenen Fähigkeiten weiter zu verfeinern, geht der Arbeitstag zu Ende. Der Selbstversuch freilich ist mit dem Feierabend noch lange nicht zu Ende. Anerkennung wird in der modernen Zeit bekanntlich bevorzugt ausgedrückt, indem noch die irrelevantesten Regungen auf Facebook wohlwollend beachtet werden. Also klicke ich was das Zeug hält. Nicht nur bei den Sachen, die mir wirklich gefallen. Der Typ, mit dem mich außer der gemeinsamen Zugehörigkeit zu einer Singlegruppe nichts verbindet, postet sein obligatorisches Foto von einem Glas Whisky. Gefällt mir. An anderer Stelle wird ein x-beliebiger Sinnspruch mit dem Kommentar „Wie war“ geteilt. Gefällt mir ebenfalls. Ich schreibe drunter: Endlich ´mal jemand, der ´wahr´ korrekt schreibt!“ Auch das tägliche „War beim Training und bin erschöpft aber glücklich“ einiger Zeitgenossen bekommt heute ein „Like“ von mir. Der nächste bekennt sich dazu, gerade das „Beste“ aus 15 Jahren „Frauentausch“ im TV zu sehen. Das Unterlassen eines Kommentars, dass es offenbar noch trostlosere Leben als meines gibt, muss an dieser Stelle Lob genug sein. Überhaupt muss es für heute reichen!

Im Bett rekapituliere ich den Tag. So richtig charismatisch fühlt man sich kurz vor dem Einschlafen keineswegs. Was aber auch daran liegen kann, dass – wenn ich ehrlich bin – ich heute nicht unbedingt immer ehrlich gewesen bin. Vielleicht bin ich einfach noch nicht bereit fürs Loben. Vielleicht ist auch mein Umfeld noch nicht bereit dazu. Alles eine Frage der Sichtweise.

Ich erinnere mich an den in diesem Zusammenhang nicht ganz unerheblichen Nachsatz: Wenn man nichts Lobenswertes findet, ist es besser, nichts zu sagen als etwas Unaufrichtiges zu sagen

Wer sich schon einmal gefragt hat, weshalb ich zu den eher ruhigeren Menschen gehöre, findet vielleicht exakt an dieser Stelle Antworten.

Seite 10 von 19

Präsentiert von WordPress & Theme erstellt von Anders Norén