Aufzeichnungen aus der Wirrnis des Alltags

Autor: Micky Seite 3 von 19

Der Flohmarkt des Lebens oder: Mein optimiertes Selbst

Wenn es nach mir ginge, hätten Trends wie Selbstoptimierung lediglich die Bedeutung, die sie verdienen, und nicht die, die sie heute haben. Es hat ja auch eine ganze Weile ohne funktioniert: Solange das Thema überhaupt niemanden wirklich interessierte, wähnte ich mein Selbst ausreichend optimiert, indem ich im Rahmen meiner Möglichkeiten permanent dazulernte. Über Gott (weniger) und die Welt (schon mehr). Und weil ich darüber viel lernte, weiß ich natürlich, dass es eben leider viel zu selten nach mir geht.

Bis heute empfinde ich das als extrem ungerecht, lernte allerdings auch, und das sogar schon recht früh: Weder Gott noch die Welt interessieren sich für mein Gerechtigkeitsempfinden.

Ich würde nicht so weit gehen, zu behaupten, die Welt wäre außer für mich auch generell eine gerechtere, wenn es denn nur öfter nach mir ginge. Aber wenigstens, so es nach mir ginge, träfe man seltener auf Zeitgenossen, die ganz gut beraten wären, wenigstens einen Teil ihrer Aufwendungen fürs Fitness-Studio in die regelmäßige Lektüre einer Tageszeitung zu investieren. So offenbart sich bereits recht früh bei der Beschäftigung mit dem Thema das Kernproblem: Wer bitte will entscheiden, welche Tätigkeit im einzelnen konkret eine Optimierung des Selbst bedeutet und welches weniger oder gar nicht? Es fehlt ein allgemeingültiger Standard zur Beurteilung der Frage: Optimierst Du noch oder verschlimmbesserst Du schon?

Selbst ein und dieselbe Person wird im Einzelfall zu dieser Frage unterschiedliche Antworten geben, sobald etwas Zeit dazwischen liegt. Zum Beispiel hat man in meiner Jugend bei einem angehenden Mann Optimierungsbedarf erkannt, wenn dieser bereits nach der achten Runde Halbliterbier durch technischen K.O. aus dem Geschehen ausschied. Mit dem Abstand von rund dreißig Jahren würde ich diese Sichtweise schlicht als nicht mehr angemessen bezeichnen.

Es leuchtet unmittelbar ein, dass die Trennschärfe des Begriffs leidet, wenn unter ihm so verschiedene Dinge wie Entspannungstechniken, Wirkungskompetenz oder sportliche Betätigung zusammengefasst werden. Selbstoptimierung ist eigentlich der Flohmarkt des Lebens: Irgendwas findet jeder, und was dem einen gefällt, würden andere mit der Kneifzange nicht anfassen. Nicht objektive Kriterien, sondern individuelle Werte sind der Maßstab dafür, ob der Effekt einer Selbstveredelungsmaßnahme als positiv einzustufen ist.

Bei aller Unterschiedlichkeit habe ich ein vereinendes Element beobachten können: Selten wird der ganze Aufwand als Selbstzweck betrieben, viel häufiger dafür, um irgendwen zu beeindrucken. Gewiss nicht rein zufällig erstarkte mein Interesse an persönlicher Veränderung just zu dem Zeitpunkt, als ich mich einige Monate nach der Trennung von der Mutter meines Sohnes wieder in die Lage versetzen wollte, andere Menschen, hier vornehmlich weiblichen Geschlechts, von meinen manchmal eigen-, meist aber einzigartigen Eigenschaften zu überzeugen.

Ein wichtiges Ergebnis vielleicht vorweg: Nicht zwangsläufig wird das Versprechen eines gesteigerten Sozialprestiges eingelöst, bloß weil man sich eine Weile mit dem beschäftigt hat, was wesentlich ist, nämlich sich selbst. Wie so oft im Leben reicht eine gute Absicht nicht immer aus, auch ein gutes Resultat zu erzielen.

Das war alles nicht optimal, aber ein Anfang. Erstmals wurde mein Handeln entkoppelt von der Aneinanderreihung von Zufällen, die mein gut 40-jähriges Leben bis dahin bestimmt hatten. Wenigstens etwas zielgerichteter als bisher sollte es ab diesem Punkt weitergehen. Denn die wichtigste Erfahrung des vorangegangenen Jahrzehnts war: Die Wahrnehmung, ob jemand mit seinem Handeln einen eminent wichtigen Beitrag für das Zusammenleben leistet, hängt nur am Rande damit zusammen, ob jemand tatsächlich einen eminent wichtigen Beitrag für das Zusammenleben leistet, aber in erster Linie davon, dass dieser Jemand behauptet, mit seinem Tagwerk einen eminent wichtigen Beitrag für das Zusammenleben zu leisten. Klar, dass ich da nicht mithalten wollte. Allerdings hat diese meine Verweigerungshaltung mit dazu geführt, im Ansehen meiner angeheirateten Familie zum Schluss sogar noch unter dem Hund zu stehen. Das sollte mir nie wieder passieren. Folgerichtig bestand meine dringendste Aufgabe in einem Crashkurs in Selbstmarketing. Dies korrespondierte auch mit der Überzeugung, dass mein Selbst eigentlich auch vorher ganz okay war und höchstens meine Kommunikation über dieses Okay-Sein optimierungswürdig ist.

Also arbeitete ich mir in einem mehrere Wochen währenden, aber sehr aufschlussreichen Prozess nach und nach meinen Markenkern heraus und richtete anschließend jegliches Handeln danach aus, ob es „in meine Marke einzahlt“.

Viele Konzepte, auf die ich stieß, blieben mir fremd. Das lag natürlich zum einen an den Konzepten selbst, immer häufiger aber auch an den Menschen, die diese verkaufen wollten. Wenn mehr Anstrengung darauf verwendet wird, Kompetenz auszustrahlen anstatt sie zu erlangen, ist das Thema durch. Ansonsten probierte ich mich aber einmal quer durch den Garten: Mehr Charisma – kein Problem! Selbstvertrauen lernen – ja bitte! Nie wieder Aufschieben – fange ich gleich nächste Woche damit an. Berührungsängste gab es wenig, aber mit einer Sache brauchte mir von vorneherein niemand kommen: Der ganze Themenkomplex rund um Kraftsport und Bodystyling. Das bedeutete mir einerseits zu viel Aufwand und hätte mich andererseits im Authentizitäts-Ranking um einiges zurückgeworfen. Darüber hinaus hätte es nicht in meine Marke eingezahlt.

Es ist nicht so, dass ich gegen Fitness und einen halbwegs gesunden Körper irgendein vernünftiges grundsätzliches Argument vorbringen könnte. Jedoch fehlt mir, wenn man bei dem größeren Anteil der Aktiven die Motive für ihr Tun letztlich auf Eitelkeit herunterbrechen kann, gewissermaßen auch dort die Trennschärfe. Von einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive ´mal ganz zu schweigen.

Wenn es also nach mir ginge, würde ich bei der Abwägung zwischen intellektueller und körperlicher Betätigung die Prioritäten klar auf dem erstgenannten Punkt setzen. Dass man damit ungleich weniger Menschen beeindrucken können wird als mit einem gestählten Körper, nehme ich in Kauf. Aber wenn schon Selbstoptimierung, dann richtig. Wenn es nach mir ginge, hätten Fitness-Studios lediglich die Bedeutung, die sie verdienen, und nicht die, die sie heute haben.

Vom Lesen und Sterben

Manchmal müssen Pläne über Bord geworfen werden. Es muss nicht erst eine Buchmesse pandemiebedingt nicht in gewohnter Form stattfinden können, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen. Oftmals reicht dafür eine mittlere Portion Lebenserfahrung aus.

Gerade mit zunehmendem Alter wird man tendenziell häufiger feststellen, dass bestimmte Ziele einer kritischen Überprüfung bedürfen. Beispiel: Selbst wenn es jemals realistisch gewesen wäre, dass ich Weltranglistenerster im Tennis werde, sollte ich allmählich akzeptieren, dass dieser Zug mit nunmehr 48 Jahren auf dem Buckel vor einer Weile schon abgefahren ist. Zumal ich in all der Zeit nie angefangen habe, überhaupt professionell zu spielen, gibt es deswegen allerdings gar keinen Anlass, mit dem Schicksal zu hadern. Manchmal ist aufgeschoben am Ende eben doch aufgehoben.

Bedeutsamer als die Erkenntnis, im Spiel des Lebens ein oder mehrere Male verkehrt abgebogen zu sein, ist doch sowieso, dass man sich immer öfter bei Rechenspielen ertappt, wie viele Jahre, vorausgesetzt, es möge „gut laufen“, wohl noch bleiben werden. Zudem mehren sich die Situationen, die einem signalisieren: Aufgepasst! Weil leider nicht garantiert werden kann, dass es „gut läuft“, könnte das alles theoretisch früher vorbei sein als Du Dir aktuell vorzustellen vermagst. Falls man also vorgehabt hatte, der Nachwelt irgendetwas Bleibendes zu hinterlassen, wäre dann nicht exakt jetzt der richtige Zeitpunkt, damit wenigstens endlich ´mal anzufangen?

Jetzt gehöre ich ja einer Generation an, die allen nachfolgenden vor allem verbrannte Erde hinterlässt und im negativen Sinn eindrucksvoll demonstriert, wie man einen so unsagbar faszinierenden Planeten gerade nicht behandeln hätte sollen. Falls also jemand auf die Idee käme, zu sagen: „Lass´ stecken, Alter! Die Mit-Verantwortung beim Zerstören unserer Lebensgrundlagen ist uns eigentlich genug. Auf weitere Beiträge können wir gut verzichten“ – was genau könnte ich schon entgegnen außer demütig meinen Kopf zu senken?! Dabei hatte ich doch einen nicht unbeträchtlichen Teil meines Lebens damit verbracht, das System zu ficken, eine freie Gesellschaft zu entwerfen und den Weg dorthin zu skizzieren, bevor ich auch diese Pläne mehr oder weniger über Bord warf.

