Individuelle Abweichungen nicht ausgeschlossen, ist diese Frage geschätzt zwischen 15 und 25 herum fester Bestandteil jeder Konversation mit neu kennengelernten Gleichaltrigen. Zumindest als ich diese Phase durchlief, verriet die Lieblingsmusik über Geschmacksfragen hinaus viel über die Gesinnung des Gegenübers, sagte einiges aus, wie jemand allgemein tickt. Hier trennte sich oftmals die Spreu vom Weizen; es entschied sich anhand der Hörgewohnheiten, ob mit jemandem etwas angefangen werden konnte oder halt nicht.

Außerhalb bestimmter Szenen verlieren solche Barrieren mit zunehmendem Alter zum Glück an Bedeutung. Was nicht gleichbedeutend mit völliger Gleichgültigkeit ist. Wenn etwa die Meute zu Klängen von Fischers Helene textsicher mitgröhlt, entwickelt sich in mir auch heute das akute Bedürfnis, sich mit einer Mischung aus Skepsis und Vorsicht der Szenerie abzuwenden, das verlässliche Koordinatensystem der Jugend zurückzuwünschen und wieder stärker in „Die“ und „Wir“ zu unterscheiden.

Nichts liegt mir ferner als in ein wie auch immer genau spezifiziertes „Früher war alles besser“ einzustimmen. Allein das Verhältnis zur Zukunft war ein entspannteres: Diese wurde nämlich dorthin verbannt, wo sie eigentlich auch hingehört: ins Nachher. Derweil im Jetzt allein die beiden Fragen interessierten: Wohin am Abend? Und mit wem? Insofern unterscheidet sich eine Generation von Heranwachsenden nur unwesentlich von der vorherigen oder der nächsten.

Als ich Anfang 20 war, wagte an Mobiltelefone als Alltagsgegenstand niemand ernsthaft zu denken. Die wenigen, die im Umlauf waren, hatten vor allem diesen einen Zweck: das Selbstwertgefühl des Besitzers aufzupolieren: Wer so ein Teil benötigte, war wichtig. Übrigens konnte man damit auch telefonieren. Zwar eben auch nicht mehr als das, doch das war ohnehin von untergeordneter Bedeutung.

Warum ich das schreibe? Hätte der Handyboom einige Jahre früher eingesetzt, wäre ich vermutlich ein anderer Mensch geworden. Denn: Zwar konnte ich im Laufe meiner pubertären Entwicklung durchaus die eine oder andere Telefonnummer von etwa gleichaltrigen Mädchen bekommen. Ob das aber ihre tatsächliche Nummer war oder ob mir nur aus Mitleid irgendeine Nummer, etwa von der Tante, gegeben wurde, habe ich selten bis gar nicht überprüft. Zu abschreckend war für mich die Möglichkeit, vor der eigentlichen Adressatin zunächst Geschwister oder – noch schlimmer – Eltern an den Hörer zu bekommen. Was man jedoch nicht zwangsläufig auch gleich hört. In meiner Vorstellung gab es nichts Peinlicheres als mit dem Einstieg „Hi, hier ist Micky, wie geht es Dir“ den weiteren Gesprächsverlauf ungünstig zu beeinflussen, weil ich statt der Angebeteten selbst deren Mutter am Apparat hatte.

Der Horror war natürlich auch umgekehrt vorstellbar: „Guten Tag (das Hallo gegenüber Erwachsenen begann sich zu dieser Zeit erst allmählich durchzusetzen), hier ist Micky. Ist … zu sprechen“, zu fragen, während die Herzdame schon persönlich dran und also von meinem leider nur minimal entspannten Stammeln maximal unbeeindruckt war – für den Moment und für alle Zeiten.

Wie ich im weiteren Verlauf der Geschichte mehrfach lernen durfte, gibt es sehr wohl peinlichere als die eben skizzierten Situationen. Aber ob und wann ich davon öffentlich preisgebe, entscheide ich nicht hier und heute.

Zurück zur Musik

Da ging es ja bei gesund entwickelten Jugendlichen viel um Abgrenzung. Vor allem von der Elterngeneration, bei der seinerzeit zur Verunglimpfung der meisten musikalischen Spielarten, die über den begrenzten Kosmos von Schlager und volkstümlicher Musik hinausgingen, der Ausdruck „Negermusik“ ein durchaus noch geläufiger Begriff war. Was mich an guten Tagen hin und wieder dazu verleitete, auf die Einstiegsfrage nach meinen musikalischen Vorlieben die Antwort zu geben, daß meine Tante behaupte, das sei alles „Negermusik“.

In Wahrheit war, ist und bleibt Heavy Metal eine Angelegenheit von überwiegend weißen Musikanten. Nicht viel anders sah und sieht die Sache bei Punkrock und Hardcore aus, wohin ich mich nach einiger Zeit aus ästhetischen und politischen Gründen eher hingezogen fühlte. Daß in beiden Szenen Alkohol eine tragende Rolle einnimmt, wird mit Sicherheit Zufall gewesen sein.

Die eigentliche Pointe ist jedoch, daß später auch Hip Hop und Reggae den Weg in meine Gehörgänge gefunden haben, ich mich aber zu dieser Zeit mit gewissen Leuten schon nicht mehr über Musik mit unterhalten habe, weshalb ich nicht sagen kann, welche Bezeichnungen meine Tante hierfür gefunden hätte. Sollte ich allerdings jemandem die Bedeutung des Wortes „Treppenwitz“ erklären müssen, habe ich seitdem ein anschauliches Beispiel.

Während für uns, also die gute Seite, allmählich aus der Ahnung, die Welt sei nicht in Ordnung, Gewissheit wurde, veröffentlichten zwei Kapellen ihre wichtigsten frühen Werke. Bis heute spielen diese beiden Bands sich regelmäßig wieder in meine persönlichen Charts. Es handelt sich um Bad Religion sowie NO FX, beides Institutionen melodiösen Punkrocks bis heute. Ihre Bedeutung verdanken beide auch dem durch sie angetretenen Beweis, daß der mehrfach totgesagte Punk in der Lage ist, sich aus sich selbst heraus zu erneuern. Aus diesem Grund haben wir Grunge nicht so sehr benötigt wie andere Kinder unseres Jahrgangs: Deutlich zu jung, um die eruptiven Ursprünge des Punk selbst miterlebt haben zu können, hatten wir unsere musikalischen Offenbarungen unter anderem Dank der genannten Bands trotzdem schon vorher.

Weil zum Punk-Sein zwingend eine höhere oder niedere Form des Angepisst-Seins gehört, bedarf es einer kurzen Klärung: Selbstredend ist das Angepisst-Sein von heute, in meinem Fall eher so ein individualisiertes Angepisst-Sein, kaum zu vergleichen mit der früheren gemeinschaftlich-solidarischen und in manchem Fall gern auch zerstörerischen Wut auf fast alles außer uns selbst. Insofern ist die Frage berechtigt, ob Punkrock heute nicht größtenteils zur Folklore für eine in die Jahre gekommene einstige Jugendbewegung sei.

So lange meine Altersgenossen mir aber als Alternativen nicht mehr anbieten können als den Einstieg in den erwähnten Fischer-Chor und das ironiefreie Feiern zu Musik, die niemandem wehtut, sind sämtliche dieser Zweifel an der Notwendigkeit von Punkrock mit nur einer Handbewegung beiseite gewischt.