Aufzeichnungen aus der Wirrnis des Alltags

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Mir stinkt´s

Schweiß, Zigaretten, Alkohol, Mundgeruch – es wird Gründe haben, weshalb die häufigste Antwort auf die Frage nach dem unangenehmsten Geruchsträger „Mein Arbeitskollege“ lautet. Über üble Gerüche zu schreiben, bietet sich zur Zeit an. Und zwar nicht weil auf der Arbeit mehr als ohnehin üblich vor sich hin gestunken würde, sondern schlicht und einfach weil der Geruchssinn in Frühjahr und Sommer stärker ausgeprägt ist.

Wenn man das world wide web benutzt, stellt man nach einer gewissen Weile fest, dass viele der dort enthaltenen Informationen nur einen eher überschaubaren Nutzen haben. Zwei Beispiele hierfür finden sich im ersten Absatz dieses Textes. Man kann auf diesen Sachverhalt unterschiedlich reagieren. Nicht wenige zum Beispiel passen sich – scheinbar ohne große Mühe – dem gekennzeichneten Niveau an und servieren dem geneigten Leser Content wie den folgenden: Auf der Suche nach Tipps, den eigenen textlichen Ausstoß aufzupeppen, stößt man immer ´mal wieder auf den Hinweis, dass die Leser, die ich ja mit dem Thema Gestank jetzt schon eindrucksvoll abgeholt habe, Ranglisten lieben. Probieren wir es aus – hier sind die Top 5 meiner härtesten olfaktorischen Erlebnisse:

Platz 5: Essig

Das Thema Essig ist zu selbsterklärend, um darüber viel Worte verlieren zu müssen. Gegenüber Essig sind selbst Klassiker des schlechten Geruchs wie Sauerkraut, Senf oder eine nahe gelegene Brauerei ein echter Nasenschmaus.

Seit frühester Kindheit beschäftigen mich zwei Fragen:

a) Wieso verfeinert man Speisen mit etwas, mit dem man sonst den Boden wischt?

b) Weshalb sollte man überhaupt mit Essig putzen, wenn man den gleichen Effekt mit wohlriechenden Mitteln wie zum Beispiel Zitronensäure erreichen kann?

Als Jugendlicher gesellte sich zu diesen bis dahin unbeantworteten Fragen noch folgende Überlegung:

c) Warum hält man eine Substanz, die vorher als Alkohol einem angesehenen Zweck gedient hat, überhaupt in irgendeiner Weise für vertrauenswürdig?

Einer kritischen Überprüfung bedarf wohl auch die Behauptung, Essig lasse sich prima als Geruchsvernichter einsetzen. Ich gebe zu: Um mir vorzustellen, dass ein Gebräu mit einem solch penetranten Geruch andere Gerüche neutralisieren kann, fehlt mir ein wenig die Phantasie. Da würde ich sogar den Versuch, den Teufel mit dem Beelzebub austreiben zu wollen, für erfolgversprechender halten. Fazit: Lieber lasse ich meine Bude nach nassem Hund und Tierfutter stinken als nach Essig.

Platz 4: Lebende Tiere

Ohnehin ist die Tierwelt reich an für Menschen abstoßenden Gerüchen. Klar: Wer den evolutionären Sprung gemacht hat, sein Revier durch das Platzieren von Handtüchern zu markieren, schaut naserümpfend auf Arten herab, die das aus Gewohnheit oder weil sie es nicht besser können noch durch das Verteilen von Urin oder Kot erledigen. Der Kern des Problems gerät dabei oft aus dem Blick: Dass man als Außenstehender wenig bis gar nicht beurteilen kann, ob ein abgesonderter Duftstoff nun Feinde vertreiben oder potentielle Sexualpartner anlocken soll. Als besonders animalisch-infernalisch gilt landläufig der Geruch von Ameisenbären. Das sollte man eventuell bedenken, bevor man sich einen für den Campingplatz anschafft, um dort das Vorzelt frei von den kleinen Insekten zu halten. Je nach Quelle stinkt ein Ameisenbär zwischen vier- und siebenmal so heftig wie ein Stinktier. Die Frage, auf welcher mathematischen Grundlage Gerüche quantifiziert und multipliziert werden, war bei Redaktionsschluss allerdings noch ungeklärt.

Platz 3: Parmesan

Zweifelsfrei geklärt hingegen ist: Parmesan ist der Ameisenbär in der an erbärmlichen Gerüchen ohnehin nicht armen Käsewelt. Über Geschmack lässt sich streiten, doch wenn ein Essen 10 Meter gegen den Wind schon riecht als wäre es vor kurzem bereits einmal gegessen und hernach wieder auf den Teller gespien worden, kann es keine zwei Meinungen geben. Die Mahnung, nichts zu essen, was Andere schon im Mund hatten, bleibt ja nicht bei der konsequenten Vermeidung des Verzehrs von Zunge stehen. Zu Ende gedacht beinhaltet dieser Grundsatz, ein Gericht schon dann stehen zu lassen, wenn es bloß riecht als wäre es bereits einmal gegessen worden. Was geeignet ist, Tote aufzuwecken, gehört auf keinen Teller dieser Welt.

Platz 2: Tote Tiere

„Den hat Ihr Kollege das letzte Mal vergessen“, meinte die alte Dame, gerade als würde es sich um einen Stapel Altpapier handeln. Ein Kampfmittelräumdienst wäre für die Aufgabe, einen alten Fisch aus der Wohnung zu entfernen, vermutlich der geeignetere Ansprechpartner gewesen als ein armer Zivildienstleistender wie ich. Dass hier irgendetwas zum Himmel stinkt, wurde mir schon offenbar, als die Klientin mich an ihrer Wohnungstür begrüßt hat. Nicht dass Wohnungen von älteren Menschen grundsätzlich wohlriechende Salons wären, aber das Odeur dieser Wohnung war schon speziell.

Der Fisch stinkt vom Kopf her, sagt der Volksmund. In diesem Moment, als ich einsam mit diesem Fisch im Aufzug hinab fuhr, während andere Hausbewohner die Treppe bevorzugten, obwohl sie ursprünglich ebenfalls den Lift benutzen wollten, war mir egal, an welcher Stelle genau dieser Fisch irgendwann einmal angefangen hat zu stinken. Denn bei diesem Fisch drehten selbst die ansonsten stets sehr aufdringlichen metallic-lackierten Schmeißfliegen ab aus Sorge, sie könnten in eine tiefe Ohnmacht fallen.

Der Vorteil des Fisches immerhin: Er war genauestens zu lokalisieren. Das ist bei Ratten, die am eigens für sie ausgelegten Gift geknabbert haben, in der Regel nicht der Fall. Diese verziehen sich in den unzugänglichsten Ritzen des Hauses und fangen dort ohne große Rücksichtnahme auf das Geruchsempfinden der Menschen an zu verwesen. Letztere haben im Normalfall spätestens nach drei bis vier Tagen die Nase voll von dem Gestank und stehen vor der Entscheidung Umzug, Abbrennen des Hauses oder Anschaffung eines Ameisenbärs zwecks Geruchsüberlagerung.

Das klingt jetzt natürlich alles weniger dramatisch als es tatsächlich ist. Trotzdem ist in Sachen Geruchsbelästigung alles noch steigerungsfähig, sobald wir beginnen, über menschliche Verdauung zu sprechen.

Platz 1: Darmwinde und -ausscheidungen

Ein Kumpel fuhr eines Abends eine vierköpfige angetrunkene Meute nach Hause. Welche Gedankengänge meinen damaligen Mitbewohner zu der Entscheidung brachten, die Entlüftung seines Darms wäre eine angemessene Art, sich für die Mitfahrgelegenheit zu bedanken, wurde niemals geklärt. Jedenfalls war der letzte während dieser Fahrt geäußerte Satz meine Frage, wer oder was bitte hier aktuell so stinke. Danach hat für den Rest der Fahrt niemand mehr gewagt, überhaupt zu atmen. Hätte in dieser Situation jemand ein Streichholz gezündet, wären wir wahrscheinlich alle in die Luft geflogen.

Wenn allein ein trockener Furz eine solche Wirkung zu entfalten in der Lage ist, kann man das olfaktorische Potential von Fäkalien schon erahnen. Und ich habe vielleicht nicht alles gesehen, aber vieles. Mit Millionen anderen Menschen habe ich die Erfahrung gemacht, dass volle Windeln eines Säuglings mit jedem weiteren Mal ein kleines Stück ihres Schreckens verlieren. Wenn aber am Abend in der Kneipe am Tisch nebenan ein ausgewachsener Kerl in die Hose scheißt, ist das ein anderes Level.

Ich habe eklige Toiletten gesehen und benutzt. Auf Zeltplätzen, französischen Autobahnraststätten oder in Etablissements, in denen Punk-Konzerte veranstaltet wurden. Mancher dieser Eindrücke hat sich tief in mein Gedächtnis eingebrannt. Aber keiner dieser Orte hat so gestunken wie dieser Mann.

Hätte ich einen Eimer Essig zur Hand gehabt, hätte ich ihn mit Vergnügen im gesamten Schankraum verteilt.

Schwarz auf weiß

Grau ist alle Theorie: Dass der Mensch potenziell 2 Millionen unterschiedliche Farbtöne erkennen kann, bringt ihn im Arbeitsalltag eines Versandhandels für Bekleidung nur bedingt weiter, wenn man schon an den einfacheren Aufgaben scheitert und statt eines weißen T-Shirts ein schwarzes zur Auslieferung bereitstellt. Wird ein solcher Lapsus bei der Ausgangskontrolle übersehen, erlebt der Kunde später sein blaues Wunder. Erlangt der Lagerleiter, personell übrigens maximal übereinstimmend mit dem Verfasser dieser Zeilen, Kenntnis von einer solchen Fehlleistung, sieht dieser allein deshalb nicht rot, weil ihm in der Vergangenheit selbst schon dasselbe Missgeschick unterlaufen ist.

Wobei das Rot-Sehen an sich schon oft leichter gesagt als getan ist. Stiere zum Beispiel können kein Rot erkennen. Dies hat zwar, da ein Stier hierzulande nicht das typische Haustier ist, für die meisten Menschen eine nur geringe praktische Bedeutung. Allerdings kennt man ja die Bilder von Stierkämpfen, bei denen der Torero mittels eines roten Tuches die Aufmerksamkeit des Tieres auf sich lenken möchte. Entgegen der weit verbreiteten Annahme geschieht dies nicht durch die Farbe des Tuches, sondern durch das unruhige Herumwedeln damit. Theoretisch könnte der Matador also genauso gut mit einem gelben Tuch gestikulieren. Weil die Farbe Gelb unter anderem Lebensfreude symbolisiert, wäre das auch nur geringfügig zynischer als die ursprüngliche Tradition mit einem weißen Tuch.