Pläne über Bord werfen. Da eine Buchmesse recht regelmäßig stattfindet, erinnert sie mich einigermaßen zuverlässig einmal im Jahr daran, dass ich einst mein Ziel, in irgendeiner Weise durch Schreiben berühmt zu werden, nach unten korrigieren musste. In meinem Alter kann man wahrscheinlich ohne allzu große Sorge, vorschnell als Pessimist abgeurteilt zu werden, feststellen: Einfacher wird ein solch ehrgeiziges Vorhaben mit fortgeschrittenem Alter eher nicht mehr. Dafür, immerhin, bin ich ohne es zu wollen in die Hauptzielgruppe der Buchbranche gerutscht: Die Hälfte aller Bücher wird von Leuten über 45 Jahren gekauft. Die Ironie der Geschichte: Seit einigen Jahren beobachte ich an mir ein schleichend sich ausbreitendes Desinteresse an diesem Medium. Es ist nicht auszuschließen, dass diese Entwicklung mit einer Problematik zusammenhängt, die Arthur Schopenhauer schonungslos wie folgt formuliert hat: „Es wäre gut Bücher kaufen, wenn man die Zeit, sie zu lesen, mitkaufen könnte, aber man verwechselt meistens den Ankauf der Bücher mit dem Aneignen ihres Inhalts.“

Die verstärkte Berücksichtigung des Faktors Zeit führt aber nicht allein zu einer verringerten Anzahl an Neuerwerbungen. Sicher nicht ganz zufällig wird das Bücherregal häufiger als früher einer gründlichen Inventur unterzogen und um einige Titel reduziert, die in diesem Leben definitiv nicht mehr gelesen werden. Die wichtigste Maßnahme zu einem nachhaltigeren Umgang mit der Ressource Zeit ist allerdings: Man muss nicht mehr jeden Mist, den man einmal angefangen hat, bis zum Schluss durchziehen.

Wenn ein Buch seinen Leser verliert, geschieht das durchschnittlich auf Seite 18. Ja, ich wüsste selbst auch gern mehr darüber, wie wohl das Forschungsdesign ausgesehen hat, das zu diesem Ergebnis geführt hat, kann aber anhand eigener Erfahrungen zu diesem Thema beistimmen, dass dieser Wert zumindest nicht komplett aus der Luft gegriffen wirkt. Man muss ja nicht einmal mit den Maßstäben eines frustrierten Studienrates an die Sache herangehen, um zu registrieren, dass bei Büchern teils genauso viel Schrott produziert wird wie in jeder beliebigen anderen Branche. Es darf demnach niemanden ernsthaft wundern, dass man mit dem ein oder anderen Werk einfach ´mal einen Fehlkauf getätigt hat. Bei Schuhen, Fleckenentfernern oder Hemdenbüglern geschieht das ständig, aber da sage ich ja auch nicht: Okay, am nächsten Abend benutze ich das aber trotzdem wieder. Dass ich allzu oft ein Buch bis zum Ende gelesen habe, obwohl ich früh ahnte, dass da vermutlich nicht mehr viel kommt, gehört zu den wenigen Dingen, die ich mir rückblickend wirklich vorzuwerfen habe. Daher ist die Idee, auch ein Buch einfach ´mal über Bord zu werfen, wenn es nicht hält, was es verspricht, gar nicht einmal so banal, wie es zunächst klingt. „Bücher und Freunde soll man wenige und gute haben“, lehrt uns das Sprichwort. Dass Bücherfreunde pandemiebedingt dieses Jahr auf ihr Großereignis verzichten müssen, ist bedauerlich. Letzten Endes sehe ich aber lieber einen Plan über Bord gehen als einen Freund.

Autsch!

Früher oder später muss man sich der Wahrheit stellen: Eine negative Begleiterscheinung des Älterwerdens ist, dass man irgendwann ohne es überhaupt bemerkt zu haben diesen einen Punkt überschritten hat, ab dem es nicht mehr die Ausnahme, sondern Regel ist, dass es am Körper hier zwickt und dort drückt.

Klar – im Vergleich zu manch erheblich jüngerem Kollegen scheine ich vor Gesundheit nur so zu strotzen. Dennoch hat man ab einem gewissen Alter seinem Körper gegenüber eine besondere Verantwortung. Und diese beinhaltet: Setze Deine Gesundheit nicht aufs Spiel, indem Du anfängst, Sport zu treiben.

Zwar wird von interessierter Seite allenthalben auf die positiven Aspekte regelmäßiger Körperertüchtigung hingewiesen. Wer allerdings beispielsweise beim Boxkampf gerade nach allen Regeln der Kunst vermöbelt wurde, lässt sich von dem Hinweis, dass man damit einen angemessenen Beitrag zur Vorbeugung gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen geleistet hat, für weitere Trainingseinheiten unter Umständen nicht mehr so einfach motivieren.

Die Wissenschaft hat festgestellt: Jeder fünfte Unfall in Deutschland ist auf Sport zurückzuführen. Das Risiko ist freilich höchst unterschiedlich auf die verschiedenen Sportarten verteilt. Logisch – dass Bergsteigen oder Springreiten riskanter ist als Schwimmen oder Schach, scheint banal. Die Top 3 der gefährlichsten Sportarten lauten aber Radfahren, Skifahren und – wie sollte es auch anders sein – Fußball. Keine nennenswerte Überraschung: Beim Fußball betreffen Verletzungen meistens die Beine. Doch schon seit im Jahr 1969 Friedel Rausch im Schalker Dress während des Spiels von Schäferhunden des Dortmunder Ordnungsdienstes gebissen wurde, weiß man, dass das Risiko beim Fußball auch Körperzonen betrifft, die nur noch gerade so unterhalb der Gürtellinie liegen.

Dass beim Turmspringen der Kopf besonders gefährdet ist, klingt bereits deutlich weniger offensichtlich. Dennoch ist älteren Semestern eventuell noch Olympia 1988 in Erinnerung, als Greg Louganis vom Drei-Meter-Brett nicht optimal abgesprungen ist und beim Strecken vor dem Eintauchen mit dem Hinterkopf das Brett touchierte. Nun fährt man als Sportler mit Gold-Ambitionen selbstredend nicht nach Seoul, um sich von einem kleinen Kratzer aus dem Konzept bringen zu lassen. Eine gute halbe Stunde nach diesem Missgeschick, die Platzwunde wurde mit fünf Stichen genäht, stand er wieder oben und absolvierte den nächsten Qualifikationssprung. Dass er in der Endrunde am nächsten Tag den ersten Platz belegte, als wäre nie etwas gewesen, ist der zweite Teil dieser Geschichte.

Die meisten Sportverletzungen freilich müssen ohne ein solches spektakuläres Happy End auskommen. Als beispielsweise der Fußballtorwart Volkan Demirel nach dem Spiel sein Trikot in die Zuschauerränge warf, hatte er damit zwar einen Fan glücklich gemacht, sich selbst allerdings eine dreiwöchige Pause eingehandelt, weil er sich dabei die Schulter auskugelte. Schlimmer geht immer: Elkin Soto, seinerzeit in Diensten des FSV Mainz 05, erlitt einen Hexenschuss – wohlgemerkt nach dem Training, nämlich beim Binden seiner Schuhe. Das gleiche Accessoire wurde auch dem Baseballprofi Will Smith zum Verhängnis: Beim Versuch, einen Schuh auszuziehen, erlitt er einen Außenbandriss im Knie.

Wie sich hier schon andeutet, liegt die Wahrheit im Falle von Verletzungen nicht ausschließlich auf dem Platz, sondern oft exakt dort, wo der Legende nach die meisten Unfälle passieren: Im Haushalt.

Der Baseballspieler John Smoltz wollte ein Shirt bügeln. Wie es ihm gelang, mit diesem alltäglichen Vorgang Schlagzeilen zu generieren: Er trug es noch am Körper. Ich frage mich, wie er sich verhalten hätte, wenn er das Shirt vorher noch hätte waschen wollen.

Ich mag nicht ungerecht erscheinen. Schließlich habe ich selbst auch schon die eine oder andere Entscheidung getroffen, die sich nachträglich als nicht der Weisheit letzter Schluss entpuppte. Trotzdem bilde ich mir ein, dass dieser Vorfall nicht in die Kategorie „Hätte jedem von uns passieren können“ fällt.

Zurück zum Fußball: Die ganz hohe Kunst des Missgeschicks demonstrierte Robbie Keane. Wo andere Sportler Fremdeinwirkung, eine Mülltonne oder wenigstens eine heruntergefallene Seifenschale benötigen, um sich selbst größtmöglichen Schaden zuzufügen, reicht Keane eine Fernbedienung. Ausgepowert vom Training und nicht willens oder in der Lage, sich noch einen Millimeter zu bewegen, versuchte er, mit seinem Fuß an die Fernbedienung zu gelangen. Er musste einsehen, dass ein guter Fußballer nicht zwangsläufig ein Akrobat ist, als das Resultat seiner Bemühungen feststand: Doppelter Bänderriss.

Regeneration ist wichtig, birgt aber auch Gefahren. So kommentierte Uwe Klimaschefski als Trainer des FC Saarbrücken einst den Ausfall eines seiner Schützlinge trocken: „Er hat sich im Bett verletzt. Wie er das gemacht hat, weiß ich allerdings nicht.“

Dass der nächste Gegner immer der schwerste ist, gilt als Binsenweisheit. Was aber, wenn dieser Gegner nicht Borussia, Fortuna oder Lokomotive heißt, sondern, Auto, Badezimmer oder Haustier?! Man ahnt angesichts mancher Beispiele vielleicht auch, dass bei den Angaben zu den Ursachen Dichtung und Wahrheit nicht immer zweifelsfrei auseinanderzuhalten sind. In manchem Fall könnte der tatsächliche Ablauf nicht nur glaubwürdiger, sondern auch weniger peinlich sein als der geschilderte. Andy Carroll zum Beispiel gab sich gar nicht erst die Mühe, das Warum seiner Oberschenkelverletzung in irgendeiner Weise zu beschönigen, als er vom Barhocker gefallen war.

