„Lassen Sie Ihre Persönlichkeit leuchten“, „Schritt für Schritt in 30 Tagen eine umwerfende Ausstrahlung entwickeln“ oder „9 Schlüssel, die Dir alle Türen öffnen“. Wenn wir Wahlwerbung als Sonderform der Reklame einmal bewusst ausklammern, ist der Markt der Persönlichkeitsentwickler mutmaßlich der Bereich mit den kühnsten Versprechungen. Das Missverhältnis zwischen vollmundigen Ankündigungen und tatsächlichen Erfolgen ändert allerdings nichts an meiner grundsätzlichen Empfänglichkeit für einige solcher Inhalte. Weshalb es auch nur eine Frage der Zeit gewesen ist, bis ich wieder einmal einen Selbstversuch starte.

Da mir eine ad hoc durchgeführte repräsentative Selbstbefragung keinen vernünftigen Grund lieferte, der gegen ein Mehr an charismatischer Ausstrahlung spricht, war das Übungs-Design verhältnismäßig schnell abgesteckt: „Menschen mit Charisma gehen mit Komplimenten verschwenderisch um.“ Konkret: Kann ja nicht so schwer sein, zunächst wenigstens ´mal einen Tag lang auszutesten, inwiefern ich mich abends als ein besserer Mensch fühle, nachdem ich tagsüber meine mitunter teils groben Kommentare gezielt durch kontrolliertes Aussprechen anerkennender Worte ersetzt habe.

Wie sehr ich den Schwierigkeitsgrad dieser Versuchsanordnung unterschätzt habe, konnte ich vorher nicht ahnen.

Doch der Reihe nach: Da ich mir selbst gegenüber sowieso meistens nur lobende Worte finde, beginnt der Tag in diesem Sinn mit dem ersten Heraustreten auf den Hof. Die nicht schließende Haustür erinnert mich daran, dass ich meinem Vermieter eigentlich viel zu selten mitteile, wie aufopfernd er sich permanent um den Zustand seiner bescheidenen Hütte kümmert.

Bevor ich zur Tat schreiten kann, muss ich mich mit einem Nachbarn auseinandersetzen, der wieder irgendeine sagenhafte Story zum Besten gibt, wen er wieder aus welchem eigentlich nichtigen Grund geboxt hat oder was er früher eigentlich alles erfolgreich gemacht hat. Geschichten dieser Art erzählt er jedes Mal, aber es ist irgendwie noch zu früh, um angemessen im Sinne meines selbstauferlegten Programms zu reagieren. Jedoch: Erste und für den Tag bestimmt nicht die letzten Gedanken, das Ganze einfach abzubrechen und zu tun, als wäre nie etwas gewesen, sind bereits jetzt vorhanden.

Im weiteren Verlauf der ersten Hunderunde taue ich langsam auf. Der Wagen eines Servicepartners der Deutschen Post hat es mir angetan. Ein sichtbar ramponiertes Auto ist nach meiner Beobachtung offenbar entscheidendes Kriterium, um im Auftrag der Deutschen Post die Briefkästen leerenzu dürfen. „Coole Karre“ murmele ich im Vorbeigehen, noch etwas zurückhaltend, aber ein Anfang ist gemacht.

Jetzt habe ich Blut geleckt: Die zuverlässig übel gelaunte Kassiererin im gegenüber gelegenen Rewe bekommt heute endlich einmal mitgeteilt, dass ich ihr am liebsten den ganzen Tag bei der Arbeit zusehen würde. Nur wenig später, ich befinde mich inzwischen im Auto, erhalte ich die nächste Gelegenheit, zu beweisen, wie charismatisch ich bin: Als ein anderes Fahrzeug mir ohne überhaupt zu gucken die Vorfahrt nimmt, um danach ohne große Eile vor mir her zu tuckern, hupe ich etwa zehn Sekunden lang, um auf die Anwesenheit weiterer Verkehrsteilnehmer aufmerksam zu machen. Ich kurbele die Scheibe ´runter und will gerade den Mittelfinger recken, bevor mir gerade rechtzeitig noch einfällt, dass das nicht richtig wäre. Ich hebe stattdessen meinen Daumen, nicke ihm anerkennend zu und rufe ihm ein paar warme Worte bezüglich seiner umsichtigen Fahrweise zu.

Das war gut, muss ich mich zwischendurch auch ´mal selbst loben. So kann es weitergehen. Zum Glück bin ich bald auf der Arbeit, wo sich erfahrungsgemäß massenweise Gelegenheiten bieten, im Sinne meines Experiments initiativ zu werden.