Da jedoch nur eine verschwindend geringe Menge der hier Mitlesenden eine Karriere als Stierkämpfer anstreben dürfte, soll die Aufmerksamkeit wieder dem Lagergeschehen zugewendet werden: Wenn deutschlandweit jeder 20. von Farbenfehlsichtigkeit betroffen ist, wäre es eine Art statistischer Artefakt, wenn unter insgesamt inzwischen fast 40 Kollegen kein Farbenblinder vertreten wäre. Wenn ich die Häufigkeit von Fehlern zugrundelege, müssen sie bei uns sogar überrepräsentiert sein. Nach dem Motto „Nachts sind alle Katzen grau“ wird ohne Rücksicht auf Verluste das Lager kurz und klein kommissioniert. Wenn ein Artikel in der Farbe deep chocolate benötigt wird, kann man sich auch ohne intensives Begutachten des Artikelfotos wenigstens in etwa denken, dass ein cremefarbenes Teil nicht ganz der Bestellung entspricht.

Aber natürlich weiß selbst ein des Schwarz-Weiß-Denkens so kundiger Mensch wie ich, dass etliche Farbbezeichnungen nicht der Weisheit letzter Schluss sind und zu Verwechslungen geradezu einladen: Es gibt Sand, der so hell ist wie creme. Umgekehrt habe ich schon Cremes gesehen, die dunkler waren als jeder Sand.

Es gibt Flieder in allesamt tollen Farben, die sich voneinander allerdings so stark unterscheiden, dass die Farbbezeichnung flieder beim Wort genommen eigentlich mehr Unklarheiten schafft als beseitigt. Wenn man die verschiedenen Farben des Flieders kennt, kann man allein mit diesem Wissen gerade nicht intuitiv erfassen, welche davon gemeint ist, wenn jemand von fliederfarben spricht. Um mitreden zu können, muss man also zusätzlich wissen, welcher Ton dem Begriff zugeordnet ist. Dieser Logik folgend könnte man allerdings auch die Farbbezeichnung „Fleischwurst“ einem hellen Grau zuordnen. Nicht alle, aber einige Fleischwürste bilden dieses Grau ganz gut ab. Mit anderen wiederum kann man diese Farbe auf recht einfache Art simulieren: Man muss dazu lediglich an einem relativ warmen Sommertag morgens vergessen, die Wurst wieder kühl zu legen. Schon hat man abends nicht nur eine perfekte graue Fleischwurst, sondern gleichzeitig auch die Illusion, man könne Farben riechen.

Die Praxis mancher unserer Lieferanten, den Kunden regelmäßig Neues anbieten zu wollen und zu diesem Zweck vorhandene Farben minimal abzuwandeln und mit einer Bezeichnung mit dem Verwirrungsfaktor 11 von 10 zu versehen, macht die Lage in etlichen Fällen nicht direkt übersichtlicher. Kaum dass man sich an heather denim gewöhnt hat, präsentiert der Hersteller mit heather snow mid blue plötzlich dasselbe in Grün.

Manchmal freilich bringen auch die Lichtverhältnisse die Farben zum Tanzen. So kann ich mich an eine Hose erinnern, die im Schein des Lichtes bei TK Maxx so orange ausgesehen hat, dass ich dachte, wer die trägt, sollte aufpassen, dass ihm die Leute auf der Straße nicht noch Müllbeutel in die Hand drücken. Unter Tageslicht war davon nichts übrig, das satte Orange vielmehr einem herbstlichen rost gewichen. Es ist eben nicht alles Gold, was glänzt.

Am Rande erwähnt, wirken nach Erkenntnissen der Farbpsychologie Träger von orangener Kleidung nicht schlau. Menschen, welche die Ergebnisse dieser Studien ins Niederländische übersetzen, werden übrigens noch gesucht. Wer dagegen intelligent, seriös und selbstsicher wirken möchte, trägt schwarz. Rot wäre ebenfalls noch ein gangbarer Weg: Dominant, hoher Status, daher attraktiv wären die dazugehörigen Schlagworte.

Eigene Beobachtungen während des Tragens eines Nikolauskostüms ließen allerdings begründete Zweifel an der Validität dieser Untersuchungen aufkommen.

Man kann nicht alles haben

Bereits in frühen Kindheitstagen bekommen wir gelehrt: Wenn dieser Satz fällt, wird es unlustig, wird jemand zum Spielverderber, werden unpopuläre Entscheidungen verkündet und begründet. Sofern die weitere Entwicklung ansatzweise im Rahmen des Üblichen verläuft, geht diese Killerphrase wenig später allmählich in den eigenen Formulierungsschatz über. Weil man nicht alles haben kann, müssen politische Entscheidungsträger schon seit einigen Wochen das tun, was früher Papa vorbehalten war: äußerst unpopuläre Entscheidungen verkünden. Ohne die grundsätzliche Richtigkeit der allermeisten Maßnahmen zur Eindämmung dieses neuartigen Virus´ in Frage zu stellen, kann nach den ersten warmen Wochenenden des Jahres frei nach Loriot festgehalten werden: Ein Leben ohne Flohmarkt ist möglich, aber sinnlos.

Dennoch würde ich Stand heute wohl kaum mit wehenden Fahnen auf den erstbesten Basar stürmen, sobald auch hier die Beschränkungen wieder fallen. Dafür fehlt mir momentan schlicht und ergreifend das Vertrauen, dass Flohmarkt-Teilnehmer diesseits wie jenseits des Tisches Hygienekonzepte zu begreifen und sich daran zu halten in der Lage wären.

Mit etwas Abstand betrachtet, kann einem das Gedränge auf den Märkten schon unter völlig normalen Umständen den Spaß verderben. Gegenseitige Rücksichtnahme ist in diesem Treiben ähnlich gering ausgeprägt wie in einem x-beliebigen Supermarkt, wenn eine zusätzliche Kasse öffnet. Warum sollte in diesem Milieu etwas funktionieren, das schon in anderen Alltagssituationen nicht klappt?! Mir ist nach 48 Lebensjahren, erst recht aber nach acht Wochen Corona-Krise die Vorstellungskraft abhanden gekommen, dass ein Flohmarkt in Bezug auf die Einhaltung von Hygieneregeln exakt so ablaufen könnte, wie sich der Gesetzgeber das vorgestellt hat. Wo Händler einem im Brustton der Überzeugung erklären, den Radiowecker „heute früh noch zuhause getestet“ zu haben, während die Staubschicht auf dem Gerät verrät, dass es wohl eher seit Jahren nicht mehr angerührt wurde, bedarf es schon einer gehörigen Portion Fantasie, möchte man zu anderen Schlüssen gelangen.

Mit dieser Einschätzung gerate ich natürlich in Konflikt mit den gängigen romantisierenden Beschreibungen solcher Märkte. Da ist die Rede von einem Gegenentwurf zur Wegwerfmentalität, da wird das Flair des Flanierens gelobt, werden Rost und andere Gebrauchsspuren eines leblosen Gegenstandes zur Seele desselben verklärt. Wer möchte, kann diesen Narrativen weiterhin folgen. Mir persönlich sind Charme und Atmosphäre des Geschehens weitgehend egal. Wenn ich auf den Flohmarkt gehe, möchte ich sinnlos Geld ausgeben. Ich möchte Sachen kaufen, die ich nie vermisst habe, weil ich nicht ahnen konnte, dass es so etwas überhaupt gibt. Wenn man sowieso eigentlich alles hat, bleibt einem ja auch schon fast gar nichts anderes übrig. Das kaufentscheidende Kriterium ist nicht, ob ich das benötige. Solche Fragen zu klären ist später zuhause noch genügend Zeit. Mit solchen Fragen will ich mich nicht aufhalten, wenn ich gerade im Begriff bin, den Preis für eine CD eines schwarzen Rappers ´runterzuhandeln, auf der 50 Cent steht, für die der Verkäufer jedoch einen Euro haben will. Ich gebe zu: Diese Einstellung hat mich schon in die ein oder andere Verlegenheit platztechnischer Art gebracht. Von den Auseinandersetzungen mit meiner Ex-Gattin ganz zu schweigen. Meine Eltern hatten schon irgendwie Recht mit ihrer Behauptung, man könne nicht alles haben.

Bei einer meiner schönsten Flohmarkt-Anekdoten spielt allerdings nicht mein Konsumverhalten, sondern das einer anderen Person die Hauptrolle:

Mit meiner damals besten Freundin war ich wie beinahe jeden Samstagvormittag auf Schnäppchenjagd. Ich war ihr ein paar Meter voraus und achtete mit regelmäßigen Blicken nach hinten darauf, dass wir uns nicht aus den Augen verlieren. So konnte ich beobachten, wie sie an einem Stand stehengeblieben war und sich dort gerade eine Wollmütze überstülpte. Soweit für mich aus der Distanz zu erkennen, war diese wie gemacht für eine Angehörige der linksalternativen Szene: Individuell, dafür hässlich. Wenn der Preis stimmt, wird sie zuschlagen, dachte ich mir noch so, ansonsten aber weiter nichts. Nachdem sie mich wenig später wieder eingeholt hatte, wollte ich dann wissen: „Und..?“ Sie meinte, als sie nach dem Preis gefragt hatte, habe sie der Verkäufer leicht verlegen aufgeklärt, dass es sich bei der „Mütze“ eigentlich um einen Kannenwärmer handele. Mit diesem Insiderwissen hat sie anschließend von weiteren Verhandlungen lieber Abstand genommen.

Man muss ja auch nicht alles haben.

Ilja Rogoffs Hausapotheke

„Er macht das Gesicht strahlend, er vermehrt das Sperma, und er tötet Kleinwesen in den Därmen.“ Wo andere Männer an dieser Stelle müde abwinken und behaupten würden, sie hätten das alles nicht nötig, kann ich persönlich in noch mehr Glanz und Frische in meinem Antlitz zumindest keinen Nachteil erkennen. Andererseits darf man nicht erwarten, dass ein 48 Jahre alter Mensch mit durchschnittlich geschultem Misstrauen gegenüber solchen marktschreierischen Äußerungen sofort aufspringt und sich beim Rewe gegenüber ein Kilo Knoblauch holt, bloß weil er irgendwo gelesen hat, dieser würde die Quantität des Ejakulats positiv beeinflussen. Schließlich wird gerade bei sogenanntem Superfood schon seit einigen Jahren regelmäßig eine neue Sau durchs globale Dorf getrieben. An der gesunden Skepsis gegenüber Werbebotschaften ändert auch nichts, dass die obige nicht der Apotheken Umschau entnommen wurde, sondern dem Talmud.