Schlussendlich gibt es noch die Fälle, bei denen der Beobachter denkt: Falls das eine Ausrede ist, will ich den wirklichen Grund besser gar nicht erst wissen. In diese Kategorie fallen in die Nase gerammte Autoantennen oder durch Niesen hervorgerufene Bauchmuskelzerrungen. Oder dieser besonders schöne Fall: Darius Vassell hatte eine Blutblase, die aufzustechen sich als schwierig gestaltete, weil sich noch ein Zehennagel darüber befand. Der englische Stürmer dachte sich: Für genau solche Fälle habe ich mir doch irgendwann einmal eine Bohrmaschine zugelegt…

Okay, hier in Offenbach wird man wahrscheinlich eine überdurchschnittlich hohe Zahl an Menschen finden können, die fragt „Und – was ist daran jetzt so außergewöhnlich?“ Trotzdem: Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man glatt annehmen, Sport macht vor allem dumm. Dass bei dieser Aktion natürlich auch der Zeh selbst in Mitleidenschaft gezogen wurde, kann angesichts der Absurdität des gesamten Vorhabens ohne Verdacht auf Zynismus als Kollateralschaden abgehakt werden. Zur Entkräftung von Vorurteilen über mangelnde Intelligenz von Fußballern war diese Nachricht jedenfalls ein eher kontraproduktiver Beitrag.

Aber solange das Herz-Kreislauf-System bestens in Form ist, kann ja nichts passieren.

Offenbach ist überall

Sollte das Gerücht stimmen, wonach jeder das bekommt, was er verdient, müsste ich demnächst dringend abklären, aufgrund welcher meiner Vergehen mir diese Woche folgende Begegnung widerfuhr: Auf dem Weg zu einer Verabredung kam ein fremder älterer Mann mit der Frage „Wo ist Offenbach?“ auf mich zu.

Während ich auf der Arbeit inzwischen oft höchstens noch dann überhaupt angesprochen werde, wenn es sich gar nicht vermeiden lässt, scheine ich in der Freizeit eine gewisse Kompetenz auszustrahlen, die jedem Dahergelaufenen signalisiert: Dem da vorne kannst Du jeden Mist erzählen. Als ich einmal in einem großen Fahrradgeschäft – wie ich zugeben muss: relativ uninspiriert – ein bestimmtes Modell betrachtete, wurde ich von einer Frau unvermittelt in ein Gespräch darüber verwickelt. Das ging ein paar wenige Sätze hin und her, bis sie mir einigermaßen diplomatisch zu verstehen gab, dass ich für einen Verkäufer erstaunlich schlecht über dieses Rad informiert wäre.

Es gibt ja unter Verkäufern unterschiedliche Typen. Ein paar wenige Übermotivierte sprechen Dich in einem je nach Sichtweise geeigneten oder ungünstigen Moment an, in dem Du noch nicht einmal ahnst, dass Du am Ende des Gesprächs wieder irgendwas gekauft hast, was Du an und für sich nicht gebraucht hättest. Einen guten Verkäufer zeichnet es auch aus, dass ihm eigentlich egal ist, welches Produkt er unter die Leute bringen soll – er macht es einfach. Einem schlechten Verkäufer ist es eigentlich auch egal, was er – in diesem Fall: nicht – verkauft. Im Wissen, dass er sehr wahrscheinlich auch dann nicht besser bezahlt wird, wenn er seine Kundschaft seriös und kompetent berät, bemüht er sich nach Kräften, so abwesend wie gerade möglich zu wirken. Und für so jemanden hatte diese Frau mich gehalten! Ich habe nie darüber gesprochen, was das in mir ausgelöst hat, habe aber mit einer für mich typischen Verzögerung von drei bis vier Jahren daraufhin begonnen, an meiner Wirkungskompetenz zu arbeiten.

Das freilich hat mich, wie man sieht, nicht davor bewahrt, mitten in Offenbach plötzlich einem Menschen gegenüberzustehen, der sich von mir eine befriedigende Antwort auf seine Frage, wo Offenbach ist, erhoffte. Er deutete auf einen Wegweiser an der Straßenkreuzung und sagte: „Rechts ist Frankfurt und Heusenstamm.“

Tatsächlich war auf dem Schild nicht ein einziger Hinweis auf Offenbach zu finden. Was in diesem Fall zwar streng genommen eher ein beruhigendes Zeichen ist, mich aber dennoch dazu brachte, mich einen angemessenen Augenblick lang mit den Fragen „Wo bin ich hier eigentlich“, „Warum sind wir hier“ und „Wer wird Meister, wer steigt ab“ zu beschäftigen.

Aber was bitteschön sollte ich dem Mann jetzt antworten? Solch eine bescheuerte Frage habe ich selbst auf der Arbeit noch nicht gehört, wo bei so manchem Kollegen der Support fürs Betriebssystem ganz offensichtlich bereits vor einiger Zeit eingestellt wurde. Ich erinnerte mich daran, dass Goldfischen stets nachgesagt wird, nach nur drei Sekunden all ihr innerhalb dieser Zeit angeeignetes Wissen wieder vergessen zu haben. Ich erinnerte mich jedoch auch daran, dass man inzwischen weiß: Ein Goldfisch kann sich sogar an Dinge erinnern, die drei Monate zurückliegen. Die Theorie, dass dem fremden Mann versehentlich oder vorsätzlich ein Goldfischgehirn eingesetzt worden sein könnte und er deswegen einfach nur vergessen hat, dass er sich bereits in Offenbach befindet, konnte ich demnach verwerfen. Gleichzeitig vergegenwärtigte ich mir in diesem Moment zum ersten Mal, wie weit ein Goldfisch mit dieser Gedächtnisleistung einigen Kollegen tatsächlich überlegen ist. Das ist einem ja oft gar nicht so bewusst. In anderem Zusammenhang hatte ich erst kürzlich die Überlegung geäußert, wenn ich sagen dürfte, was ich wollte, hätte sich schon so mancher Kollege genauer überlegt, ob er sich noch einmal irgendwo als Lagerist bewerben soll.

Genau genommen würde sich womöglich der eine oder andere niemals wieder überhaupt irgendwo bewerben.

Ich überlegte, was dieser ältere Mann wohl in einem Bewerbungsgespräch auf die Standard-Begrüßungs-Floskel „Haben Sie gut hergefunden“ antworten würde. Ich überlegte aber auch, ob solche Gehässigkeiten am Ende gar nicht Folge, sondern wenigstens zum Teil Ursache der täglichen Negativerfahrungen in meinem Berufsalltag sein könnten. Jedoch war – das war ich durchaus bereit, mir einzugestehen – keine dieser Überlegungen bis hierhin geeignet, dem Mann bei seinem Problem in irgendeiner Weise weiterzuhelfen. Der kurzzeitig aus den Augen verlorene Leitgedanke war ja nach wie vor: Wo ist Offenbach?

Wahrscheinlich werde ich niemals mehr im Leben einen Moment erleben, in dem die Phrase „Der Weg ist das Ziel“ angebrachter sein wird als sie es in besagter Situation gewesen wäre. Stattdessen sage ich aber: „Ich kann Sie beruhigen. Rechts ist Offenbach, links ist Offenbach, geradeaus ist Offenbach. Sogar hinter Ihnen ist Offenbach.“

Insgesamt – so viel Feingefühl, dies zu erkennen, habe ich scheinbar gerade noch – schien ihn meine Antwort nicht zu überzeugen. Zwar werde ich nie erfahren, was genau er sich in dem Moment gedacht hat. Realistisch betrachtet war es allerdings sehr wahrscheinlich nichts, was irgendwie als Eingeständnis der Sinnlosigkeit seiner Frage ausgelegt werden könnte. Denn seine Ankündigung „Okay, dann frage ich nochmal jemand anderes“ kann durchaus so interpretiert werden, dass er in diesem Fall weiterhin eher Teil des Problems anstatt Teil der Lösung bleiben wollte. Mehr als geschildert konnte ich für den Mann nicht mehr tun; es trennten sich unsere Wege. Ich zog weiter durch Offenbach, er durch irgendwelche hoffentlich spannende Paralleluniversen.

Mein Fazit in fünf Thesen:

1. Viele Wege führen nach Offenbach

2. Noch viel mehr Wege führen durch Offenbach

3. Zur Klärung der Frage, ob jeder das bekommt, was er verdient, kann diese Anekdote leider nichts beitragen

4. Ohne wirklich etwas dafür zu können, habe ich es erneut geschafft, am Ende so dazustehen, als ob ich der Idiot wäre und nicht der Typ

5. Dass viele Männer so ungern nach dem Weg fragen, könnte damit zusammenhängen, dass sie sich nicht vorstellen können, eine befriedigende Antwort zu erhalten

Unbeeindruckend!

Sollte ich irgendwann einmal behaupten, ich würde in erster Linie für mich selbst schreiben, bliebe für diese Mitteilung nur wenig Interpretationsspielraum. Koketterie oder Resignation – zwischen diesen beiden Polen gibt es schlicht keinen Anlass, eine solche Aussage zu treffen. Entweder hat man ein Publikum mit einer gewissen Größe aufgebaut (oder auch durch Zufall erlangt). Dann erinnert eine solche Phrase an die gern ebenfalls ungefragt in den Raum geworfene Bemerkung, Geld sei nicht das wichtigste im Leben. Eine Aussage, die umso leichter über die Lippen geht, je mehr davon vorhanden ist und also hauptsächlich von Leuten getätigt wird, die sich über dieses Thema keine Gedanken machen müssen. Einen Standpunkt muss man sich eben auch erst einmal leisten können.

