Einmal abgesehen davon, dass ständiges Jammern sich ungünstig auf die Lebenserwartung auswirken kann, hat der Umstand, dass ich kaum noch weggehe, unter Leute komme und irgendwohin eingeladen werde, auch positive Begleiterscheinungen, die meines Erachtens noch viel zu selten gewürdigt werden:

Man verpasst ja nicht nur die tollen Momente mit inspirierenden Menschen, sondern mindestens ebenso viele zeitraubende Gespräche mit anstrengenden Zeitgenossen und Situationen, über die man hinterher sagt: Da hätte ich gern drauf verzichtet. Spätestens wenn sich in einer Clique von midlife-crisis-geplagten Männern der eigenen geistigen Zulänglichkeit versichert wird, indem zum Vergleich kompromittierende Zitate von Profi-Fußballern zum Besten gegeben werden, ist ja meistens sowieso schon der Punkt erreicht, ab dem man sich die Frage stellt, ob es schon Zeit zum Gehen ist.

Nicht dass ich überhaupt niemals an solchen Runden teilgenommen hätte. Wenn man Sprüche wie „Ich habe es mir sehr genau überlegt und dann spontan zugesagt“ zum ersten Mal hört, sind viele davon ja auch eine Offenbarung. Im Prinzip aus dem gleichen Grund, weshalb gute (!) Comedians regelmäßig neue Gags entwickeln, krame ich allerdings seit mindestens 20 Jahren höchstens noch in Ausnahmefällen ein passendes Zitat ´raus. Wenn man ausdrücken möchte, dass man sich noch nicht entschieden hat, kann der Klassiker „Mailand oder Madrid, Hauptsache Italien“ als Antwort auf die Frage nach den diesjährigen Urlaubsplänen durchaus noch zitierfähig sein. Wenn das Gespräch sich danach um Fußballerweisheiten und nicht mehr um Urlaub dreht, muss man jedoch davon ausgehen, dass es einer der Beteiligten nicht begriffen hat. Dann wird es auch nicht lange dauern, bis einer aus dieser heiteren Runde das Wort „Kult“ in den Mund nimmt.

Die allzu sorglose Verwendung dieses Begriffs zu beklagen, ist natürlich in etwa so originell wie das Zitieren von Fußballersprüchen. Weil „Kult“ allerdings in der Liga der nervigsten Ausdrücke immer noch Jahr für Jahr um den ersten Platz mitspielt, ist die Erneuerung der Kritik nach wie vor aktuell. Drei Minuten „Recherche“: Die News-Seite einer bekannten Suchmaschine listet unter dem Stichwort „Kult“ am 22. September 2018 Schlagzeilen unter anderem zu folgenden Themen: Kult-Rockband, Kult-Konsole, Kult-Auto, Kult-Filme, Kult-Kneipe, Kult-Drinks, Kult-Serie, Kult-Kiosk, Kult-Karussell oder Kult-Konferenz. Der Begriff wird verwendet in so unterschiedlichen Zusammenhängen wie dem früheren Fußballtrainer Dragoslav Stepanovic, der Currywurst, den Simpsons, Altona 93, einer Friseurin, einer Scheune, einem Stadionsprecher sowie diversen Veranstaltungen, die über lokale Relevanz nicht hinausreichen. Alles, was mehr als zwei Leute länger als zwei Tage fasziniert, ist Kult. Ganz offensichtlich ist nichts denkbar, das sich nicht dazu eignet, als „Kult“ geadelt zu werden. Selbst Produkte, die gerade erst in den Markt dringen und also noch nicht einmal von irgendjemandem vermisst werden können, sind schon Kult. Keine Spur davon, dass sich dieses Ungetüm an Wort seit inzwischen bestimmt 30 Jahren abnutzt.

Wenn man masochistisch genug veranlagt ist, sich eine Folge der Comedy-Spielshow „Für immer Kult“ anzusehen, stellt man sehr bald fest, dass dort so gut wie alles, was zwischen 1970 und 1999 bekannt war, nostalgisch verklärt zum Kult überhöht wird. Mit dieser Gleichsetzung von Retro und Kult ist die Beliebigkeit, die den Begriff ohnehin schon umgibt, in nochmals neue Dimensionen vorgestoßen. Wenn aber alles Kult ist, das aber im Grunde genommen rein gar nichts mehr aussagt, verstehe ich nicht ganz, wieso überhaupt noch alles Kult sein will.

Ein selbst ernannter Kultreporter blamiert sich bei RTLs „Supertalent“. Nicht dass die Sendung in irgendeiner Weise als Maßstab für Qualität bekannt wäre, aber wer nicht einen Satz geradeaus sprechen kann, wird mit Recht auch beim dritten Anlauf verrissen. Wer sich selbst als Kult bezeichnet, kann sowieso schon nicht alle Tassen im Schrank haben. Wenn dazu weder an der Persönlichkeit noch am Auftreten irgendetwas zu erkennen ist, das die Verwendung der Bezeichnung „Kult“ objektiv rechtfertigen würde, kommt man natürlich ins Grübeln über den Zustand unserer Gesellschaft im allgemeinen sowie darüber, woher solche Leute ihr Sendungsbewusstsein nehmen, im speziellen. Dass der Kandidat aus Offenbach kommt, macht das alles nicht besser. Hier in Offenbach bekommt auch der chronisch unterfinanzierte Fußball-Viertligist mangels anderer vorzeigbarer Eigenschaften den Stempel „Kult“. Man muss dem Verein und speziell seinen Fans natürlich zugute halten, dass hier einiges kreiert wird, das diese Bezeichnung durchaus eher rechtfertigt als bei einer x-beliebigen Biermarke. Aber wenn eine Kreativ-Agentur sich Gedanken macht und dann den komplett unkreativen Slogan „Kult sind wir“ präsentiert, lässt das tief blicken.

Falls also irgendwann einmal in Zusammenhang mit dem Meilensteinbildhauer das Wort Kult fallen sollte, hoffe ich inständig, mindestens einer meiner wenigen Freunde möge mich bei den selten gewordenen Gelegenheiten, Zeit miteinander zu verbringen, daran erinnern, dass eine solche Titulierung keine Ehrerbietung ist, sondern der Anfang vom Ende.