Was wurde dem Knoblauch nicht alles schon nachgesagt: Er beuge Herz-Kreislauf-Erkrankungen vor und hemme das Wachstum von Bakterien und Pilzen. Gegen zu hohe Cholesterinwerte wurde er genauso eingesetzt wie gegen die Pest. Selbst Haarausfall wird seit dem Mittelalter bis heute mit der weißen Wunderknolle behandelt. Und seine blutdrucksenkende Wirkung ist meine tägliche Lebensversicherung im Straßenverkehr, beim Wocheneinkauf sowie auf der Arbeit.

Wie bei fast jedem beliebigen anderen Thema mischen sich auch bei diesem Superfood knallharte Fakten mit Aberglauben und fake news: In der Seefahrt war Knoblauch aufgrund seiner Haltbarkeit und seines Vitamin-C-Gehaltes ein unverzichtbarer Bestandteil des Kampfes gegen Skorbut. Dass er die Mannschaft auch vor Schiffbruch bewahren könne, gehört dagegen eher in die Kategorie Unbestätigte Gerüchte. Wohingegen wiederum die Annahme, Knoblauch würde das korrekte Arbeiten der Kompassnadel beeinträchtigen, immerhin nach einigen Jahrhunderten als Missverständnis beziehungsweise Übersetzungsfehler korrigiert wurde.

Wen wundert es da noch, dass auch etliche der behaupteten positiven Wirkungen auf die Gesundheit bis heute noch nicht durch seriöse Forschung ernsthaft bestätigt wurden?! Vielleicht noch tragischer: Die tatsächlich nachgewiesenen gesundheitsfördernden Effekte sind allesamt nicht unter zwei Zehen täglich zu haben. Eine Menge, die selbst manchen Fan des weißen Goldes zurückschrecken lässt.

Immerhin: Solange man unterhalb der in einer weiteren Untersuchung genannten Höchstmenge von vier Zehen bleibt, hat der Konsum des populären Zwiebelgewächses wenigstens keine gesundheitlichen Nachteile. Und wie wir alle wissen, ist das, was beim Thema Knoblauch polarisiert, nicht die Frage nach dem gesundheitlichen Nutzen, sondern der verräterische Geruch, der den Genießer nach dem Verspeisen noch eine gewisse Zeit lang begleitet.

So etwas musste ja kommen. In einer Welt, in der es nichts umsonst gibt, kann man nicht einmal von der Natur erwarten, ohne jedwede Gegenleistung ein gesundes, wohlschmeckendes Universalheilmittel zu erhalten. Die besondere Tragik liegt darin, dass der gleiche Inhaltsstoff, der antibakteriell wirkt und Bluthochdruck vorbeugt, Allicin nämlich, auch für den nicht eben beliebten Geruch verantwortlich zeichnet, den der gesundheitsbewusste Konsument nach der Mahlzeit wieder an seine Umwelt abgibt.

Knoblauch macht einsam. Auch wenn objektiv betrachtet von allen Gerüchen, denen wir im Laufe eines Tages ausgesetzt sind, die Wurzelknolle definitiv nicht das größte Problem darstellt, würden manche Menschen einen stark danach riechenden anderen Menschen deswegen nur allzu gern in eine Gefängniszelle stecken lassen, wenn der Geruch schon im Raum zu vernehmen ist, bevor der dazugehörige Mensch diesen überhaupt betreten hat.

Dabei hat der Geruch zweifelsohne seine Vorteile. Wer beispielsweise darunter leidet, dass seine Mitmenschen die in Zeiten neuartiger Viren gebotenen 1,5 bis 2 Meter Abstand partout nicht einzuhalten in der Lage sind, nehme morgens einfach eine angemessene Extraportion Knoblauchbutter auf den Toast. Danach funktioniert das. Gern geschehen.

Aber wenn das alle machen?! Dann hebt sich der Effekt zwar wieder auf, doch eine Sache bleibt: Schwedische Forscher haben herausgefunden, dass Knoblauchgeruch nicht nur Kollegen, Vampire und andere Nervensägen auf Distanz hält, sondern auch Zecken. Hat man sich erst einmal an den Gedanken gewöhnt, dass selbst diese würdelosesten aller Lebewesen sich einen kleinen Rest Anspruch bewahrt haben, kann man sich diesen Effekt zunutze machen. Eine durfte Sache. Bevor Deutschland jetzt allerdings die Nudeln beiseite schiebt, um Platz für größere Mengen Knoblauch zu schaffen, sollte noch zweierlei beachtet werden: Zum einen lässt sich die Anzahl der eingefangenen Parasiten dadurch nur reduzieren und nicht völlig vermeiden. Zum anderen muss unbedingt beachtet werden, dass Knoblauch für Hund und Katzen hochgiftig bleibt und deshalb auf gar keinen Fall als Impfstoff gegen Zecken missbraucht werden darf!

Eine immens wichtige Frage, die viele Menschen umtreibt, wäre noch zu klären. Um die Antwort vorwegzunehmen: Ja. Männer, die Knoblauch gegessen haben, werden von Frauen attraktiver eingestuft. Um dies herauszufinden, haben Wissenschaftler der Universität Prag vor einigen Jahren Männern Pads unter die Achseln geklebt und von Frauen beschnuppern lassen. Das hört sich pervers an und ist es vermutlich auch irgendwie, passt aber immerhin in Zeiten, in denen Textilien, die man zuvor an den Füßen getragen hat, zu Mund-Nasen-Masken umfunktioniert werden. Obwohl also die Grenzen des guten Geschmacks gerade neu ausgelotet werden, könnte man nachvollziehen, wenn das Vertrauen in solche Untersuchungen nicht bei allen so ausgeprägt ist wie man sich das eventuell wünschte. Daher seien hier Milch und Petersilie als zwei der bewährtesten Maßnahmen gegen Knoblauchgeruch genannt, falls man wieder ´mal nicht auf die Portion Tsatsiki vor dem Date oder dem Zahnarztbesuch verzichten konnte. Auch diese Angaben sind jedoch ohne Gewähr.

Alle, die vor einem wichtigen Treffen noch Gelegenheit haben, über ihr Mittagessen nachzudenken, kann als Alternative der inzwischen in den Mainstream der deutschen Küche gelangte Bärlauch ans Herz gelegt werden, bei dem die Ausdünstungen hinterher nicht so extrem sind. Die Knoblauchsrauke wird ebenfalls gern als Ersatz genannt, wobei man davon schon acht komplette Pflanzen essen muss, um von dem typischen Aroma überhaupt etwas zu spüren. Nicht zuletzt gibt es wohl noch mindestens eine weitere Alternative, über die ich jedoch gar nicht viel sagen kann außer dass mir bei einem Gewürz, dem man den Namen „Teufelsdreck“ gegeben hat und über das man in der Wikipedia lesen kann, dass es in der frühen Neuzeit als übelriechendes Kampfmittel eingesetzt wurde, dann doch irgendwie das Grundvertrauen fehlt, in die Materie ´mal so eben ´reinzuschnuppern.

Zum Schluss noch eine gute Nachricht für alle, denen der Knoblauch hier unterm Strich trotz allem zu schlecht wegkommt: Knoblauch kann beitragen, den Klimawandel zu verlangsamen. Zu diesem Zweck entwickelte eine Schweizer Firma einen Futterzusatz für Rinder mit Allicin als wesentlichem Bestandteil. Mithilfe dieses Zusatzes würde das Rülpsen von Kühen und damit zugleich der Ausstoß des klimarelevanten Gases Methan deutlich verringert. Zudem halte der Knoblauchgeruch die Fliegen fern, was für die Tiere weniger Stress bedeute. Auch hier gelingt es also, mittels Knoblauch mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.

Irgendwie scheint sich der Kreis hier zu schließen.

Irgendwas ist immer

Irgendwann reicht es dann aber auch wieder. Es gibt ja bei Neuanschaffungen immer diesen Punkt, an dem die erste Euphorie in Ernüchterung umschlägt, weil die Ahnung, dass damit längst nicht alles so geil ist oder zu werden verspricht wie erwartet, durch Gewissheiten abgelöst wird. Jeder Fußballfan wird das bestätigen, hat man doch oft genug erleben müssen, dass ein mit reichlich Vorschusslorbeeren zum Lieblingsverein gestoßener Spieler sich schon beim ersten Spiel für weitere Einsätze hinreichend disqualifiziert hat. Das schlimmste – nebenbei bemerkt – ist dann auch weniger das herausgeworfene Geld, sondern dass dann die Skeptiker aus ihren Löchern kriechen und triumphierend erklären, dass sie es ja von Anfang an gesagt haben. Selbst wenn sie das auch bei dem Stürmer, der die favorisierte Mannschaft vorletzte Saison ins Endspiel geschossen hat und in der selben Zeit zum Nationalspieler gereift ist, ebenfalls von Beginn an gesagt haben.

Dass Stimmungen derart kippen, kann man aber auch an wesentlich profaneren Dingen beobachten: Paarbeziehungen sind beispielsweise so ein Fall, bei dem oft nach einigen Wochen festgestellt wird, dass nicht alles Gold ist, was glänzt. Bei anderen Menschen sind es Kinder oder Haustiere, die nach einiger Zeit die nervöse Suche nach dem Ort auslöst, an dem man den Kassenzettel aufbewahren wollte. Und um nach langer Vorrede endlich aufs Thema zu kommen: Bei meinem neuen PC war dieser „Irgendwann“-Zeitpunkt nach etwa 20 Sekunden erreicht. Als ich nämlich feststellen musste, dass man sogar Maus und Tastatur in die verkehrte Buchse stecken kann. Die spätere Feststellung, dass sie doch in exakt den Anschlüssen funktionieren, in denen sie ursprünglich den Dienst verweigerten, stimmte mich nicht unbedingt milder. Man muss das alles nicht verstehen, aber für den angenommenen Fall, jemand hätte mir in diesem Moment angeboten, das Aufstellen des neuen Rechners für mich im Tausch gegen eine Woche Arbeit im Steinbruch zu übernehmen – lange hätte ich nicht gezögert und den Deal eingetütet. Solche Gelegenheiten bekommt man nicht alle Tage.

