Jeder tut es.

Wenn ein Text von mir mit diesem Satz eingeleitet wird, gehen die Erwartungen mancher Leser vermutlich in Richtung einer Pointe, die in irgendeiner Weise mit Autoerotik zu tun hat. Doch weit gefehlt! Die Rede ist vielmehr vom Aufschieben bestimmter Tätigkeiten. Wie so häufig entstand das Thema aus persönlicher Betroffenheit, hat also mit dem Thema Selbstbefriedigung dann doch zumindest diese eine Gemeinsamkeit. Unbefriedigend dagegen waren die letzten Monate in Bezug auf meine Blogeinträge. Zu erwarten, dass deren Qualität nämlich besonders gut ist, wenn ich die Nacht vor Veröffentlichung nur besonders lang daran arbeite, bis ich besonders müde bin, wäre auch besonders töricht. Dazu muss man nicht besonders clever sein.

Jeder tut es.

Aus der Erkenntnis, dass sich nicht jeder in der komfortablen Situation befindet, unangenehme Arbeiten an die Ehegattin oder unbeliebte Kollegen zu delegieren, erwuchs die Hypothese, dass jeder Mensch aufschiebt, sobald eine Aufgabe nur unattraktiv genug erscheint. Insofern muss lediglich noch gewöhnliches Aufschieben und pathologisches Prokrastinieren auseinandergehalten werden.

Wesentliches Merkmal von Beidem ist eine leidenschaftliche Hingabe an alle möglichen Dinge außer denen, deren Erledigung momentan eigentlich am dringendsten wäre.

Die Probleme fangen damit an, dass es in keinster Weise unvernünftig oder abnorm, sondern zutiefst menschlich klingt, wenn zuerst Tätigkeiten erledigt werden, die mehr Befriedigung verschaffen oder wenigstens versprechen. Mehr Wollen und weniger Müssen hätte ja nicht nur individuell, sondern auch als gesamtgesellschaftliche Perspektive durchaus seinen Reiz.

Weil das Leben jedoch nur gar zu selten nach Plan läuft, funktioniert auch das Aufschieben nicht nach dem idealtypischen Schema: Man entscheidet sich, dieses heute nicht, sondern lieber sich selbst einen schönen Tag zu machen – Ende der Diskussion.

Leider muss man stattdessen davon ausgehen, dass einem irgendwann im weiteren Verlauf des Tages und nicht selten dann, wenn es gerade richtig schön zu werden verspricht, das schlechte Gewissen auf die Schulter tippt und vorwurfsvoll anmerkt: „Du weißt schon, dass Du hier eigentlich gar nicht sein solltest..?!“

Jeder tut es.

Eine gewisse Zeit lang kann man damit eventuell ganz gut leben. Allerdings arbeitet die Zeit im Regelfall nicht für, sondern gegen einen, so dass man eines unschönen Tages von der mehr oder minder erfolgreich vertagten Arbeit sowieso wieder eingeholt wird.

Es liegt auch auf der Hand, dass das allabendliche Gefühlt, wieder einmal unter seinen Möglichkeiten geblieben zu sein, sich auf das Selbstwertgefühl nicht direkt förderlich auswirkt. Spätestens ab diesem Moment bemerkt man den ersten Unterschied zu jemandem, der einfach nur faul ist und das Fernsehprogramm ohne jeglichen Anflug von Unzufriedenheit mit sich selbst einfach nur genießt. Die Ungerechtigkeit, dass ebendieser Faule seinen Akku schneller wieder aufgeladen hat als man selbst durch Ausführen besagter Ersatzhandlungen inklusive anschließendem Frust, gibt es zu dem unguten Gefühl noch obendrauf. Vielen Dank dafür!

Da sich zu den nicht erledigten im Normalfall zusätzlich neue Aufgaben gesellen, entwickelt sich unter bestimmten Umständen ein gewisser Stau, der irgendwann tatsächlich zu einem Problem werden kann. Diese gelebte Unordnung ist dann häufig der Ausgangspunkt für eine behandlungswürdige Prokrastination.

Mögliche Tätigkeiten, welche die Beschäftigung mit den eigentlichen Aufgaben verhindern, sind vielfältig. Sie müssen keineswegs zwangsläufig echte Stimmungsaufheller sein; in aller Regel ist es völlig ausreichend, auch nur ein kleines bisschen attraktiver zu sein als die Aufgabe, von der sie ablenken sollen. Während des Studiums (als angehender Sozialwissenschaftler gehörte ich ohne es zu wissen einer der Hauptrisikogruppen schlechthin an) war ein probates Mittel, dem Schreiben einer Hausarbeit aus dem Weg zu gehen, noch mehr über das Thema zu lesen. Wurde das zu langweilig, gab es andere Themen, über die ich zwar nichts schreiben musste, die aber auch interessant waren. Wurde ich des Lesens komplett überdrüssig, ging ich in die Kneipe. Dass meine heutigen Strategien (Blumengießen, Kater kraulen, Katzenvideos) demgegenüber der Weisheit letzter Schluss sind, würde ich allerdings auch nicht ohne Zögern zu Protokoll geben.

Anderes Beispiel: Wenn Ende Mai die Steuererklärung abzugeben ist, verschwendet man durchschnittlich ab März die ersten Gedanken daran. Weil es außer der Pflicht zur Abgabe oder einer erwarteten Erstattung nicht einen einzigen guten Grund gibt, sich mit diesen Formularen auseinanderzusetzen, ist durch ständiges Suchen nach Ersatzhandlungen im Laufe einiger Jahrzehnte der Frühjahrsputz entstanden.

Ich kenne niemanden, und es gibt wahrscheinlich in dieser Republik auch niemanden, der Anfang des Jahres so sehnsüchtig auf die neuen Steuer-Formulare wartet wie andere auf eine neue Staffel der gerade angesagtesten Serie. Bei aller Rest-Skepsis gegenüber dem Zustand unserer Gesellschaft würde ich in diesem Punkt sogar einen Hinweis sehen, dass sie am Ende doch noch nicht so krank ist wie man allenthalben vermutet.

Dabei dauert das Anfertigen der Steuererklärung für einen Normalsterblichen, wenn sich nicht jedes Jahr Gravierendes an der Einkommenssituation ändert, nicht monatelang. Das dauert auch keine Woche. Das dauert nur dann eine Woche, wenn ich in dieser Woche alles mögliche andere mache.

Doch das Ende des Frühjahrsputzes, wie wir ihn kannten, lauert bereits. Denn als ob das Steuersystem in Theorie und Praxis an sich nicht schon Bestrafung genug wäre, hat man es mit der Verlegung der Deadline auf Ende Juli einfach ´mal so geschafft, wahrscheinlich keinem einzigen Steuerpflichtigen in diesem Land einen Gefallen zu tun. Das muss einem – selbst als Finanzbehörde – erst einmal gelingen. Wenn die Leute Mitte/Ende Juli überhaupt im Land sind, sind sie vermutlich weniger über ihren Steuerunterlagen zu finden, sondern verbringen ihre Zeit eher in Schwimmbad und Biergarten.

Weil das im Hochsommer nämlich jeder tut. Da sitzen Faule, Prokrastinatoren und Sofort-Erlediger ausnahmsweise im selben Boot.