Am anderen Ende steht die Masse der Erfolglosen und klagt über mangelnde Reichweite als eine der wichtigsten Kennzahlen der Gegenwart. Wenn aus dieser Ecke der Spruch kommt, man schreibe lediglich für sich selbst, mag man das im Falle der Untalentierten als konsequent und im Falle der Unentdeckten als ungerecht empfinden. In jedem Fall aber steckt mehr Wahrheit in der Behauptung als einem lieb sein kann. Hier noch von einer bewussten Entscheidung zu sprechen, erfordert entweder ein gehöriges Maß an Realitätsverdrossenheit oder einen recht speziellen Humor.

Denn natürlich will wahrgenommen werden, wer Stunden, Tage, Wochen an einem Text gesessen hat. Niemand bringt seine Gedanken zu Papier, um selbiges anschließend in einer Schublade abzulegen. Ohne die Existenz eines entsprechenden Bedürfnisses nach Aufmerksamkeit wäre die Menge an Information nicht dermaßen explodiert, seit die Möglichkeiten, sich (nicht nur schriftlich) auszutoben, so einfach geworden sind, dass selbst ich regelmäßig meine Gedanken der uninteressierten Öffentlichkeit präsentieren kann. Dass ein großer Teil vielleicht besser unausgesprochen oder unveröffentlicht geblieben wäre, ändert daran zunächst nichts. Aber selbstverständlich geht es um Bestätigung. Um Anerkennung zu erlangen, tun die meisten Menschen sogar Dinge, die weit weniger Aufwand erfordern.

Nehmen wir die berüchtigten sozialen Netzwerke. Sofern ich meine Bemühungen bei der Suche nach Bestätigung zutreffend analysiert habe, unterscheidet mich in dieser Hinsicht zunächst weniger von anderen Akteuren als ich mir eigentlich einzugestehen bereit bin. Nehme ich allerdings meine Blogeinträge, kann ich mir die Situation leichter schönreden. Auffällig: Ich investiere mehr Zeit. Viel Zeit. Aus der Literatur zum Thema Zeitmanagement ist ja die 80/20-Regel geläufig. Sie besagt, dass mit 20 Prozent des Einsatzes bereits 80 Prozent des Ergebnisses erzielt werden. Um die weiteren 20 Prozent herauszukitzeln, müsste man unverhältnismäßig hohe 80 Prozent aufwenden.

Ich könnte also mit einem Fünftel des zeitlichen Aufwandes einen soliden Text schrauben. Bloß sind es meiner Erfahrung nach gerade die restlichen 20 Prozent, die aus einem soliden, meinetwegen auch sehr guten Text einen hervorragenden Text machen, weshalb der zeitliche Mehraufwand von 80 Prozent aus meiner Sicht absolut gerechtfertigt ist.

Für etwas Bestätigung wäre es einfacher, sich in ein Café zu setzen und ein Foto der Plörre, die einem dort serviert wird, zu posten, selbstverständlich nicht ohne den Hashtag „quality time“. Ein einzelnes gewöhnliches Bild kommt der durchschnittlichen Aufmerksamkeitsspanne eben eher entgegen als ein Text von 1.500 Wörtern.

Natürlich hat auch ein Bild mitunter seinen Preis. Wer hätte zum Beispiel noch vor zehn Jahren geahnt, dass es heutzutage ein Geschäftsmodell sein kann, einen Privatjet zu vermieten, ohne dass dieser überhaupt abhebt. Um sich für ein instagrammables Foto aus dem Flugzeuginnern in Szene zu setzen, muss die Kiste auch nicht fliegen, so weit reicht der Einfluss der Umweltbewegung inzwischen immerhin schon.

Man könnte an dieser Stelle etwas von der „Jugend von heute“ murmeln und den Fall somit als erledigt betrachten. Immerhin gibt es Phänomene der Gegenwart, die unsere Gesellschaft ernsthafter bedrohen als der Umstand, dass gegenwärtig Influencer als Berufswunsch so selbstverständlich ist wie es für unsere Generation Astronaut oder Schauspieler gewesen ist, bevor man letzten Endes Busfahrer oder irgendwas in der Art wurde. Genauso wird auch die Mehrheit der Generation Instagram schon noch rechtzeitig lernen, wie man das Bedürfnis nach Bestätigung etwas subtiler auslebt. Thema bleibt es so oder so:

In meiner Eigenschaft als Vorgesetzter bekam ich ja auch schon zu hören, ich müsste meine Kollegen mehr loben. Das sei wichtig. Also tat ich, was jeder charismatische Leader in dieser Situation tun würde: Theorie wälzen. In einer Statistik, die ich nicht selbst gefälscht habe, wurde ich fündig: Zwei Drittel der Beschäftigten bekommen niemals gesagt, dass sie einen guten Job machen, dass sie wichtig für das Unternehmen sind. Jetzt kann ich aus dem betrieblichen Alltag folgende Beobachtung gegenüberstellen: Fast zwei Drittel der Beschäftigten machen keinen guten Job und sind für das Unternehmen nicht wichtig. Zufälle gibt’s. Motivieren kann ich. Kann man eben nicht lernen. Man hat´s drauf oder eben nicht.

Ich möchte nicht ungerecht erscheinen: Es liegt in der Natur der Sache, dass die Beurteilung, ob es die Vorgesetzten oder die Untergeordneten sind, die alle keine Ahnung haben, im wesentlichen davon abhängt, welche Seite man fragt. Fakt ist aber auch, dass gerade im Bereich Lagerlogistik verstärkt mit Kollegen zu rechnen ist, deren Kernkompetenz darin besteht, anderen die Luft wegzuatmen. Eigentlich müsste also ich gelobt werden, nämlich für die Selbstbeherrschung, nach 20 Jahren Lagererfahrung immer noch keine Anklage wegen eines Tötungsdelikts auf dem Konto zu haben. Ob ich im Laufe dieser Zeit ruhiger geworden bin oder das Gegenteil der Fall ist, sollten andere, am besten vielleicht kompetente Nervenärzte, beurteilen. Aber eines – immerhin – ist geblieben: Nach wie vor weigere ich mich, bloße körperliche Anwesenheit schon als anerkennenswerte Leistung zu betrachten.

Sollte ich also irgendwann einmal behaupten, ich würde in erster Linie für mich selbst schreiben, ist es nicht einmal unwahrscheinlich, dass das Schreiben dann therapeutischen Zwecken dient.

Vielleicht tut es das ja aber auch bereits jetzt, und ich weiß nur noch nichts davon.

Was Sie schon immer über Sex wissen wollten

Es wäre nicht das erste Mal, dass in meinem Leben etwas gehörig schiefgeht, aber wenn alles ansatzweise nach Plan läuft, werde ich in einer Woche genau seit einem Jahr wieder in einer festen Beziehung sein. Und so sehr ich verstehen kann, dass sich Einige jetzt für mich und mit mir freuen – ich erwarte dafür keinen Applaus. Eher Mitleid. Schließlich kann ich seitdem hier nicht mehr über fahrlässig oder vorsätzlich versemmelte Dates schreiben, wenn mir ansonsten kein vernünftiges Thema einfallen mag. Über derlei Konsequenzen macht man sich ja üblicherweise keine Gedanken, bevor man eine Partnerschaft beginnt. Und ehe man sich versieht, schreibt man dann wieder über kuriose Beobachtungen aus der Tierwelt.

Wenn beispielsweise Pinguine ein Date haben, ist das Männchen gut beraten, einen Kieselstein mitzubringen. Dekoration hat auf Frauen eine magische Wirkung. Da unterscheiden sich Mensch und Tier praktisch überhaupt nicht, und das erklärt nebenbei auch den Erfolg von Männern, die mit Hundewelpen posieren. Bei Flusspferden dagegen kann Mann mit beidem nicht punkten. Dort geht die Beziehungsanbahnung deutlich rustikaler vonstatten: Zwar halte ich es nach wie vor für unangemessen, im Zusammenhang mit einem bis zu vier Tonnen schweren Koloss einen Diminutiv zu gebrauchen, aber jedenfalls markiert das „Männchen“ sein Revier durch möglichst weiträumiges Verteilen seiner Exkremente. Dies geschieht, indem der Schwanz während der Entleerung des Darms propellerartig rotiert und die einzelnen Brocken tendenziell unkoordiniert durch die Gegend schleudert. Als ob Leben am Fluss nicht schon seit jeher seinen ganz eigenen Charme hätte, benötigt man für maximalen Eindruck bei der Flusspferd-Dame von Welt zusätzlich solchen fäkalen Klimbim. Angesichts solcher eindrucksvollen Performances muss es einem als Mensch eigentlich fast schon peinlich sein, dass bei uns inzwischen der erste Schritt zum Paarungsglück eine ordinäre Wischbewegung auf dem Smartphone ist.

Doch wenn man möchte, kann man andernorts auch wieder Gemeinsamkeiten zwischen Mensch und Tier erkennen. Denn scheinbar geht auch bei manchen Tierarten Liebe durch den Magen. So bringen zum Beispiel männliche Listspinnen zum Date Beute zum Fressen mit. Dass man bei solchen Gastgeschenken kaum noch glaubwürdig von einem tierfreien Nichtraucherhaushalt sprechen kann, wenn man als Spinnenpaar irgendwann einmal in ein gemeinsames Netz zieht und überflüssige Einrichtung verscherbeln will, ist dabei nicht einmal das größte Problem. Eher schon dass die Dame des Herzens während des Aktes an dem Mitbringsel knabbert und dass ohne den mitgebrachten Snack womöglich der Verehrer selbst auf dem Speiseplan landen würde. Kurzum: Das Interesse an dem Verehrer ist nicht so gewaltig, dass man schon die Hochzeitsglocken klingen hören könnte. Bevor jedoch das Mitgefühl mit dem Männchen allzu groß wird, sei darauf hingewiesen, dass mitunter der Rest des unromantischen Abendessens vom Männchen ganz pragmatisch wieder eingepackt und zur nächsten Verabredung mit einer anderen Dame mitgenommen wird.