Wenn also zunächst der ursprünglich angedachte Monitor aufgrund von Anschlüssen, die offenbar nicht mehr state of the art sind, gegen einen – zum Glück vorhandenen – kleineren getauscht werden muss; wenn nach Lösen der Tastatur-und-Maus-Problematik noch der Drucker durch alle vorhandenen Buchsen versucht werden muss und wenn wir bei alledem über die nicht funktionierenden Lautsprecher noch nicht einmal gesprochen haben, darf es nicht überraschen, wenn das gute Teil zu jenem Zeitpunkt als heißester Anwärter auf den Titel „Sinnlosester Kauf des Jahres“ galt. Nur fürs Protokoll: Wer denkt sich so etwas aus, dass es im Jahr 2020 Desktop-PCs zu kaufen gibt, die kein WLAN an Bord haben? Was bei Kaffeemaschinen und elektrischen Zahnbürsten inzwischen fast Standard ist, wird bei einem PC zum Nice-to-have degradiert. Da sich aber das Angebot immer wenigstens zum Teil an der Nachfrage orientiert, kann man da wohl nichts ändern. Irgendwas ist immer. So geht Stoizismus im 21. Jahrhundert.

Mit Ende 40 nähert man sich ja allmählich dem Alter, in dem man sich ohnehin bei so mancher Anschaffung, die für einen längerfristigen Zeitraum gedacht ist, die Frage stellen muss: Lohnt sich das überhaupt noch? Oder wird einem noch vor Ablauf der Gewährleistung der Stecker gezogen und man geht endgültig offline? Wenn man dieser Zielgruppe angehört, lernt man Produkte zu schätzen, bei denen man nicht noch auf irgendetwas warten muss, bevor man das Zeug auch tatsächlich nutzen kann.

Außer an den geschilderten PC-Erfahrungen habe ich das auch noch gemerkt, als ich – ebenfalls diese Woche – mehrfach auf die Leiter geklettert bin, um alle Rauchmelder abzudecken, weil die bei Norma erstandenen Eisenpfannen vor dem ersten Schwung Bratkartoffeln noch eingebrannt werden wollten. Wie bei so vielem in diesen Zeiten, bleiben Fragen. Zum Beispiel: Wäre es nicht eine innovative Geschäftsidee, wenn eine Eisenpfanne bereits eingebrannt in den Handel gelangen würde? Oder: Wenn es Leute gibt, die gegen entsprechendes Entgelt Computer aufstellen, und Imbisse, die dem Konsumenten selbst das Aufwärmen von Fertiggerichten noch abnehmen, damit das Thema Warten gegessen ist, warum gibt es dann in dieser Servicewüste keine Menschen, die Pfannen einbrennen, Schuhe einlatschen, Kreuzworträtsel lösen und Puzzles zusammenfügen oder die kleinen Aufkleber von Playmobil akkurat auf die passenden Teile der Ritterburg kleben?

Vielleicht ist mein Verlangen, umgehend loslegen zu wollen, sogar der eigentliche Grund, weshalb ich inzwischen lieber Kleidung shoppe als technisches Gerät. Doch selbst die neue Garderobe soll vor dem ersten Tragen gewaschen werden. Bereits gewaschene Kleidung findet man auf dem Markt für Gebrauchtes, wenngleich hier wiederum andere Gründe für ein vorheriges Waschen der neuen Lieblingsstücke sprechen. Neben Flohmärkten haben sich bei mir im Laufe des letzten Jahres insbesondere die Kleiderläden des DRK als Bezugsquelle für allerlei schickes Inventar im Kleiderschrank etabliert.

Wenn man den Tatsachen ins Gesicht sieht, erkennt man zwar, dass dort drei Viertel der feilgebotenen Ware exakt den Vorstellungen entsprechen, derentwegen man an solchen Läden normalerweise vorbeigeht. Wenn man allerdings den Aufwand nicht scheut, das restliche Viertel zu begutachten, kann man hier und da echte Perlen herausfischen, die auch dem Budget eines Lageristen gerecht werden.

Man sollte sich jedoch davor hüten, die dort lauernden Fallstricke zu ignorieren. Wenn man zum Beispiel ein wirklich edles Teil zum kleinen Preis in der Hand hält, das allerdings eine kleine Macke hat, kann man sich mitunter selbst dabei ertappen, wie man wichtige Fakten einfach übergeht, weil man die Realität eben so sehen möchte, wie sie leider nicht ist. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, ignoriert man einem Verschwörungstheoretiker gleich sämtliche Warnungen der Begleitung, der Fleck werde sich höchstwahrscheinlich nicht ´rauswaschen. Machen wir uns also nichts vor: Nur die allerwenigsten Teile, die dort hängen und liegen, sind nicht gewaschen. Wenn der Fleck also beim Waschen ´rausgehen würde, wäre er sehr wahrscheinlich aktuell nicht zu sehen.

Ein ebenso häufig benutztes Element der Selbstbeschwörung ist die Formel „Das sieht man kaum“. Denn um sich selbst zu vergewissern, dass man das kaum sieht, achtet man bei jedem Tragen permanent darauf und lenkt damit überhaupt erst die Aufmerksamkeit aller anderen auf den manchmal tatsächlich kaum sichtbaren Mangel.

Das sind bei weitem nicht die einzigen Fehler, die man machen kann. Besonders bewährt hat sich auch das bewusste Unterschätzen etwaiger noch aufzuwendender Arbeit. Sprich: Man weiß im Grunde sehr genau, dass sich die fünf Minuten, die man für das Nachbessern der Naht an dieser einen Stelle veranschlagt, in Wahrheit auf 30 Minuten ausdehnen werden. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass es manchmal bloß Sekunden dauert, bis man aufgrund unvorhergesehener Zusatzaufgaben so genervt ist, dass man den ganzen Kram am liebsten durchs Fenster auf die Straße befördern möchte, können 30 Minuten eine äußerst lange Zeitspanne sein. In solchen Situationen unterscheidet sich eine Nähmaschine nicht fundamental von einem neuen PC. Und ob das Fenster geöffnet oder geschlossen ist, macht da nebenbei bemerkt ebenfalls schon fast keinen Unterschied mehr. Zum Deeskalieren solcher Situationen bin ich – womöglich aufgrund nie aufgearbeiteter Aspekte frühkindlicher Sozialisation – tendenziell ungeeignet.

Doch bevor der Eindruck entsteht, beim Einkaufen in diesen Geschäften handele es sich um eine komplett spaßbefreite Angelegenheit – mit der überwältigenden Mehrheit der erstandenen Dinge bin ich auch nach einiger Zeit noch absolut zufrieden. Speziell mit Umhängetaschen, bei denen ja die beim Shoppen nicht eben selten auftretende Begleiterscheinung des „Wenn ich noch zwei Kilo abnehme, passt das perfekt“ entfällt, habe ich beste Erfahrungen gemacht.

Und manchmal bekommt man auch großes Tennis geboten, ganz ohne etwas Passendes gefunden zu haben. So wird in einem dieser Läden das Stöbern von einem jeden Winkel der Räumlichkeiten durchdringenden beständigen Lamento einer ehrenamtlichen Mitarbeiterin begleitet, dass dieses und jenes hierhin und nicht dorthin gehört und überhaupt und so. Wenn die ´mal nicht anwesend ist, fällt diese angenehm entspannte Ruhe direkt auf. Und in dieser beinahe meditativen Stimmung fällt mir dann regelmäßig auf, dass es meinen Kollegen mit mir wohl exakt genauso geht.

Zum Glück fällt mir dann aber nach kurzer, aber angemessener Zeit, in der ich sogar einen Moment lang darüber nachgedacht hatte, die Intensität meiner Reaktionen auf Unbill jeglicher Art zugunsten eines ausgeglicheneren Blutdrucks in Zukunft etwas herunterfahren zu wollen, wieder ein: Es macht einen Unterschied, ob unwissende Kunden Unordnung in einer im Grunde nachvollziehbaren Ordnung verursachen oder die eigenen Kollegen. Das Weltbild ist wieder gerade gerückt. Und man ist obendrein noch gut gekleidet dabei.

Insofern ist auch ansonsten alles wie immer. Denn man muss es vielleicht von Zeit zu Zeit nochmal erwähnen: Wenn das die größten Sorgen sind, gibt es eigentlich keinen Grund zu klagen.

Stadtrundfahrt

Jucken, Husten, Niesen, Kotzen, Brechen, Pissen – oder wie wahrscheinlich die meisten Leute spontan assoziieren: Feierabend eben. Das distinguiertere Publikum weiß natürlich, dass es sich hierbei um eine Auswahl der schönsten Ortsnamen handelt. Mit anderen Worten: Die Richtung ist nach zwei Sätzen schon ´mal vorgegeben; selten habe ich in nur einem einzigen Text so dermaßen viel unnützes Wissen versammelt wie diesmal.

Da wir bekanntlich alle zunächst klein anfangen, beschränkte sich meine Kenntnis unangebrachter Ortsnamen lange Zeit auf die Beispiele vor der eigenen Haustür: Linsengericht oder Wixhausen wären die Namen, die in diesem Zusammenhang zu nennen wären und dabei durchaus Maßstäbe gesetzt haben. Kennzeichnend für beide: Es reicht, daran vorbei gefahren zu sein, um den Verdacht aufkeimen zu lassen: Schön im Sinne von „Hier möchte ich mich niederlassen“ ist das nicht. Man muss nicht dort gewesen sein, um das zu spüren.

Nein, es gibt wirklich Orte in diesem Land, die außer für Sammler ausgefallener Ortsschilder nur mäßig einladend sind. Das wäre nicht weiter tragisch, gäbe es nicht Menschen, die dort ständig leben müssen. So steht beispielsweise zu vermuten, dass man im unterfränkischen Erlenbach sämtliche Nuancierungen des Gags „Entschuldigen Sie bitte, ich suche Streit“ bereits zigtausendfach gehört hat, wenn sich wieder ´mal jemand auf dem Weg in den Ortsteil mit gleichlautendem Namen befindet. Auf lange Sicht ist da selbst Schöntrinken der Situation zum Scheitern verurteilt. Die Leute haben einfach Pech. Doch nur wer das zweifelhafte Vergnügen hat, im beschaulichen Örtchen Pech etwas südlich von Bonn zu wohnen, ist echten Kummer gewohnt. Andererseits kann aber eben auch nicht jeder auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Dieses Schicksal teilen die 2700 Einwohner von Pech mit denen aus Einöd, wo der Name vermutlich auch Programm ist. Wenn man ein wenig herumkommt, entdeckt man viel Elend in deutschen Landen. Fast erwartungsgemäß im Osten der Republik etwas häufiger, weil man dort immer noch vergeblich auf die versprochenen blühenden Landschaften wartet. Es sollte also nicht überraschen, dass dort tatsächlich ein Dorf mit Namen Elend real existiert. Und irgendwie sieht es auch tatsächlich so aus. Kein Ort zum Verweilen. Das ist so ein Ort, bei dem man für gewöhnlich damit rechnet, nach der nächsten Kurve auf das Ende der Welt zu treffen.

