Ob ich wegfahre! Manchmal glaube ich, mein komplettes Umfeld überschätzt deutlich die Gage, die man als Fachkraft für Lagerlogistik für seine Tätigkeit erhält. Man sollte darüber hinaus berücksichtigen, dass ein chronisch kranker Hund nicht nur das an sich für die Reisekasse gedachte Ersparte regelmäßig absorbiert, sondern auf Reisen auch selbst ein gewisses Handicap darstellt. Ob ich wegfahre? Ich verstehe die Frage nicht.

Würde es beim Reisen ausschließlich darum gehen, Vorurteile abzubauen, wäre man in Offenbach ohnehin bestens aufgehoben und bräuchte nicht erst durch die Weltgeschichte reisen. Generell sind viele der gemeinhin genannten und im Laufe der Jahrhunderte überlieferten Argumente fürs Reisen mit einem Makel behaftet: Sie entstanden zu einer Zeit, als die Welt von Instagram noch nichts ahnte. Das Zweitschlimmste, das einem passieren konnte: Auf einen Menschen zu treffen, der regelmäßig Sätze mit der Bemerkung „Als ich in (…) war“ eröffnete und die letztendliche Aussage dann keine besondere Lebensweisheit, keine Anekdote oder sonst irgendetwas Relevantes beinhaltete, sondern sich reduzierte auf den Hinweis: Seht her, ich war in (…)!

Die nächst höhere Eskalationsstufe war dann der Dia-Abend. Auch dazu muss man aber fairerweise sagen: Solange zu den 850 Bildern in ausreichendem Maß alkoholhaltige Getränke gereicht wurden, gingen eigentlich auch diese Abende vorüber.

Dank sozialer Netzwerke, quasi der Weiterführung des Dia-Abends mit anderen Mitteln, liefern sich Reise- und Selbstdarstellungswahn ein interessantes Wettrennen mit noch unklarem Ausgang. Und mit Auswüchsen wie diesen hier:

  • Immer mehr niederländische Tulpenzüchter sperren ihre Felder im Frühjahr, weil auf der Suche nach instagrammablen Motiven nur wenig Rücksicht auf die Entwicklung der empfindlichen Pflanzen genommen wurde
  • Schon letztes Jahr hatten die Besitzer eines Sonnenblumenfeldes in Kanada dieses auf Anordnung der Polizei für die Öffentlichkeit zu schließen, nachdem eines Tages nach einem viral gegangenen Post über 7000 Fahrzeuge dort vorfuhren, um deren Insassen ebenfalls abzulichten
  • Die Trolltunga, ein Felsvorsprung 700 Meter über einem pittoresken Tal in Norwegen, wird von jährlich 100.000 Menschen besucht, die dort in einer langen Schlange geduldig warten, um ein Foto zu schießen, das ihren Followern eine einsame Naturlandschaft suggeriert.

Im Grunde entwickeln sich solche Hot Spots dadurch zu SehensUNwürdigkeiten. Doch da ich mich diesem Getue nicht völlig entziehen kann, wäre Schulterklopfen unangebracht: Vergangenes Jahr bin ich an die Saarschleife gefahren. Es war eine beeindruckende Aussicht. Beeindruckender als live können auch Tausende Aufnahmen nicht sein. Und immerhin: Ich war dort, um mir das anzusehen. Ich war nicht ausschließlich dort, um ein Foto zu machen. Ich habe für dieses Foto nichts zerstört, und ich habe mich deswegen nicht in Gefahr begeben müssen. Aber auf der Heimfahrt meldete sich dann doch irgendwann das ökologische Gewissen und relativierte den bis dahin positiven Gesamteindruck. Der Erholungsfaktor war angesichts an diesem Tag für Hin- und Rückfahrt zurückgelegten 500 Kilometern ohnehin überschaubar. Nicht viel besser verhielt es sich mit meinem Kontakt zu Einheimischen: Dieser erschöpfte sich in der Bitte, ein Foto von der Schleife und mir zu machen. Wahrscheinlich waren es nicht einmal Einheimische, sondern ebenfalls Touristen. Wenn ich es hochrechne, habe ich in Offenbach wahrscheinlich mehr Gespräche mit hierher gezogenen Saarländern geführt als im Saarland.

Ob ich wegfahre? Es liegt vermutlich nicht an besagten 500 Kilometern, aber bei mir hat inzwischen solcherart Reisefieber etwas nachgelassen. Statt für Benzin gebe ich mein weniges Geld lieber für gebrauchte Klamotten aus. Und nach wie vor für den Hund. China wäre übrigens eine Destination, die für eine Reise mit Hund eher suboptimal ist. Vielleicht wäre ein Aufenthalt dort geeignet, diesbezügliche Vorurteile abzubauen. Vielleicht würden Gespräche mit Einheimischen, die das Fleisch dieser Tiere für gesund und potenzsteigernd halten, die Bildung von Vorurteilen auch eher begünstigen. Wer weiß das schon so genau?!

Das Leben ist eine Reise. Nur: Wo ich auf so viele bornierte Leute treffe, fahre ich doch eigentlich nicht wieder hin.

Ob ich wegfahre? Ich denke eher nicht.