Man bemerkt spätestens hier: Man muss die Tierwelt nicht idealisieren. Sicher gibt es Beispiele von monogamen Beziehungen, die einen dunkel an folgendes erinnern: Dass auch der Mensch häufig schon ewige Treue geschworen hat, bevor er allabendlich neben dem Adressaten dieses Schwurs liegt und nicht einschlafen kann vor lauter Grübeln, ob sich nicht eventuell doch noch irgendwo dort draußen etwas besseres finden ließe. Genauso sicher ist aber auch: Wenn es der Arterhaltung dient, sind Fremdgehen oder Vergewaltigungen unter Tieren akzeptable Verhaltensweisen – zumindest bei einem der Beteiligten.

Und dann gibt es die Bonobos. Während sich zum Beispiel Schimpansen als deren enge Verwandte eher das Motto „Bloß keinen Streit vermeiden“ auf ihr Familienwappen geschrieben haben, erinnert bei den Bonobos vieles daran, wie man sich – ganz gleich ob als Klischee oder als Ideal – eine Hippie-Kommune vorstellt: Sex dient seltener zur Fortpflanzung und eher zum Vergnügen, wahlweise auch zur Konfliktvermeidung. Küsse, Zärtlichkeiten und Oralsex mit wechselnden Partnern sind an der Tagesordnung, gleichgeschlechtlicher Sex vor allem unter Frauen ist komplett normal. Einzig dass unter Bonobos die Mütter ihren Söhnen auch bei der Brautschau helfen, beispielsweise indem sie andere männliche Bonobos vertreiben, wirkt auf den menschlichen Betrachter leicht verstörend. Wenn es eine Person gibt, deren Hilfe ich in solchen Fragen gerade nicht gebrauchen könnte, dann wäre das Mama. Aber gut – andere Länder, andere Sitten.

Homo- und Bisexualität sind allerdings kein Alleinstellungsmerkmal der Bonobos, sondern bei – je nachdem, wen man fragt – zwischen 500 und 1500 Arten bereits beobachtete Verhaltensweisen. Bei Delfinen sollte von diesem Befund niemand sonderlich überrascht tun, aber auch Pinguine gehören zu den Beispielen, die man zu diesem Thema gern erwähnt. Bei Flamingos ist es fast schon klischeehaft unwirklich, aber wahr. Giraffen, Seepferdchen – man merkt es ja beinahe schon anhand der Art, wie sie sich bewegen. Bisons fand ich in diesem Zusammenhang etwas überraschend, aber – wo die Liebe eben hinfällt…

Der Vollständigkeit halber darf das Thema unglückliche oder unerwiderte Liebe nicht verschwiegen werden. Spätestens als im Jahr 2006 im westfälischen Münster eine schwarze Schwänin eine recht einseitige Beziehung zu einem schwanenförmigen Tretboot begann, ist man zu diesem Thema einigermaßen sensibilisiert. Weiß der Geier, was sie sich dabei gedacht hat, aber diese Liaison hielt immerhin eineinhalb Jahre.

Dokumentiert ist eine weitere Beziehung zu einem artfremden, immerhin aber echten Schwan, bevor sie schließlich verschwand und später ausgemergelt in einer Tierauffangstation abgegeben wurde. Ohne größeren Widerspruch zu ernten, könnte man demnach behaupten, dass auch im Leben dieser Schwänin einiges gehörig schiefgegangen ist. Man kann aber auch von einem Happy End sprechen, weil sie dort nicht nur wieder gesundgepflegt wurde, sondern auch auf ihren neuen Partner traf. Sie hat einen Nachkommen ausgebrütet, der zumindest eine Zeitlang – Achtung, Pointe – eine Ente als ständige Begleiterin hatte.

In diesem Sinn bleibt nur zu sagen: Es spielt keine Rolle, was Eure Partner darstellen, woher sie kommen, welche Sprache sie sprechen, ob sie dick sind oder kurz oder meinetwegen sogar OFC-Fan. Solange Ihr über den gleichen Mist lachen könnt, ist es wahrscheinlich, dass Ihr eines Tages sagen könnt: Ente gut, alles gut!

Willkommen daheim!

Man weiß nie, was einen erwartet. Klar – jeder weiß, wo im Ort die besten Fritten serviert werden. Auch dass das nächste Spiel immer das schwerste Spiel ist, gehört zu den inzwischen nicht mehr umstrittenen Gewissheiten. Von diesen und wenigen anderen Beispielen abgesehen, gibt es also nur sehr wenige Anlässe, bei denen man vorher sehr genau sagen können wird: „Das wird mit Sicherheit eine großartige Sause!“ Nehmen wir als Beispiel das eigene Ableben. Wenn man daran glaubt, dass danach noch etwas Gescheites kommt, wird man eher geneigt sein, die Erwartungen an das Leben vor dem Tod etwas herunterzuschrauben. Wenn man nicht daran glaubt, dass den Sterbenden hinterher noch etwas Relevantes erwartet, wird man zwar am Ende womöglich nicht so sehr enttäuscht. Gleichzeitig steigt allerdings der Druck, die Zeit davor so sinnvoll wie möglich zu nutzen. Die Gesellschaft, in die wir hineingeboren wurden, schlägt als Antwort auf dieses Problem üblicherweise Konsum vor.

Es mag sein, dass das alles für das Thema des Textes nicht von Belang ist, aber – richtig: Man weiß nie, was einen erwartet. Und nirgendwo ist die Kluft zwischen Realität und Erwartungen so gewaltig wie beim Thema Urlaub. (Der eine oder die andere hat eventuell schon geahnt, wohin die Reise diesmal thematisch gehen wird,)

Fast schon traditionell verbringe ich meinen Urlaub dort, wo andere wohnen. Also in einer durchaus liebenswerten Stadt, in der nicht nur Menschen aus über 150 Nationen, sondern auch ich selbst wohne. Bei einem Urlaub daheim ist zwar auch oft nicht ganz klar, was einen erwartet. Immerhin aber wird einem seltener etwas versprochen, was nicht gehalten werden kann. Man kennt sich aus. Es ist jedes Mal beinahe so, als ob man nach Hause kommt.

Wirklich repräsentativ im Sinne von „Ich bin, was ich zeige“ ist dieses Urlaubsziel selbstredend nicht. Kein Freund, keine Kollegin wird nach der Rückkehr erwartungsvoll auffordern: „Jetzt erzähl´ ´mal..!“ Wenn ich wollte, könnte ich den Urlaub zuhause als Ausdruck eines sehr konsequenten minimalistischen Lebensstils verkaufen. Das passt zwar nur in Ansätzen damit zusammen, dass ich bis jetzt jeden Tag dieses Urlaubes in Second-Hand-Läden auf der Suche nach vorzeigbaren Klamotten war, aber wird Glaubwürdigkeit in diesem Land nicht ohnehin noch extrem überbewertet?!

Dabei wäre Minimalismus ein durchaus passables Werkzeug, nicht nur den Haushalt, sondern das komplette Leben etwas übersichtlicher zu gestalten. Wenn das dann dazu führen würde, komplexere Sachverhalte auch jenseits des eigenen Mikrokosmos besser zu verstehen, wäre diese Lebensweise eine perfekte Empfehlung für die nervigen entrüsteten dauernörgelnden Besserwisser allüberall: Häuft weniger Müll an, dann kommt automatisch weniger Müll aus Euch heraus, wenn Ihr Eure Klappe aufmacht. Entrümpelt Euer Leben, dann habt Ihr auch mehr Zeit, Eure Meinung zu gesellschaftspolitischen Zusammenhängen nicht lediglich anhand von zwei bis drei Internet-Memes bilden zu müssen.

Nun ist das Aufregen über solche Menschen natürlich auch kein Konzept für einen nachhaltig erholsamen Urlaub. Also beschäftigt man sich mit Dingen, die im Alltag allzu häufig untergehen. Wenn dann noch die unangenehmen Aufgaben wie Behördengänge ausgeklammert werden, weil man ja schließlich nie weiß, was einen dort erwartet, bleiben neben Shopping aktuell das Üben auf der Gitarre sowie Gedächtnistraining übrig.

Auf der Gitarre scheine ich wirklich gute Fortschritte zu machen. Zumindest kann ich mir das anhand der Reaktionen meiner Haustiere einreden: Zwar siegt beim Kater der Fluchtinstinkt über die Neugier. Der Hund dagegen bleibt treu an meiner Seite liegen. Man muss dazu natürlich wissen, dass der Hund 15 Jahre alt und fast taub ist, das relativiert manches. Der hat in dem Moment wahrscheinlich einfach nur die Stille genossen. So ungefähr müssen sich alternde Bühnenkünstler fühlen, die irgendwann merken: Wenn als Publikum nur noch diejenigen bleiben, die entweder schon gar nichts mehr mitbekommen oder einfach nicht ohne fremde Hilfe flüchten können, ist die Chance, den Absprung rechtzeitig zu schaffen, wohl vorbei. Vielleicht kommen daher ab einem bestimmten Stadium des künstlerischen Schaffens Auftritte im Seniorenheim insgeheim gar nicht mehr so ungelegen: Wenn ein Großteil der Gäste nicht mehr im Vollbesitz seiner geistigen und körperlichen Kräfte ist, wäre es fast schon eine Kunst für sich, einen Saal wirklich leer zu spielen.

Echte Erfolgserlebnisse dagegen machen wir beim Gedächtnistraining. Allerdings gewinnt man hin und wieder den Eindruck, dass diese Disziplin hauptsächlich Antworten auf Fragen gibt, die niemand gestellt hat. Dass wir den Namen des Künstlers Israel Kamakawiwo´ole oder die Zahlenreihe
35 17 26 47 52 60 63 29 48 33 fehlerfrei aufsagen können, wird uns – selbst wenn man nie weiß, was einen erwartet – für den Rest des Lebens sehr wahrscheinlich nur einen geringen Vorteil verschaffen.

Ungeklärt ist auch, welchen Nutzen ich davon habe, mir die Telefonnummer eines Bekannten ein Leben lang merken zu können, wenn ich diesen Bekannten schon zehn Jahre nicht mehr leiden mag und ich seine Nummer am liebsten einfach vergessen würde, dies aber nicht kann.