Nicht ganz das Ende der Welt, aber dicht dran ist die Ortschaft Ende. Es leuchtet direkt ein, dass bei so einem Namen stets etwas schwierig zu beurteilen ist, auf welcher Seite des Ortsschildes man sich gerade befindet. Damit nicht genug: Einmal verkehrt abgebogen, befindet man sich schnell wieder am Anfang von Ende.

Man weiß ja, dass bei der Namensgebung für Ortschaften überlieferte historische Begebenheiten eine Rolle spielen. In manchem der genannten Fälle möchte man über die Details eventuell auch lieber nichts genaueres erfahren. Und was dem einen recht ist, ist dem anderen billig. Denn auch viele Straßennamen entstanden nach diesem Prinzip. Dass sprachliche Finessen bei der Namensgestaltung tendenziell nicht zu erwarten sind, weiß man nirgends besser als in Mannheim. Wer in der dortigen Innenstadt unterwegs ist, muss sich an Adressen wie D 8, 14 gewöhnen. Das ist nicht schön, aber praktisch. Und wer einmal einer Horde Mannheimer Fußballfans begegnen durfte, ahnt, dass sich die Stadt bei dieser Praxis ziemlich exakt an den intellektuellen Fähigkeiten seiner Ureinwohner orientiert hat. Zugegeben: Das System ist nachvollziehbar und mitnichten so chaotisch, wie es dem ersten Anschein nach wirkt. Bloß: Originell ist das nicht. Okay – Hammelstall als Adresse zeugt nun auch nicht direkt von ausgeprägter Fantasie. Zumindest aber unterstelle ich den Leuten, die für solche Straßennamen verantwortlich zeichnen, dass sie sonst in ganzen Sätzen sprechen oder zumindest in der Lage wären, es zu tun.

Klar gibt es eine Reihe von Straßennamen, die Fragen hinterlassen: Länge Breite gehört zum Beispiel in diese Kategorie. Wenn nicht klar ist, ob die Hausnummer sich dann auf die Länge oder die Breite der Straße bezieht und ob nicht vielleicht zu jeder Adresse dort streng genommen zwei Hausnummern gehören, müssen sich die Verantwortlichen kritische Fragen gefallen lassen. Nicht viel besser: Lange Länge. Selbst wenn vorab geklärt wäre, was demgegenüber eine kurze oder wenigstens eine normale Länge und ab wann also eine Länge wirklich lang ist, bliebe immer noch die Frage, welches Klientel man davon überzeugen möchte, ausgerechnet in dieser Straße sein Quartier aufzuschlagen.

Körperteile wie Ellenbogen oder Am Knie bezeichnen mit großer Wahrscheinlichkeit Gassen mit mehr oder weniger ausgeprägtem Knick. Auf ungefähr halber Länge, denn sonst hätte man sie Stiefel, L oder meinetwegen gleich Hockeyschläger nennen müssen. Auch bei Am Sack kann man sich mit nur ein wenig Sprachgefühl erschließen, dass es sich um eine kurze Straße mit Zufahrt nur auf einer Seite handelt. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass insbesondere das letztgenannte Beispiel als Wohnadresse deutlich weniger Glamour verspricht als Parkstraße oder Schlossallee.

Auch Bunte Kuh, Schwarzer Bär oder Witte-Wie klingen nicht gerade nach der ersten Liga deutscher Wohngegenden. Das kann, muss aber nicht zwingend gleich ein Grund sein, deswegen auf die Straße zu gehen. Für manchen macht gerade das charmant Unprätentiöse eine Straße wie Rutschbahn zur Top-Adresse. Naturverbundene wissen womöglich eine Straße namens Ast als Adresse zu schätzen. Und eigentlich wäre es nur konsequent, in dieser Straße keine Reihenhäuser zu errichten, sondern individuelle Baumhäuser, um Amsel, Drossel, Fink und Star und meinetwegen auch dem Rest der Vogelschar so nahe wie möglich zu sein. Und wer mag, findet sogar in der Einhornallee seinen Seelenfrieden. Denn am Ende landen wir ohnehin alle auf dem gleichen Acker und niemand fragt danach, ob man einen Bewohner von Pissen als Pissener oder als Pisser ansprechen soll. Daher sollte sich niemand seiner Herkunft wegen zu schämen brauchen.

Wenn man so will, also nicht einmal Mannheimer.

Übung macht den Meister

Wenn man jede einzelne Entscheidung seines Lebens auch nach Jahren noch plausibel begründen können müsste, käme ich spätestens dann in arge Erklärungsnöte, wenn man mich auf Eierlikör anspräche.

In meiner Erinnerung verbinde ich mit Eierlikör Kaffeekränzchen mit Tanten und anderen älteren Damen, die Hildegard, Mathilde oder Gertrud heißen. Als Getränk muss man sich schon anstrengen, um ein schlechteres Image zu haben als Eierlikör. Wäre das Zeug nicht Bestandteil unzähliger Backrezepte – längst hätte man es zu Recht vom Markt nehmen müssen. Eierlikör – das überflüssigste Getränk der Welt.

Was genau meinen Kumpel und mich seinerzeit – gute dreißig Jahre mag das inzwischen her sein – veranlasste, unserer Band den Namen „Eierlikör“ zu geben, ist aus heutiger Sicht schwierig nachzuvollziehen. Zu vermuten ist, dass wir ihn lustig fanden. Jedenfalls bekam ich an diesem Abend das erste Mal in meinem Leben eine Ahnung, was es bedeutet, wenn man von einer Schnapsidee spricht. Als ich Jahre später auf eine Kapelle mit Namen „Gelbwurst“ traf, lernte ich: Man muss es manchmal eben einfach durchziehen.

Wir allerdings blieben wie viele andere Gleichaltrige regelmäßig auf der Ebene „Man müsste mal…“ stehen. Da interessieren Fragen wie der Name des Projektes einfach mehr als so nebensächliche Aspekte, wer ein Instrument besitzt und dieses eventuell sogar bedienen kann.

Weil solche Fragen sekundärer Natur waren, hätten wir im Grunde genommen auch einen Verein statt einer Band gründen können, um unser vorrangiges Ziel umzusetzen: einen Rahmen für – meist – sinnlose Besäufnisse zu generieren.

Scheinbar weil ich geringfügig mehr als meine Kumpels wenigstens den Anschein hinterließ, ich sei bereit, die Musikantenkarriere einfach ´mal durchzuziehen, bekam ich wenige Monate nach Gründung dieses ersten Bandprojektes von ebendiesen Freunden eine Gitarre geschenkt. Wie man so ein Ding hält, hatte ich schon einmal gesehen, und da alle sechs Saiten aufgezogen waren, hätte ich theoretisch sofort loslegen können. Allerdings befanden wir uns vor 30 Jahren in der wenig komfortablen Situation, dass es kein Internet, kein Youtube oder irgendwas in der Art gab, das mir kostenfrei den Einstieg erleichtert hätte. Da ich aber mein Taschengeld lieber für Musik von Leuten ausgab, die ein Instrument wenigstens insoweit spielen konnten, dass man daraus so etwas wie einen Song heraus hören konnte, blieb für gescheiten Unterricht kein Geld mehr übrig. Genau genommen gab ich auch nur den Rest meines Geldes für Tonträger und Live-Erlebnisse aus. Das Gros nämlich floss in die Hardware für unsere – meist – sinnlosen Besäufnisse.

Mir blieb der Gang in die Stadtbücherei, und mit einem Lehrbuch ausgestattet kam ich zurück. Ich tat wie mir darin befohlen, und es klang scheiße. Beziehungsweise hatte ich nicht einmal eine Ahnung, wie es hätte klingen sollen. Begleit-CDs waren damals Luxus, nicht Standard. Ich musste einsehen, dass mein Spiel auf der Gitarre auf diese Weise nicht besser wurde. Fast folgerichtig kam danach viele Jahre nichts. Jahre, in denen ich zwar auf der Gitarre nichts lernte, in denen ich aber vieles anderes lernte. Zum Beispiel: Gitarre spielen ist cool. Etliche Gitarristen sind aber nicht cool. Viele Gitarristen sind arrogant. Manche Gitarristen sind peinlich. Peinlich zum Beispiel dann, wenn sie die kompletten drei Stunden bis zum Beginn ihres Gigs im örtlichen Jugendzentrum ihre Klampfe umhängen lassen, um auch dem letzten im Saal zu signalisieren, wie ungeheuer wichtig sie für das weitere Geschehen sind. Uncool sind auch Frauen, die sich von solchem Gehabe trotzdem beeindrucken lassen. Und ich lernte, dass man fünf Mark Eintritt sparen kann, wenn man mit einem leeren Gitarrenkoffer wie selbstverständlich am Einlass vorbei spaziert. Die freie Hand dabei noch lässig zum Gruß in Richtung Kassierer gehoben, wird niemand daran zweifeln, dass man zum Ensemble gehört.

Da man im Laufe eines durchschnittlichen Lebens üblicherweise erwachsener wird, sinkt irgendwann der Stellenwert von – auch selbst gemachter – Musik bei den meisten Menschen. Entsprechend viele Gitarren werden in die Keller und Dachböden verbannt. Manche immerhin dienen im Haushalt noch als Dekorationselemente. Was bei mir nicht anders war.

Erst etwa fünfzehn Jahre nach dem allerletzten der – meist – sinnlosen Besäufnisse startete ich einen neuen Anlauf. Ich war inzwischen 43 und von der Mutter meines Sohnes noch relativ frisch getrennt. Da darf man auch ´mal überlegen, wohin man im Leben noch möchte. Um den Neuanfang zu unterstreichen, sollte es ein neues Instrument sein.

Seitdem habe ich zwei Gitarren als Dekorationselemente in der Wohnung herumstehen.