Überraschend positives Zwischenfazit

Einer der Kollegen kommt wie immer zu spät. Beiläufig erwähne ich seine Konsequenz, sich auch durch gutes Zureden von Vorgesetzten nicht von dieser Gewohnheit abbringen zu lassen. Ich merke, wie das Programm langsam auf Touren kommt. Eine weitere Aushilfskraft bekommt von mir gesagt, was ich schon eine ganze Weile loswerden wollte. Dass ich nämlich seine Art, mit einer Hand in der Hosentasche durch den Kommissioniergang zu schlendern, für außerordentlich lässig halte.

Ich komme in Fahrt. Zwar spüre ich auch, wie schwer es noch fällt, angesichts eines weißen T-Shirts keinen gehässigen Kommentar abzulassen, wenn die Bestellung eigentlich ein schwarzes verlangt. Aber es fühlt sich plötzlich so richtig an, dem hierfür verantwortlichen Kollegen eben nicht die zwei falsch kommissionierten Teile vorzuwerfen, sondern ihm stattdessen die Mitteilung machen zu dürfen: „Vier richtige von sechs Stück insgesamt sind ein verdammt guter Wert!“

Habe ich das eben wirklich gesagt? Ich muss langsam aufpassen, dass meine garantiert ernst gemeinten Komplimente nicht als ironisch aufgefasst werden. Vielleicht muss ich auch aufpassen, dass ich selbst die beiden Dinge nicht verwechsle. Die Grenzen sind jedenfalls fließend. Dafür steht eines allemal fest: Ich darf auf keinen Fall vergessen, heute noch den Bossen für ihre in zwei oder drei Fällen fürwahr gelungenen Personalentscheidungen zu gratulieren.

Allmählich wünsche ich mir, ich würde auch ab und zu ´mal so nette Sachen gesagt bekommen wie ich heute austeile. Aber mir ist natürlich klar, dass nicht jeder so charismatisch sein kann wie ich. Ist ja auch ein langer und steiniger Weg gewesen bis zu dem Punkt, an dem ich diesbezüglich heute stehe.

Ohne weitere erwähnenswerte Möglichkeiten, meine frisch erworbenen Fähigkeiten weiter zu verfeinern, geht der Arbeitstag zu Ende. Der Selbstversuch freilich ist mit dem Feierabend noch lange nicht zu Ende. Anerkennung wird in der modernen Zeit bekanntlich bevorzugt ausgedrückt, indem noch die irrelevantesten Regungen auf Facebook wohlwollend beachtet werden. Also klicke ich was das Zeug hält. Nicht nur bei den Sachen, die mir wirklich gefallen. Der Typ, mit dem mich außer der gemeinsamen Zugehörigkeit zu einer Singlegruppe nichts verbindet, postet sein obligatorisches Foto von einem Glas Whisky. Gefällt mir. An anderer Stelle wird ein x-beliebiger Sinnspruch mit dem Kommentar „Wie war“ geteilt. Gefällt mir ebenfalls. Ich schreibe drunter: Endlich ´mal jemand, der ´wahr´ korrekt schreibt!“ Auch das tägliche „War beim Training und bin erschöpft aber glücklich“ einiger Zeitgenossen bekommt heute ein „Like“ von mir. Der nächste bekennt sich dazu, gerade das „Beste“ aus 15 Jahren „Frauentausch“ im TV zu sehen. Das Unterlassen eines Kommentars, dass es offenbar noch trostlosere Leben als meines gibt, muss an dieser Stelle Lob genug sein. Überhaupt muss es für heute reichen!

Im Bett rekapituliere ich den Tag. So richtig charismatisch fühlt man sich kurz vor dem Einschlafen keineswegs. Was aber auch daran liegen kann, dass – wenn ich ehrlich bin – ich heute nicht unbedingt immer ehrlich gewesen bin. Vielleicht bin ich einfach noch nicht bereit fürs Loben. Vielleicht ist auch mein Umfeld noch nicht bereit dazu. Alles eine Frage der Sichtweise.

Ich erinnere mich an den in diesem Zusammenhang nicht ganz unerheblichen Nachsatz: Wenn man nichts Lobenswertes findet, ist es besser, nichts zu sagen als etwas Unaufrichtiges zu sagen

Wer sich schon einmal gefragt hat, weshalb ich zu den eher ruhigeren Menschen gehöre, findet vielleicht exakt an dieser Stelle Antworten.