Das nächste Versprechen, das unser Gedächtnistrainer gibt: Nie wieder beim Einkaufen etwas vergessen. Was soll das denn jetzt?! Wenn meine Freundin und ich einkaufen gehen, kommen wir doch sowieso schon immer mit mehr Sachen ´raus als ursprünglich geplant. Für das Einkaufen bräuchten wir demnach eigentlich ein Vergessens-Training.

Kommen wir zum ursprünglich geplanten Thema. Ich gebe zu: Dass gegen Ende des Textes das Geständnis kommt, dass man eigentlich ein ganz anderes Thema habe behandeln wollen, ist vor dem Hintergrund, dass man zwei Absätze vorher gerade erst seine Erfolge beim Gedächtnistraining gefeiert hat, etwas irritierend. Allerdings kam mir über den Fragen, ob Schreiben oder Shoppen glücklicher macht und was eigentlich wäre, wenn Shoppen am Ende doch glücklich machte, zufällig diese Studie in die Quere: Auch Selbstüberschätzung macht glücklich. Das Problem besteht also nicht nur darin, dass die Größenwahnsinnigen den wirklich Großartigen auf die Eier gehen. Sondern dass es ihnen dabei auch noch gut geht. Das ist nicht gerecht. Und was noch weniger gerecht ist: Dass ich auf der Arbeit – neben etlichen fantastischen Kollegen – mindestens zweieinhalb solcher Exemplare habe. Zum Glück habe ich noch eine weitere Woche Urlaub. Darauf lässt sich aufbauen.

Auch wenn man natürlich nicht wissen kann, was einen noch erwartet.

Manchmal will man es auch besser gar nicht wissen.

Hutprobe

Wer nicht nur gelegentlich auf das Automobil als Fortbewegungsmittel zurückgreift, kennt diese Situation: Das vorausfahrende Kraftfahrzeug ist durch ein schwer nachvollziehbares Fahrmanöver unangenehm aufgefallen. Meistens bleibt es bei dieser einen Aktion, aber bevor man das Ganze einfach abhakt und vergisst, möchte man sich lieber weiter hineinsteigern. Und wem Merkmale wie Fahrzeugtyp oder Ortskennzeichen noch nicht für die Kombination aus Kopfschütteln und der Bemerkung „typisch“ reichen, der wartet auf eine Gelegenheit, irgendwann neben dem inkriminierten Fahrzeug fahren oder wenigstens stehen zu können. Sodann wird man – ohne dass man sich dagegen überhaupt wehren könnte – mehr oder weniger unauffällig ´rüberschauen und eruieren, mit welchem Pflegefall von Autofahrer man es diesmal wieder zu tun hat. Manchmal blickt man dann auf Exemplare, denen die Intelligenz förmlich ins Gesicht geschrieben steht und wundert sich über gar nichts mehr. Aber eigentlich möchte man ja sehen, dass der Fahrzeuglenker nicht einfach nur geistig minderbemittelt ist, sondern einem Personenkreis angehört, dem man sowieso keinen besseren Fahrstil zugetraut hat: Senioren, Frauen, Kinder.

Experten werden an dieser Stelle einen weiteren Fall zu ergänzen wissen, in dem es gar nicht notwendig ist, auf Lenkradhöhe aufzuschließen: Wenn man von hinten schon um die Kopfstütze des Fahrers herum die charakteristische Silhouette eines Hutes sich abzeichnen sieht, ist das Urteil schnell gefällt. Opa mit Hut! „Dass die überhaupt noch fahren dürfen“ gehört noch zu den harmloseren Werturteilen über diese Spezies.

Und genau das alles ging mir durch den Kopf, als ich neulich das erste Mal mit meinem frisch erworbenen Hut bekleidet ins Auto stieg. Vielleicht nicht ganz so strukturiert wie hier wiedergegeben, aber irgendwas ist bekanntlich immer.

Ich bin ja als Autofahrer eher so der Mensch, der sich an bestehenden Regeln orientiert. Das bedeutet konkret: Für die Mehrheit der anderen Fahrer bin ich ein Verkehrshindernis, weil jemand wie ich vor ihnen unterbindet, dass sie 110 Stundenkilometer fahren, wo 70 gestattet sind. Das ist ein Problem. Zugegeben: Für mich selbst zunächst weniger. Im Normalfall leidet der rückwärtige Fahrer mehr als ich darunter, dass unser beider Fahrweisen tendenziell schwierig unter einen Hut zu bringen sind.

Allerdings müssen im Straßenverkehr auf absehbare Zeit ohnehin neue Feindbilder etabliert werden. Die Opas mit Hut sterben nämlich im übertragenen wie auch im wörtlichen Sinn allmählich aus. Hüte spielen bei Alt und Jung eine bestenfalls marginale Rolle. Wenn man hierzulande über Kopfbedeckungen spricht, kommt man auf gerade noch zwei Accessoires, die man tragen kann, ohne aufzufallen: Baseballkappe und seit einigen Jahren Schiebermütze. Der Fahrradhelm ist selbstverständlich auch in der Mitte der Gesellschaft angekommen, läuft aber eher außer Konkurrenz mit.

Die Baseballkappe verleiht seinem Träger eine sportliche und jugendliche Ausstrahlung. Im Falle der seit einigen Jahren und also leider nicht mehr nur vorübergehend in Mode gekommenen Modelle mit ungebogenem, brettartigem Schirm ist es übrigens absolut legitim, jugendlich durch kindlich zu ersetzen. Dass ich selbst früher auch nicht viel intelligenter aus der Wäsche geschaut habe, wenn ich mein Käppi mit Schild nach hinten aufgesetzt habe, muss ich wohl auf meine Kappe nehmen. Heute jedenfalls ist mir mehr als zu jeder anderen Phase meines Lebens bewusst: 1. Sportlich war ich nie gewesen. 2. Jugendlich ist eine Weile her. Würden die Dinger nicht super zu Poloshirts passen, würde ich sie vermutlich nur noch beim Streichen des Zimmers tragen. Bei den meisten Hemden nämlich versagt die Baseballkappe kläglich.

Meine Abneigung gegen Baseballkappen wird dadurch verstärkt, dass die Teile eigentlich nach einem plakativen Aufdruck schreien. Etwas wie „Make Punkrock great again!“ oder „Viva la Renovation!“ Kurz – ein Statement. Das Problem dabei: dass in der Mode heute irgendwie gefühlt alles ein Statement ist; dass das Statement an sich dadurch im Prinzip schon wieder entwertet wird. In der Mode wäre auch das Hemd mit Baseballkappe ein Statement. Obwohl man doch genau weiß, dass die meisten Menschen eine solche Kombination absolut unironisch fabrizieren. Wie man durch Beobachtungen inzwischen herausgefunden hat, besteht das „Statement“ der absoluten Mehrheit darin, ihr mangelndes Stilbewusstsein durch das Zurschaustellen von teuren Markenklamotten zu kaschieren. Wen wundert es, dass mir regelmäßig die Hutschnur platzt, weil jede Geschmacklosigkeit zum „Statement“ aufgewertet wird?!

Alte Hüte

Als nützliches Utensil, das sowohl Arbeits- als auch Abendgarderobe passend zu ergänzen in der Lage ist, ist die Schiebermütze inzwischen das Mittel der Wahl. Im Grunde wäre es konsequent, in just dem Moment, in dem man merkt, dass man älter wird, die Sammlung an Baseballkappen gegen ein bis fünf Schiebermützen einzutauschen. Zwar muss man damit umgehen lernen, automatisch mit Leuten in einen Topf geworfen zu werden, mit denen für gewöhnlich niemand etwas am Hut haben will: Leider haben Hipster die Batschkapp als Ergänzung zu ihrer Uniform aus Vollbart und Hornbrille schon entdeckt, das heißt also auch negativ besetzt. Für die Batschkapp spricht jedoch, dass sie dieser einseitigen Vereinnahmung erfolgreich trotzt und alltagstauglicher Kopfschmuck für jedermann geblieben ist. Aber von der Vorstellung der Schiebermütze als Instrument zum Herausstreichen seiner Individualität muss man sich wohl leider verabschieden. Als Alleinstellungsmerkmal taugt die Schiebermütze definitiv nicht mehr. Wer eher diesem Motiv folgen möchte, sollte Mut zum Hut statt zur Mütze beweisen. Denn die „klassischen“ Hüte, über Jahrzehnte Symbolbild für Musiker, alte Säcke oder Menschen, deren Dachschaden selbst durch einen Hut nur schwer zu verbergen ist, schwammen sich in den letzten Jahren von solchen Zuordnungen frei. Da ich mich trotz formaler Zugehörigkeit zu einer Rockband in jungen Jahren sowie gerade überstandenem Gitarrenkurs an der VHS nicht ernsthaft einer dieser genannten drei Gruppen zuordnen kann beziehungsweise will, kommt mir dieser Wandel entgegen. Von den beiden anderen Alternativen wäre andernfalls die Einordnung als alter Sack die schmeichelhaftere gewesen, um meine soeben neu erworbene Vorliebe für Hüte begründen zu können. Ich denke, solange man nicht gleichzeitig beginnt, beigefarbene Anglerwesten zu tragen, wird man im Bus auch trotz Hut nicht umgehend einen Sitzplatz angeboten bekommen.

Wenn der Hut langsam wieder gesellschaftsfähig wird, läuft man als Hutträger auch nicht mehr Gefahr, für einen verzweifelten Single gehalten zu werden. Irgendwelche selbsternannten Flirtgurus haben nämlich irgendwann folgenden Trick aus dem Hut gezaubert: Männer, setzt Euch einen Hut auf, dann fallt Ihr auf und wirkt interessanter und origineller.