Immerhin aber hatte ich wiederum einiges gelernt:

a) Selbst mit 43 Jahren kann es passieren, dass man den beim Erlernen eines Instrumentes nicht ganz unerheblichen Faktor Zeit unterschätzt.

b) Da das Internet nicht nur randvoll mit Tipps und Tricks und Tutorials für Anfänger des Gitarrespielens ist, findet man sich schnell auf Seiten mit Tipps und Tricks und Tutorials in Sachen Zeitmanagement wieder.

c) Die meisten Ratschläge in Sachen Zeitmanagement sind für Normalsterbliche Zeitverschwendung.

Nachdem ich also eine Weile damit verbracht hatte, zu überlegen, welche meiner täglichen Aufgaben ich delegieren könnte und vor allem an wen überhaupt, kam ich zu dem Ergebnis, dass mein Spiel auf der Gitarre auf diese Weise ebenfalls nicht besser würde. Die Kapitulation: Den Stau an unerledigten Aufgaben in Haushalt und Hobby würde ich nicht durch das Beginnen weiterer zeitintensiver Hobbys auflösen. Ich benötigte keine Strategien, Zeit sinnvoll einzuteilen. Ich benötigte mehr Zeit. Wenn das nicht ging, benötigte ich weniger Hobbys.

Auch wenn sich an diesem Grundzustand bis heute nichts geändert hat, war ich vor einem halben Jahr so wahnsinnig, mich bei der Volkshochschule für einen Anfängerkurs anzumelden. Dieser Rahmen schien mir geeignet, zu überprüfen, ob das mit mir und meiner Gitarre noch eine Zukunft haben kann. Wenn ich es nicht schaffen würde, regelmäßig zu üben, obwohl ich dann vor Kursleiter und anderen Teilnehmern als der Idiot dastehe, der dauernd seine Hausaufgaben nicht macht, würde ich dieses Engagement in diesem Leben auch sonst nicht aufbringen. Also angemeldet, bevor der Kurs am Ende schon voll ist.

Eine Woche vor dem ersten Termin wurde meine Motivation leicht gebremst: Mangels Masse an Teilnehmern fiel der Kurs aus.

Es scheint zu meinen wenigen Kernkompetenzen zu gehören, mich immer wieder für Volkshochschulkurse anzumelden, die nicht zustande kommen. Das mag daran liegen, dass ich mich tendenziell für abseitigere Themen begeistern kann: Lachyoga, Körpersprache, Clownsworkshop – alles Beispiele aus den letzten Jahren, auf die sich eben außer mir nicht genügend Andere gefreut hatten. Ich warte darauf, bis mir die VHS irgendwann vorab ihr Kursprogramm vorlegt und alles, was mich interessiert, wegen zu geringer Erfolgsaussichten umgehend aus dem Verzeichnis streicht.

Steuerrecht für Selbstständige hatte stattgefunden. Dort habe ich seinerzeit meine Vermögensberaterin kennengelernt – eine Information, die für diesen Text freilich nur insofern relevant ist als ich gerne noch folgende Anekdote unterbringen wollte: Wer über meine Vermögensverhältnisse nur ansatzweise Bescheid weiß, ahnt bereits, dass die Kombination ich und Vermögensberatung keine weitere Pointe benötigt. Die Durchsicht meiner Unterlagen wird ihr die Tränen in die Augen getrieben haben. Trotzdem melden sich bis heute alle paar Jahre fremde Menschen bei mir, weil sie den Kundenstamm von jemand übernommen haben, der zuvor mit mir in etwa so viel Glück gehabt hat wie ich mit meinen Anmeldungen zu VHS-Kursen. Weil der Kurs „Ich lerne, Nein zu sagen“ seinerzeit nicht stattgefunden hat, ermögliche ich dann einen Termin. Dass ich hinterher in der Regel nichts mehr von diesen Leuten höre – nennen wir es Zufall.

Man könnte nun in Versuchung geraten, darüber zu sinnieren, ob das Schicksal es für mich vielleicht nicht vorgesehen hat, Gitarre zu spielen, sondern mein Talent eher bei solchen Dingen wie Schreiben aufgehoben sieht. Trotzdem habe ich es wieder probiert. Ein Semester später. Wir sind im Jetzt angekommen. Der erste Termin fand an einem Mittwochabend im März statt. Ein neuartiges Virus sorgte anschließend dafür, dass bis auf weiteres kein weiterer Termin stattfindet.

Gemessen daran, welche Einschränkungen diese spezielle Situation uns noch abverlangt, gehört ein Gitarrenkurs zu den letzten Dingen, die mich in Aufregung versetzen. Nachdem ich dreißig Jahre darauf gewartet habe, mit dem Lernen richtig anzufangen, kommt es auf ein halbes Jahr dann nun wirklich nicht mehr an. Worauf es ankommt: die Krise irgendwie solidarisch zu überstehen. Dass selbstgemachte Musik ein kleiner Bestandteil solcher Praktiken sein kann, zeigt das Phänomen der Balkonkonzerte. Mangels Balkon und mangels Können wird mein Wohnumfeld auf meinen Beitrag dazu allerdings verzichten müssen. Auf eine Neuauflage dieser Erscheinungen zu einem späteren Zeitpunkt würde ich im Sinne der Allgemeinheit trotzdem sehr gern verzichten. In diesem Sinne: Alles wird gut!

Nüsse für Deutschland

Wenn man sich auf der Arbeit die Frage „Was mache ich hier eigentlich“ stellt, lag bis vor ein paar Tagen die Erklärung nahe, der normale Wahnsinn des betrieblichen Alltags hätte dieses Grübeln ausgelöst. Nach neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen kann es allerdings auch einfach bedeuten, dass Frühstück oder Pausenbrot zu fettig gewesen sind. Eine Studie einer australischen Universität nämlich stellte kürzlich genau dieses fest: Lebensmittel mit hohem Anteil an Zucker oder gesättigten Fetten machen nicht nur dick, sondern auch vergesslich.

So ändern sich die Zeiten. Früher musste man noch regelmäßig Alkoholika konsumieren, um die Hirnleistung zu drosseln. Heute reicht dazu eine Packung Chips am Abend.

Ich dachte mir noch, es könne unmöglich ein Zufall sein, dass ich eine solche Meldung lese, während ich mir gerade den dritten Kreppel des Tages ´reinzimmere. Jedoch hatte ich aus irgendeinem Grund ein Biss-chen später schon wieder vergessen, was genau mir eigentlich mein schlechtes Gewissen verschafft hatte.

Als ich die Meldung also ein zweites Mal las, kam auf einmal Neid in mir auf. Milchshakes und belgische Waffeln zum Frühstück! Ein Forschungsdesign, wie ich es selbst nicht hätte besser entwerfen können! Warum darf ich nicht ´mal an einer solchen Studie teilnehmen?

Schon seit Jahrzehnten suche ich nach einer angemessenen Möglichkeit, mich beziehungsweise meinen geschundenen Körper in den Dienst der Wissenschaft zu stellen. Ich verehre die Wissenschaft. Sie hat uns segensreiche Erfindungen wie Buchdruck, Tonträger und das world wide web beschert. Zwar wurden auch etliche Erfindungen und Erkenntnisse mit fragwürdigem (z.B. Flugpanzer) oder unanständigem Nutzen (Atombomben) hervorgebracht. Gelegentlich gingen den Ingenieuren auch komplett die Gäule durch; das Resultat waren Dinge wie Indoor-Sonnenuhren oder Badewannen mit Tür. Aber in letzter Konsequenz speist sich aus der Tatsache, dass sich solcher Klimbim am Ende nicht durchgesetzt hat, die Hoffnung, die Gesellschaft stehe eventuell doch nicht ganz so dicht am Abgrund wie man manchmal vermuten könnte.

Dass wir durchschnittlich immer älter werden – ein Verdienst der Wissenschaft. Dass wir manchmal keine vernünftige Antwort mehr darauf geben können, warum man so alt werden sollte – nun ja, irgendwas ist bekanntlich immer. Richtige Wissenschaft jedenfalls bringt die Menschheit weiter oder hat zumindest das Potential, sie komplett zu zerstören. Geisteswissenschaften dagegen, am Ende sogar Gesellschaftswissenschaften, bringen Gedanken, Ideen hervor, aber nichts, was der Gesellschaft einen wirklichen Nutzen bringt. Tragischerweise kam mir diese Einsicht erst, nachdem ich eine dieser Klamaukwissenschaften zum Abschluss gebracht hatte.

Denn was habe ich als Politologe davon, dass ich die Zustände umfassend analysieren kann, wenn sich außer zwei bis drei Anderen, die wahrscheinlich ebenfalls Politologen sind, keine Sau dafür interessiert, was ich zu sagen habe?! Wenn sich gefühlte Mehrheiten in ihrem Urteil lieber auf Informationen verlassen, die der Arbeitskollege eifrig teilt, in einfachster Sprache serviert, dafür mit maximaler Kompatibilität zur (all-)gegenwärtigen Skandalisierungs-Kultur, sind deren Hirne oft bereits so degeneriert, dass zwei Rippen Schokolade zusätzlich am Ende auch keinen Unterschied mehr machen. Dem Normaldenkenden dagegen stellt sich erneut die Frage: „Was mache ich hier eigentlich?“ Frust macht sich breit, und das noch immer beste Mittel gegen Frust ist und bleibt: Schokolade. Irgendwann schließt sich jeder Kreis.

Aufgrund des neu erworbenen Wissens, dass zu viel Zucker vergesslich macht, gewöhne ich mir aktuell an, ausschließlich Schokolade mit ausreichend Nüssen zu essen: Nüsse verbessern das Denkvermögen und das Gedächtnis, bauen Stress und Aggressionen ab und wirken sich positiv auf Psyche und Stimmung aus.

Man könnte also im Prinzip anfangen, zunächst die neuen Bundesländer, später auch den Rest der Republik großzügig mit Nüssen zu versorgen und hätte daraufhin eventuell manches Problem gelöst, über das sich Gesellschaftswissenschaftler bereits jahrzehntelang den Kopf zerbrechen. Nur so eine Idee, die einem eben kommt, wenn man an einem Donnerstagabend um 23.57 Uhr an einem Text arbeitet.

