„Du musst eigentlich nur zählen können.“ Es wird sich leider nicht mehr zweifelsfrei klären lassen, ob er mir damit Mut zusprechen wollte, aus Verlegenheit einfach irgendetwas gesagt hat oder mir in diesem Moment der ersten Begegnung tatsächlich nicht mehr zugetraut hat. Aber im Prinzip startete mit diesen Worten meines neuen Chefs vor 20 Jahren meine „Karriere“ als Lagerist. Seinerzeit noch als Aushilfe und ohne den unbedingten Willen, diese Tätigkeit im Jahr 2019 immer noch auszuüben. Denn dafür hatte mich mein Vater gewiss nicht auf die Uni geschickt.

Es war ein bewegtes Jahr damals: Meine Alkoholabhängigkeit näherte sich ihrem Höhepunkt. Fast folgerichtig ging in dieser Zeit auch meine erste Beziehung, die diesen Namen verdient hatte, nach sieben Jahren in die Brüche. Einen vernünftigen Aushilfsjob zu finden, war leichter gesagt als getan. Ich arbeitete in jenem Jahr bei der Zentralen Kulturverwaltung, auf dem Wochenmarkt, als Wäschefahrer, als Vermessungshelfer und beim Aufstellen von Hüpfburgen. Selbst der Caterer beim OFC verzichtete auf meine Dienste. Wohl aus nicht ganz unberechtigter Sorge um seine Getränkebestände.

Aus diesen Gründen kam mir ein Job im Lager, von dem mein Boss zwischen den Zeilen zu verstehen gab, dass das jeder könne, sehr gelegen. Ich ahnte damals natürlich nicht, dass ich zwanzig Jahre später noch gegen das Vorurteil ankämpfen würde, jeder könne Lager. Allerdings konnte ich nach zwanzig Tagen bereits erahnen: Das kann nicht jeder.

Die Geringschätzung unseres Berufsstandes begünstigt wahrscheinlich den Alkoholmissbrauch. Nach und vor Feierabend. Dieses Problem immerhin haben wir mit Lehrern gemein.

Wie man sieht: Wenn wir uns nicht gerade gegen Klischees wehren, reproduzieren wir selbst welche. Zum Beispiel gegenüber Fahrern. Fahrer sind der natürliche Feind des Lageristen. Denn die Erwartung, er bräuchte bloß hupen, damit wir alles stehen und liegen lassen, um am geöffneten Tor parat zu stehen, bevor der Fahrer überhaupt bereit ist, nervt nach ein paar Jahren einfach. Am liebsten würden manche Fahrer abladen ohne zu halten, so sehr in Eile sind die. Die haben es so eilig, da bleibt natürlich kaum Zeit, außer „Unterschrift“ noch irgendetwas anderes auf Deutsch zu können. Zugegeben: Solange nichts Unvorhergesehenes geschieht, reicht das für einen Fahrer auch aus.

Nicht erst seit jeder US-Polizist in jeder beliebigen Serie zu jeder Tages- und Nachtzeit beim Verzehr von Donuts zu sehen ist, weiß man: Viele Stereotypen über bestimmte Berufsgruppen sind keine Vorurteile, sondern harte Fakten. Hat zum Beispiel schon einmal irgendjemand eine Mitarbeiterin eines ambulanten Pflegedienstes gesehen, die nicht raucht?! Das ist in der Branche doch schon fast Einstellungsbedingung. Hat schon einmal jemand einen Koch gesehen, der einen freundlichen Umgangston gegenüber seinen Kollegen pflegt?!

Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen: Die bereits erwähnten Lehrer werden den Verdacht, dass der freie Nachmittag mitnichten der Unterrichtsvorbereitung dient, nicht ausräumen können, solange sie 25 Jahre lang den gleichen Kram erzählen. Ein Taxifahrer wird nicht automatisch zum besseren Autofahrer, bloß weil er viel fährt. Und, ja, auch in der Lagerlogistik gibt es ausreichend Jobs, die den Kollegen außer Zählen nicht gar zu viel abverlangen. Manch einer schubst ausschließlich Paletten durch die Gegend, ein anderer braucht zum Entladen Kraft und Ausdauer, aber kein Hirn Kein Wunder, dass viele von ihnen ihre Zukunft bereits hinter sich haben.

Auch wenn Prestige sowie Gage in meinem Beruf eher nicht der Rede wert sind, habe ich ihn im Laufe der Zeit schätzen und lieben gelernt. Auch wenn ich in manchen Situationen wünsche, ich hätte tatsächlich immer nur gezählt und sonst nicht viel gemacht, was mir manch graues Haar erspart hätte, ist mir bewusst, dass manch anderes graue Haar von selbst kommt. Auch wenn ich für manche Kollegen eine pädagogische, für andere eine psychologische Ausbildung dringender benötigt hätte als mein Diplom als Politologe, freue ich mich auf die nächsten 20 Jahre..!