Ich weiß nicht, wie viele Männer sich aufgrund solcher Tipps einen Hut zugelegt haben, habe aber im Leben schon einige junge Kerle mit so unfassbar schlecht sitzenden und schlecht kombinierten Hüten gesehen, dass ich dachte: Wow! Das ist ´mal ein Statement! Der traut sich was..! Da wurde die Hut- zur Mutprobe. Direkt in der Eckkneipe beim Gehen noch nach einem beliebigen dort hängenden Hut aus der Sammlung der vier jeden Abend dort anwesenden Tresenphilosophen gegriffen und dann gedacht „Halali! Jetzt kommt mein Durchbruch!“

Jetzt weiß ich als alter Sack natürlich durch so manche Erfahrung, dass es in wirklich einigen angebahnten oder vollendeten Beziehungen dermaßen irrelevant ist, was jemand IM Kopf hat, dass es tatsächlich einigermaßen plausibel erscheint, dass es wichtiger ist, was man AUF dem Kopf hat. Mir persönlich wirken solche Maßnahmen immer etwas – pardon! – aufgesetzt. Derweil die Frauenwelt selbst auf solche Versuche gespalten, tendenziell wohl aber eher ablehnend reagiert. Bemerkenswert ist jedoch, welche Begründungen dafür teilweise herhalten müssen. Das häufigst gebrauchte Argument lautet, der Mann wolle durch den Hut jünger wirken oder etwas kaschieren, und zwar in der Regel einen eher nur noch spärlich zu nennenden Haarwuchs.

Hut ab! Das hat mich dann überzeugt. Wie gut, dass Frauen solche Tricks nicht nötig haben. Wo kämen wir da hin, wenn alle ihre kleinen Makel einfach ´mal eben zu übertünchen versuchen würden. Wenn Schminke, Push-Up-BHs und Haartönung plötzlich wichtigere Werkzeuge wären als ein natürliches Auftreten?! Ich glaube manchmal, die meisten Frauen haben Männern einfach bis heute nicht verziehen, dass der eine Teil der Menschheit durch Wuchernlassen eines Vollbartes mit bescheidenen Mitteln ein Doppelkinn verstecken kann und der andere Teil eben nicht.

Wie man sieht: Im Pflegen von Vorurteilen unterscheidet sich Partnersuche nicht wirklich von Autofahren.

Bitte nicht nachmachen

Viele Freunde und Kollegen, hin und wieder aber auch manche Leser fragen sich (und mich) häufig, wie ich das alles erreicht habe: Unterbezahlter Job, Übergewicht, erfolgreiche Scheidung. Mein Hund ist nicht zu erziehen, mein Lieblingsfußballverein chronisch erfolglos. Ich kaufe mir technisches Gerät, das nicht funktioniert, und Klamotten, die mir nicht passen. Dazu habe ich noch in der unübersichtlichsten Gemengelage vor der Supermarktkasse den zielsicheren Instinkt, an welcher Schlange das Anstehen am längsten dauern wird. Es scheint, als ob alles, was ich anfasse, zum Misserfolg wird.

Eine erfreuliche Erkenntnis lautet: Misserfolg ist nicht gottgegeben, sondern erlernbar. Natürlich hat es auch ein bisschen mit Talent zu tun, aber ohne permanentes Training, ohne jahrelange Übung würden die Dinge nicht so schlecht laufen wie sie es tun. Selbst mir passiert es heute noch manchmal, dass etwas auf Anhieb gelingt. Solche Rückschläge gehören zum Leben einfach dazu, davon darf man sich gar nicht beeindrucken lassen. Diese Sachen muss man dann einfach so lange üben, bis sie nicht mehr funktionieren.

Es schließt sich die Frage an, wieso ich noch in meinem alten Job arbeite, obwohl ich doch als Misserfolgscoach anderen Menschen sehr viel nützliches Wissen vermitteln könnte. Die Antwort ist so einfach wie einleuchtend: Einen Beruf auszuüben, der wie für einen gemacht ist, widerspricht natürlich so ziemlich jedem Grundgedanken eines stringenten Misserfolgs-Konzeptes. Trotzdem möchte ich anderen Menschen helfen, endlich zuverlässig in die Misserfolgsspur zu kommen. Daher gibt es heute einige kostenlose Tipps für garantiertes Scheitern. Für alle, die das schnelle Desaster suchen – here we go:

Backt panierten Blumenkohl!

Das Rezept hierfür ist nicht so komplex, dass man spontan denken würde: „Ja, das kann ich bestimmt auch nicht, das sollte ich am Abend ´mal probieren“. Dafür ist die Angelegenheit zu simpel: Man braucht Blumenkohl und eine wie auch immer zusammengestellte Panade. Das einzige, was es wirklich zu beachten gilt: die Dinger nicht in Öl auf allen Seiten goldgelb zu braten, sondern dem Rat des wahrscheinlich einzigen Rezeptes weltweit zu folgen, in dem der Blumenkohl dann im Ofen gebacken wird. Weil panierte Lebensmittel am besten immer fettarm im Backofen gegart werden, bevor sie durch die herkömmliche Zubereitung am Ende zu viel Fett abbekommen. Wenn Ihr also einmal richtig Lust auf ein schnelles kulinarisches Debakel habt – ab in den Ofen. Im nächsten Abschnitt wird Euch sogleich verraten, in welchem Ort die Entsorgung der unfreiwillig unschmackhaften Leckereien den mutmaßlich geringsten Schaden anrichtet:

Fahrt nach Eschborn!

Bei der Auswahl des Ziels für einen sonntäglichen Ausflug kann man viel verkehrt machen. Am Ende kommt man nach ein paar Stunden nach Hause und hat sich unterwegs tatsächlich amüsiert oder hatte wenigstens einen relaxten Tag in angenehmer Atmosphäre. Wer möchte, dass die Freundin am Nachmittag richtig angepisst ist, für den ist die Skulpturenachse in Eschborn beinahe Pflicht.

Nicht dass Eschborn arm an Sehenswürdigkeiten wäre: Der Eschborner Stuhl, also ein 25 Meter hoher roter Stuhl als Wahrzeichen eines Möbelhauses, sowie ein idyllisch an der Autobahn 5 gelegener Aussichtsturm haben sich im Main-Taunus-Kreis Weltruhm erarbeitet und lassen erahnen, dass das bewährte Motto „Schlimmer geht immer“ in der Stadt im Frankfurter Speckgürtel authentischer gelebt wird als in jeder anderen deutschen Stadt.

Was den Besuch so einzigartig schlecht macht, liegt jedoch nicht etwa in mangelnder Qualität der präsentierten Werke begründet, sondern darin, dass der von der Gemeinde herausgegebene Flyer zur Dauerausstellung einen Stadtplan abbildet, der suggeriert, alles läge recht nah beieinander. Doch spätestens wenn man vom Stadtzentrum aufbricht und bis ins außerhalb gelegene Gewerbegebiet schon die ersten drei Kilometer verballert hat, bevor man das erste Kunstwerk überhaupt gesehen hat, ahnt man: Das könnte noch ein langer Tag werden.

Das Leitbild der Skulpturenachse: Kunst aus dem Museum zu holen und zu den Menschen zu bringen. Insofern ist es konsequent, das die Dinger teilweise in die Prärie eines Gewerbegebietes platziert wurden. Dass die Kunst bei den Menschen in Eschborn nicht angekommen ist, ergab auch eine nicht repräsentative Befragung im Rahmen unserer Suche nach den Skulpturen. Der Anspruch ist demnach ungefähr so gut umgesetzt wie meine ersten Gehversuche in Sachen panierter Blumenkohl. Schön, dass auch woanders nicht immer alles so klappt wie geplant.

Jetzt könnte man sagen: Schön und gut. Das hat Potential, anständig Lebenszeit von der Uhr zu nehmen. Aber wenn man sich nicht komplett bekloppt anstellt, hat man ja tatsächlich auch etwas gesehen, einen gewissen Gegenwert erhalten, wenn man in freudiger Erwartung dem Ortsausgangsschild entgegensteuert. Wenn man dagegen Zeit richtig sinnlos verschwenden will, darf am Ende außer Ärger nichts übrig bleiben. Ungefähr so wie beim Zusammenkippen von Cola und Bier, wenn aus zwei Getränken mit für sich genommen passablem Geschmack eine Brühe entsteht, die beide Getränke beleidigt statt veredelt. Daher gehen die nächsten beiden Tipps eher in Richtung dieser fundamentalistischen Schule des Scheiterns:

Bastelt eine Schale aus Laub!

Wie und warum ich letzten Herbst auf die Idee kam, meine Lebensqualität würde sich durch eine selbst gebastelte Schale aus Laub ganz erheblich steigern, kann ich heute selbst nicht mehr genau rekonstruieren. Wahrscheinlich kommt man auf solche Ideen, wenn man sowieso schon alles hat und auch nicht ständig nach Eschborn fahren möchte. Andere kommen in diesem Stadium ihres Lebens auf die Idee, einen vierstelligen Betrag für einen Grill auszugeben. Eine Schale aus Blättern ist dagegen schon wesentlich günstiger nicht zu bekommen: Außer den Blättern selbst wird lediglich noch ein Klebstoff aus den Zutaten Maisstärke, Zucker und Wasser benötigt.

Die ersten zehn Blätter werden einigermaßen enthusiastisch mit dem Kleber bepinselt, obwohl sich im Prinzip das spätere Endergebnis schon jetzt abzeichnet: Der selbst gezimmerte Leim hält nämlich nicht ansatzweise, was er verspricht. Doch es dauert nicht lange, bis aus der Ahnung Gewissheit wird und die Stimmung kippt. Wie der Volksmund immer treffend zu sagen pflegt: Zwischen „Das sieht so einfach aus, was soll da schon schiefgehen“ und „War ja klar, dass das nicht klappt“ liegt oft nur eine Handvoll Ahornblätter.

Dass es die angeblich simplen Dinge sind, die die größten Probleme bereiten, bestätigt sich eigentlich permanent und auch und gerade bei meiner letzten Inspiration für gepflegtes Scheitern:

Macht Snacks aus Kichererbsen!

Wenn wir die Vorbereitungszeit mit vorherigem Einweichen über Nacht und eineinhalbstündigem Kochen und anschließendem Trocknen außer Acht lassen, klingt das mit den Kichererbsen in der Tat nach einem Rezept mit relativ geringem Schwierigkeitsgrad: Die Erbsen eine Zeitlang in den Backofen, danach mit ein paar Esslöffeln Olivenöl beträufeln und zum Schluss mit einer vorbereiteten Gewürzmischung vermengen – fertig!