Als Chronist des Weltgeschehens muss ich an dieser Stelle allerdings pflichtgemäß darauf hinweisen: Erdnüsse sind keine Nüsse, heißen aber so. Kokosnüsse – dito. Erdbeeren oder Himbeeren dagegen sind Nüsse, heißen aber Beeren. Zu den Beeren wiederum zählen unerwartet Bananen, Kiwis und sogar Melonen ebenso wie allerhand Gemüse, das man in dieser Kategorie nicht vermutet hätte: Kürbis, Zucchini oder Gurken. Da hat die Botanik dem Sprachgebrauch nicht nur einmal ein Bein gestellt. Wäre der Text hier zu Ende, müsste das Fazit demnach lauten: Botanik ist beinahe genauso sinnlos wie Politikwissenschaften. Damit nicht genug, kommt am Ende der nächste um die Ecke und behauptet: Erdnüsse sind doch Nüsse. Wer soll denn da noch durchblicken? Das Bild, das ich mir von der Welt zu malen pflegte seit Kindheitstagen, als die Frage „Was mache ich hier eigentlich“ noch keine Rolle spielte – es gerät ins Wanken. Am Ende ist womöglich sogar der Walfisch gar kein Fisch?!

Weil also selbst Sachverhalte von eher bescheidener Komplexität schon kaum noch zu durchschauen sind, sehnen sich die Leute nach einfachen Antworten. Wo ein „Danke Merkel“ reicht, um die Gesellschaft allumfassend zu erklären, schaut der Politologe dumm aus der Wäsche.

Das alles sollte man im Blick behalten, wenn man sich demnächst beim dritten Kreppel oder bei jedweder anderen Gelegenheit wieder einmal fragt: Was mache ich hier eigentlich?

Ich könnte zu dieser Thematik noch so viele andere Dinge schreiben – wenn sie mir nicht gerade entfallen wären. In diesem Sinne: Nüsse auf Deutschland!

Vom Winde verweht

Im Sachwörterbuch der Literatur wird eine Sage als „kurze Erzählung von fantastischen, die Wirklichkeit übersteigenden, Ereignissen“ definiert. „Da diese mit realen Begebenheiten, Personen- und Ortsangaben verbunden werden, entsteht der Eindruck eines Wahrheitsberichts.“ Dieses Wissen könnte helfen, die Wettervorher-Sage in Zukunft besser einzuordnen.

Mittwoch, 19.13 Uhr

„Monster-Orkan im Anmarsch“ Schon zu oft offenbarten solche Überschriften lediglich, dass die Wetterfrösche bei der Genauigkeit ihrer dahinter enthaltenen „Schock-Prognosen“ noch reichlich Luft nach oben haben. Mehr als einmal korrespondierte der Text in keinster Weise mit der Schlagzeile. Vor diesem Hintergrund vermute ich zunächst, dass der angekündigte Orkan ausgeht wie das Hornberger Schießen; das Lesen solcher Meldungen erfolgt inzwischen ausschließlich zu meinem Amüsement.

Mittwoch, 19.16 Uhr

Nachdem ich aus seriöser einzuschätzenden Quellen erfahre, dass da in der Tat etwas auf uns zukommt, das zu unterschätzen man lieber sein lassen sollte, ist aber Schluss mit lustig. Da meine Freundin sonntags für gewöhnlich irgendwann von Offenbach aus den Heimweg nach Bad Nauheim antreten muss, ist mit dieser Nachricht quasi die Diskussion eröffnet, wie wir ihren Rücktransport diesmal am besten bewerkstelligen könnten. Da Beamen als Alternative mir aktuell als noch unsicherer als eine Bahn- oder Autofahrt im Sturm erscheint, verrate ich ihr erst gar nicht, dass ich über diese Möglichkeit überhaupt nachgedacht habe.

Donnerstag, 20.00 Uhr

Wie sehr der nahende Sturm Deutschland im Vorfeld schon im Griff hat, merkt man daran, dass das Thema sogar das Coronavirus von der Tagesordnung verdrängt hat.

Donnerstag, 21.43

Eine Meteorologin beklagt sich, die Verwendung von Vokabular wie „Monster-Orkan“ beschädige den Ruf ihres Standes. Andere Vertreter ihres Standes haben bei anderer Gelegenheit schon erklärt, für die reißerischen Überschriften mancher Medien nichts zu können. Seriös zu beurteilen weiß man inzwischen immerhin, dass der Wind am Sonntag knackig, aber nicht monstermäßig wird. Vorläufiges Zwischenfazit: Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird.

Sonntag, 7.30 Uhr

Oh-oh! Es kommt knüppeldick: Fußball fällt aus. Die Bundesliga-Partie Mönchengladbach gegen Köln wird abgesagt.

Jetzt müssen Entscheidungen getroffen werden: Zum Beispiel, ob das Wortspiel, die Kölner hätten in den letzten Wochen ohnehin genügend Probleme mit ihrem Sturm gehabt, für mich gerade noch akzeptabel ist, um hier aufgenommen zu werden, oder doch schon zu platt. Die Sturmflut an schlechten Wortspielen ist hiermit eröffnet. Damit niemand behaupten kann, ich wäre nicht jederzeit bereit, immer noch einen draufzulegen, schiebe ich nach: Ich hingegen könnte an diesem sonnigen Morgen Bäume ausreißen und genieße ein wenig die Ruhe vor dem Sturm.

Sonntag, 16.00 Uhr

Jetzt geht’s los! Der Sturm erreicht Deutschland. Gebannt warten bundesweit Online-Redakteure und ich mit ihnen, dass irgendwo in dieser Republik der erste Sack Reis umfällt.

Sonntag, 16.04 Uhr

Die Freundin sitzt im Zug. Unser gemeinsames Wochenende ist im Namen der Sicherheit um etwa drei Stunden verkürzt. Was in manch anderer, bereits länger währender Beziehung als durchaus angenehme Begleiterscheinung einer solchen Extremwetterlage empfunden werden könnte, ist in unserem Fall wenig geeignet, Stürme der Begeisterung hervorzurufen.

Sonntag, 19.10 Uhr

Bis jetzt sind die Voraussagen überwiegend nur warme Luft: Ein paar umgefallene Dixiklos hier, einige umgestürzte Bauzäune dort. Bis hierhin also nichts, was wir mit vier bis fünf Leuten an einem durchschnittlichen Abend früher nicht auch ohne Sturm gerade noch so hinbekommen hätten.

Auch unter dem Label „Heimspiel Kickers Offenbach“ sind solche Erscheinungen eigentlich eher Regel als Ausnahme. Von daher immer noch kein besonderer Grund zur Beunruhigung.

Sonntag, 20.45 Uhr

Obwohl das ganz große Chaos nach wie vor nicht in Sicht ist, ziehe ich die letzte Hunderunde zeitlich etwas vor. Kälter ist es inzwischen geworden. Eine Erklärung hierfür wären gesunkene Temperaturen. Es könnte allerdings auch daran liegen, dass ich zwar den Vorsatz fasste, mir einen anderen Pullover überzustreifen, nach dem Ausziehen des ursprünglichen jedoch einfach vergaß, den anderen anzuziehen.

Montag, 1.30 Uhr

Der Wind scheppert recht ordentlich. Jedenfalls reicht es, mich zu wecken.

Montag, 1.35 Uhr

Poi-Schwingen im Park macht bei dieser Witterung absolut keinen Spaß. Nicht dass ich es probiert hätte, schon gar nicht um diese Uhrzeit, aber man macht sich halt so seine Gedanken. Und wenn man selbst einmal eine bloße Vermutung ungeprüft als Erkenntnis ´raushaut, versteht man eventuell auch besser, was gewisse Meteorologen dazu antreibt, das Gleiche regelmäßig zu tun.

Montag, 8.00 Uhr

Noch immer wartet man auf Meldungen mit einem gewissen Nachrichtenwert fast vergeblich. Ein paar Gleise müssen geräumt werden; niemand weiß, wann eine S-Bahn fährt und wohin – selbst für die Bahnfahrer ist also alles wie gewohnt.

Montag, 9.05 Uhr

Fast pünktlich erreiche ich die Arbeit, die Verzögerung ergibt sich durch Mitnahme einer Kollegin, die sonst auf die noch nicht wieder fahrende Bahn angewiesen gewesen wäre.

Es ist noch etwas stürmisch, aber das Schlimmste ist offenbar überstanden. Das Unwetter befindet sich zur Stunde noch über Bayern. Größere Schäden sind demnach ab jetzt nicht mehr zu erwarten, selbst wenn das Sturmtief Sabine jetzt nochmal richtig loslegen sollte.

Wenn man bedenkt, dass ich Sonntag Vormittag noch Ausweichrouten studiert habe, auf denen ich am nächsten Tag heil auf die Arbeit komme, ohne durch Wälder fahren zu müssen, fühle ich mich durch folgenden Sachverhalt etwas verarscht: Ermutigt durch die bislang glimpfliche Zwischenbilanz wage ich den gewohnten und kürzesten, jedoch waldreichen Weg, und der einzige umgestürzte Baum, den ich zu sehen bekomme, befindet sich fernab jeglicher Wälder kurz vor dem Ziel.

Montag, 9.20 Uhr

Auf der Arbeit dauert es nicht lange, bis ich die Ereignisse der vergangenen Nacht angemessen einordnen kann. Ich formuliere es ´mal so: Ich habe schon mit Leuten zusammenarbeiten müssen, die in kürzerer Zeit größeres Chaos angerichtet haben als dieser Sturm im Wasserglas.

Montag, 18.00 Uhr

Deutschland kann allmählich seine Trampoline wieder einsammeln, die des Nachts vom Winde verweht wurden. Manch einer wird auch genau darauf spekuliert haben: es auf diese Weise günstig entsorgt bekommen zu haben. Die Kinder sind mit ihren 23 und 26 Jahren sowieso schon einige Zeit aus dem Alter ´raus, aber dem Kirchenaustritt nicht unähnlich war man bislang zu bequem, sich einfach ´mal darum zu kümmern und das Teil zum Entsorgungsunternehmen zu fahren. Andere mögen sich auch darüber gefreut haben, über Nacht unverhofft so ein Teil in den Hof geliefert bekommen zu haben. Wiederum andere werden ordentlich gewettert haben, als ihnen so ein Gerät auf dem Zentralfriedhof plötzlich den Weg versperrte.

Montag, 19.20 Uhr

Es ist wichtig und richtig, dass bevorstehende Extremwetterlagen angekündigt werden. Lieber einmal zu viel als einmal zu wenig gewarnt. Dass aber inzwischen jeder Schauer zum Jahrhundertereignis hochgejazzt wird, nervt! Gibt´s da nicht etwas von ratiopharm?