Kichererbsen gelten als Sattmacher. Das können wir so nicht bestätigen. Wir konnten gar nicht satt werden, weil wir die komplette Fuhre auf relativ direktem Weg in die Biotonne befördert haben, so schlecht hat das geschmeckt. Gesund sollen die Dinger auch sein. Aber heiligt der Zweck hier auch die Mittel?! Vor allem: Wie gesund kann etwas sein, das im Wesentlichen nach Staub schmeckt? Wenn ich durch Ersticken sterben wollen würde, wäre irgendetwas aus Kichererbsen das Mittel der Wahl.

Dass Gerichte mit dem Hauptbestandteil Kichererbsen körperliche Zustände herbeiführen, in denen man dankbar ist, irgendetwas Flüssiges in greifbarer Nähe zu haben, sollte jedem bekannt sein, der einmal Hummus oder Falafeln probiert hat. Wenn man dann aber diese Snacks hat und sich fragt, ob da außer den Hülsenfrüchten tatsächlich nur Gewürze dabei sind oder ob man versehentlich den Staubsaugerbeutel über ihnen entleert hat, wird einem zumindest eines klar: Warum die Menschen sich lieber von Chips und Schokolade ernähren und Nachteile gesundheitlicher wie figürlicher Art dafür in Kauf nehmen. Es gibt ja Gerichte, über die kann man sagen: „Holt mich nicht ab.“ Aber was diese Grenzerfahrung in mir ausgelöst hat, ist selbst für einen im Umgang mit Worten beileibe nicht ungeübten Blogger schwer zu beschreiben.

Es würde der Logik des Themas widersprechen, wenn hier ein überlegtes Ende stehen würde. Da ich meinen Bildungsauftrag aber nicht komplett aus den Augen verlieren möchte, noch ein letzter Tipp, der dafür wirklich gut ist: Wenn man in jeder Situation überlegt, wie ein Micky sich jetzt verhalten würde, ist die schlechtestmögliche aller Handlungsoptionen zumindest schonmal abgesteckt. Man kann sich dann ja immer noch entscheiden, ob alles in einem Fiasko enden soll und man ihr deshalb folgt oder ob man lieber exakt das Gegenteil tut und somit zufrieden und erfolgreich durchs Leben geht.

Die Überlebensformel

Auf dem schmalen Grat zwischen Galgenhumor und Zynismus sollte das Standbein zu jeder Zeit so ausgerichtet werden, dass man im Falle eines Falles zuverlässig auf der Seite der Komik landet. Das ist die nur auf den ersten Blick simple Formel, die ich dieser Tage – sicher nicht völlig ohne Anlass – entwickelt habe. Doch prompt mischt sich Skepsis in das erhabene Gefühl, nicht weniger als die Überlebensformel für mich und weitere Gestrafte gefunden zu haben: Sich eine Strategie zurechtzulegen, ist die eine Seite. Sie anschließend im Alltag auch konkret umzusetzen, ist die ungemein schwierigere Aufgabe. Das Leben hält stets eine Fülle an Situationen bereit, anhand derer dieses Konzept auf seine Praxistauglichkeit überprüft werden kann. Und nicht in jeder dieser Situationen habe ich diesen einen Kollegen neben mir, der lässig, doch zuverlässig verhindert, dass meine Stimmung in die unerwünschte Richtung kippt.

Man könnte an dieser Stelle mit einer gewissen Berechtigung beanstanden, dass ich hier im Blog schon zu originelleren Erkenntnissen gelangt bin. Das man mit Humor besser durchs Leben kommt, haben die meisten wahrscheinlich schon irgendwie, und sei es aus eigener Erfahrung, mitbekommen.

Was schon weniger wissen: Nicht immer ist Humor auf ausgelassene Stimmung zurückzuführen.„Die verborgene Quelle des Humors ist nicht Freude, sondern Kummer“, wusste zum Beispiel schon Mark Twain. Joachim Ringelnatz ergänzte dazu: „Humor ist der Knopf, der verhindert, dass einem der Kragen platzt.“

Auf der anderen Seite hat ein gelebter Zynismus nicht nur Schattenseiten. Die mit seiner Hilfe errichtete Mauer zwischen Gesellschaft und von ihr geplagtem Individuum schützt zunächst hauptsächlich Letztgenannten, idealtypisch aber beide Seiten vor schlimmerer Unbill.

Außerdem berührt die Idee, alle Menschen gleich schlecht zu beurteilen, mein Gerechtigkeitsempfinden mehr als andere Geisteshaltungen es zu tun vermögen. Wahrscheinlich aus diesem Grund ist es nicht komplett aus der Luft gegriffen, dass mir bereits von verschiedener Seite vorgeworfen wurde, meine Blogeinträge seien teilweise sehr zynisch.

Doch Ernst beiseite – kommen wir zur Klärung der Frage, wieso den Alternativen Galgenhumor und Zynismus kein dritter, optimistischerer Weg zur Seite gestellt wurde. Die einfache Antwort: Weil ich Optimismus in Bezug auf die Entwicklung unserer Gesellschaft inzwischen als völlig unangebrachte, weil unrealistische Variante halte.

Denn wenn uns die durch ein neuartiges Virus herbeigeführte aktuelle Krise bis jetzt eines gelehrt hat, dann ja wohl als erstes, dass ein nicht zu unterschätzender Teil der Bevölkerung relativ bis sehr dumm ist. Zweitens darf sich bestätigt fühlen, wer schon seit längerem geahnt hat, dass man in einer Welt voller Egoisten lebt. Man muss sich also, drittens, schon sehr anstrengen, um angesichts dieser Zustände nicht zum Zyniker zu werden.

Erinnern wir uns: Bereits zu einer Zeit, in der noch niemand seriös voraussagen konnte, ob die ersten eingeleiteten Maßnahmen überhaupt die erhoffte Wirkung zeigen würden, forderten die ersten, dass das jetzt aber bitte langsam ´mal ein Ende haben müsse. Ganz als ob eine Epidemie sich auf Anordnung beenden ließe, wurden die politischen Entscheidungsträger als erste Sündenböcke präsentiert. Man möchte sich als klar denkender Mensch nicht ausmalen, was die Leute hier erst veranstalten würden, wenn einmal eine Lage eintritt, die uns mehr abnötigt als eine gewisse Zeit ein paar Leute weniger zu treffen.

Ich möchte nicht behaupten, das alles wäre der am wenigsten anstrengende Lockdown in der Geschichte dieser Republik gewesen, aber man muss den Tatsachen ins von der Alltagsmaske verdeckte Gesicht sehen: Manche Leute bekommen es nicht einmal auf die Kette, einen Mund-Nasen-Schutz korrekt über ihren Rüssel zu ziehen und das Teil genau so wenigstens für die 15 Minuten ihres Einkaufs an dieser Stelle zu behalten. Anderen dämmert derweil: Da wir mit genau denselben Leuten demnächst aber auch kaum weniger dringende Aufgaben wie Aufhalten des Klimawandels managen müssen, muss man mit Humor schon besonders reichhaltig ausgestattet sein.

Das Problem ist im Prinzip auch schnell identifiziert: Würden die Masken nicht andere Menschen, sondern ihre Träger selbst besser vor Ansteckung schützen, wären die Dinger vermutlich selbstverständlich über allen Gesichtern und würden kaum infrage gestellt. Dummerweise bewahrt die Alltagsmaske aber nur andere Menschen davor, sich mit einer wenigstens potentiell tödlichen Krankheit zu infizieren. Und wegen einer Handvoll Toten mehr oder weniger muss man sich argumentativ auch nicht weiter bemühen.

„Das Maskentragen nervt allmählich“, gibt ein Maskenmuffel allen Ernstes zur Auskunft! Man kennt das ja: Bisherige Erfahrungen mit Krankheitserregern zeigen regelmäßig, dass diese sich von Stimmungen in der Bevölkerung schwer beeindrucken lassen. Die Geschichtsbücher sind reich an Beispielen von Epidemien, die nur deshalb eingedämmt wurden, weil die Menschen keinen Bock mehr auf sie hatten. Vielleicht nochmal in aller Klarheit: „Kein Bock“ oder „uncool“ sind keine Argumente, sondern Verhalten auf Kleinkind-Niveau. Dass, wie von vielen kritisch angemerkt, die Kanzlerin in ihren ersten Ansprachen zum Thema zur Bevölkerung wie zu kleinen Kindern geredet habe, wird seine Gründe genau darin gehabt haben: dass nämlich geschätzt die Hälfte es anders gar nicht verstanden hätte. Dass in anderen Ländern der Staatschef selbst sich wie ein kleines Kind verhält, macht die Angelegenheit übrigens nicht einfacher.

Es kann ja sein, dass nicht jeder die Zeit hat, irgendwas mit Zeitung oder so zu lesen, wenn man ganz offensichtlich den kompletten Tag im Fitness-Studio verbringen muss. Von Ladeninhabern erwarte ich aber, dass sie darüber informiert sind, was erlaubt ist und was nicht. Ihre Interessenvertretungen haben lange genug dafür gekämpft, dass sie unter bestimmten Bedingungen wieder öffnen dürfen. Wie kann es also sein, dass beispielsweise bei einem Friseur in der Offenbacher Waldstraße, an dem ich einmal die Woche vorbei komme, regelmäßig keiner der Mitarbeiter und keiner der Kunden auch nur irgendein Stück Stoff vor der Nase hat?!

„Ich bin durchaus nicht zynisch, ich habe nur Erfahrung – und das ist so ziemlich dasselbe“, verrät Oscar Wilde. Ja, zwischen Galgenhumor und Zynismus ist es bloß ein schmaler Grat. Wenn ich den vorliegenden Text so als Ganzes betrachte, hat wohl mein Spielbein dem Standbein ein Bein gestellt.

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