Montag, 22.22 Uhr

Man kann nicht behaupten, dass „Orkan“ ein besonders populärer Vorname wäre. Nicht einmal einer von 100.000 Jungen wird Orkan genannt. In der Beliebtheitsrangliste reiht er sich noch deutlich weiter unten ein als beispielsweise der ebenfalls schon selten genug auftretende Mädchenvorname „Tuba“. Ein kleiner Tipp übrigens für alle werdenden Eltern, die sich momentan mit solchen Entscheidungen auseinanderzusetzen haben: Für Mädchen, die später einmal nicht ganz schlank sein werden, könnte sich der Name Tuba im Nachhinein als inadäquat herausstellen.

Um also dem Namen Orkan zu mehr Renommee zu verhelfen, spare ich ab sofort, um irgendwann 355 Euro für die Namenspatenschaft für ein Hochdruckgebiet aufbringen zu können. Der Dank der Presse in Form von Schlagzeilen wie „Orkan bringt viel Sonne und Temperaturen um 25 Grad“ wäre es mir fast wert.

Viel irreführender als jetzt schon manchmal können die Headlines ja sowieso nicht mehr werden.

Alles im Fluss

Ich praktiziere es wie die meisten Leute das Tanzen: Nicht sonderlich gut, eher so stets bemüht. Dafür mit Leidenschaft. Jonglieren, Poi-Schwingen, Devil Stick, Yoyo, Astrojax – Ausdrucksformen also, die auf gut koordinierte Bewegung setzen, dem Tanzen daher ähnlicher sind als mir lieb ist. Weil Können von Kennen kommt, schließe ich: Wie ich mich kenne, werde ich das nie gut können.

Das kenne ich doch irgendwoher.

Zwar kann ich unangemessenem Zurschaustellen von Nichtkönnen üblicherweise nicht viel abgewinnen. Das fängt nicht erst beim Tanzen an und hört beim Autofahren längst nicht auf. Gnädiger in meinem Urteil bin ich aber in seltenen Ausnahmefällen, nämlich wenn nicht andere Leute, sondern ich selbst meiner Umgebung mit halbgaren Darbietungen auf die Nüsse gehe.

Es gab eine Zeit, in der ich zu Anlässen wie Hochzeiten oder runden Geburtstagen gegen Bezahlung die Aufgabe übertragen bekam, die Gäste durch sorgfältige Auswahl der Abfolge von Musikstücken zum Tanzen zu animieren. Nicht selten entwickelte sich der Abend dahingehend, dass ich entgegen dieser ursprünglichen Absicht des Gastgebers – dafür aber auf Wunsch seiner Gäste – versuchte, meine Auswahl der Abfolge von Musikstücken so zu modifizieren, dass ich die Anwesenden bei ihrer angeregten Konversation so wenig wie möglich störte. Als DJ mochte ich mich nicht bezeichnen, war ich doch nicht in der Lage, die immer sehr gelungene Auswahl der Musik zielgerichtet ineinander zu mixen. Schallplattenalleinunterhalter klang zu sehr nach Willi, Sigi oder Manni und peinlichen Versuchen, die Geburtstagsgesellschaft des 60 Jahre gewordenen Onkels mittels abgegriffener Witze zwischen schlecht ausgewählten Musikstücken zum Schenkelklopfen zu animieren. Aus der Not heraus beschrieb ich meine Tätigkeit gelegentlich mit den Worten, ich mache Musik bei Veranstaltungen. Resultat: Ich wurde gefragt, welches Instrument ich spiele. Ich musste also lernen, meine Worte genauso sorgfältig auszuwählen wie die Abfolge der Musikstücke, wenn es gilt zu beschreiben, was genau ich eigentlich tue oder beabsichtige zu tun.

Am Begriff scheitert regelmäßig auch der Versuch, eingangs beschriebene Hobbys kurz, dafür präzise vorzustellen. Artistik umfasst zu vieles. Am häufigsten wird damit vermutlich Akrobatik assoziiert. Aber es ist ja nicht zielführend, Bilder in den Köpfen entstehen zu lassen, in denen ein dicker und wenig muskulöser älterer Mann Teil einer Pyramide aus Menschen ist. Ob oben oder unten ist bei dieser untrainierten Erscheinung fast schon egal. Schließlich bekommt man solche Bilder nicht einfach ohne weiteres wieder weg.

Niemals hätte ich damit gerechnet, eines Tages über einen Ausdruck zu stolpern, der noch unpassender ist als Willis und Mannis ausgelutschte Witze: Objektmanipulation. Was für ein Wortungetüm! Kann man für solch anmutige Bewegungskünste wie Jonglieren oder Poi-Schwingen einen noch kühleren Begriff finden? Wohl kaum. Wie hört sich das bitteschön an, wenn man etwa erwähnt: „Mein Hobbys sind Schwimmen, Lesen und Objekte manipulieren“?! Freunde findet man damit eher weniger.

Im besten Fall klingt das uninteressant, im schlimmsten unseriös. Seien wir ehrlich: Das klingt nicht nach einem Hobby, das klingt nach einem Geständnis. Ich halte mich ja selbst schon fast für kriminell, seit ich dieses Wort vor kurzem das erste Mal hörte. Beinahe täglich überlege ich seitdem, mich bei der Polizei zu stellen, weil ich jongliere.

Probiert es aus und streut beim nächsten Smalltalk einfach ´mal ein, dass Ihr für Euer Leben gern Objektmanipulation betreibt. Eure Erfahrungen dürft Ihr mir gern mitteilen. Meine Prognose lautet jedoch: Wenn nur das Vertrauen des Gesprächspartners weg ist und nicht gleich der Gesprächspartner selbst, ist aus dieser Unterhaltung das Maximum herausgeholt.

Gut Holz!

Während ich dann letztens verschiedene Objekte vor mich hin manipulierte, kam mir eine dieser Ideen, die ich manchmal eben habe: Da besagte Tätigkeiten trotz des schwachsinnigen Begriffs neben anderen positiven Effekten auch eine entspannende Wirkung haben, sollten auch andere Menschen von dieser Wirkung profitieren dürfen. Die Problematik, dass auf andere Menschen dummerweise andere Dinge entspannend sind, umgehe ich dann einfach, indem ich exakt diese Dinge anbiete. Die andere Problematik: dass nämlich bislang nur von einer Idee die Rede war und nicht etwa davon, dass diese Idee auch gut wäre, tut an dieser Stelle nichts zur Sache. Nehmen wir also Bügeln. Wenn sich manche Menschen beim Bügeln entspannen, können andere Menschen das bestimmt auch, selbst wenn sie bis jetzt noch nichts davon ahnen. Sie müssen lediglich den von mir konzipierten Kurs „Entspannen mit der Bügeltechnik“ buchen. Material wird vom Kursleiter gestellt. Nach einer eleganten Möglichkeit, meine Wäsche nicht mehr selbst bügeln zu müssen, habe ich sowieso schon länger gesucht.

Zugegeben: Ich bin schon mit realistischeren Geschäftsideen gescheitert. Doch zumindest der Nachweis, dass Jonglage und Artverwandtes die Kreativität fördert, dürfte damit erbracht sein.

Jetzt ist natürlich damit zu rechnen, dass bei den Stichworten Entspannung und Stressabbau bald die üblichen Verdächtigen mit der Behauptung um die Ecke kommen, das gleiche könne man mittels Sport erreichen.

Genausogut kann man natürlich für die Einnahme psychoaktiver Substanzen plädieren. Da gibt es einige, die das im Zweifel zuverlässiger und unaufgeregter erledigen als Sport. Wenn es allein um Stressreduktion geht, kann ich auch dunkle Schokolade vorschlagen. Okay, das ist ein anderes Konzept. Aber ich verstehe bald diesen Kult nicht mehr, der um Sport betrieben wird. Am Ende des Tages sind die Sportskanonen auch lediglich verschwitzte Leiber in meist stillosen Klamotten.

Zwar hätte ich an dieser Stelle gern das Beispiel einer besonders unästhetischen sportlichen Disziplin bemüht, um die Leibesertüchtigung größtmöglich mit den geschmeidigen Bewegungen eines Objektmanipulierenden zu kontrastieren. Wirklich eingefallen ist mir jedoch auf die Schnelle leider nichts. Darts eventuell. Doch zu diesem Thema sind sämtliche Witze bereits erzählt und werden höchstens noch von Willi, Sigi und Manni regelmäßig aus der Mottenkiste geholt.

Selbst eine Sportart wie Hammerwerfen erfordert eine ähnlich genaue Koordination der Bewegungsabläufe wie einzelne Zweige der Objektmanipulation.

Einzig wenn man mit den Kollegen auf der Weihnachtsfeier kegelt, bekommt man eine Ahnung davon, wie plump und holprig Sport aussehen kann, selbst wenn die ausübenden Körper an sich nicht einmal schlecht geformt sind. Zumindest wurden unseren Wirtsleuten schon mit der allerersten Kugel, die an jenem Abend die Hand eines der unseren verließ, die Schweißperlen auf die Stirn getrieben. Wie man zu der Annahme gelangen kann, die quer über die Bahn gespannte Schnur wäre nicht dafür gedacht, die Kugel davor aufzusetzen und unter ihr durchzurollen, sondern sie drüberzuwerfen als wäre es das Selbstverständlichste auf dieser Welt, hat sich mir bis heute nicht erschlossen. Gut Holz! Die Sterne hat an dem Abend keiner vom Himmel gespielt. Besagten Wirtsleuten wird es ganz recht gewesen sein, dass wenigstens diesbezüglich alles dort geblieben ist, wo es hingehört. Ohnehin war ihnen eine etwaige stressreduzierende Wirkung des Kegelsportes angesichts unserer Performance bedauerlicherweise nicht anzumerken.

Zu den zahllosen Dingen, die man im Laufe eines Lebens lernt, ohne dass man sie jemals wird gebrauchen können, addieren sich mit Kegeln und Objektmanipulation zwei weitere Tätigkeiten, die für nichts gut sind – es sei denn natürlich, man wollte Kegeln oder Objekte manipulieren.

Ein anderer Begriff für Spiel und Bewegung mit Bällen, Stäben und anderen – nun ja – Objekten ist übrigens flow arts. Das klingt doch gleich um einiges poetischer als Objektmanipulation. Das klingt bereits so sehr nach Anmut, nach Ästhetik, nach Leidenschaft, dass es unterm Strich fast egal ist, ob man die Sache gut beherrscht oder man nur stets bemüht ist.

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