Sie verstecken sich besser. Vielleicht nehme ich sie weniger als solche wahr als früher. Oder es sind wirklich weniger geworden. Was der Soziologe in mir kaum glauben kann. Das Gegenteil müsste der Fall sein. Früher jedenfalls konnte man sie an jeder Ecke finden. Heute kann es passieren, daß ich den ganzen Tag unterwegs war und nur Menschen begegnet bin, die als normal durchgehen.

Daß ein jeder dieses „normal“ anders definiert, macht es nicht leichter, darüber zu schreiben. Auch weil es natürlich Menschen gibt, die unter diagnostizierten Störungen leiden, ist das hier gerade ein relativ schmaler Grat zum Wandern.

Unterhalb der Schwelle von Behandlungswürdigkeit existieren jedoch Grauzonen menschlichen Verhaltens, die für die Betroffenen überhaupt kein Problem darstellen und von denen nicht die geringste Gefahr für irgendjemand ausgeht.

Ein sehr anschauliches Beispiel ist der junge Mann, der vor Jahren auf dem Campus der Frankfurter Goethe-Universität bekannt wie ein bunter Hund gewesen ist und den alle den nackten Jörg nannten. Wer ihn nicht kennt: er wurde so genannt, weil er vermutlich Jörg heißt, was auch ein Gerücht sein kann. Es hieß immer nur: „Da kommt der nackte Jörg“ Ich wüsste auch nicht, daß er seinen Personalausweis stets mit sich geführt hätte, um diesen Sachverhalt zur Not belegen zu können. Falls doch, will ich lieber nicht wissen, wo. Ein Gag, den ich machen kann, weil die eigentliche Pointe an dieser Stelle bereits durch ist. Denn daß er stets unbekleidet daherkam, dürfte niemanden mehr überraschen. Lediglich der Walkman, den er als einziges Utensil trug, soll Erwähnung finden. Meine damalige Freundin wusste zu berichten, wie sie als Studentin der Heil- und Sonderpädagogik in einem Seminar saß, als sich plötzlich die Tür öffnete und er halb im Raum stand, mit dem Dozenten noch zwei drei Sätze wechselte und wieder verschwand. Diesmal die Pointe an der richtigen Stelle: das Seminar hatte das Thema Verhaltensstörungen.

Ein anderes Beispiel ist der Typ, der eines Abends in unserem kirchlichen Treff für junge Erwachsene auftauchte. Für seinen Hund hatte er den passenden Namen „Schnitzel“ gefunden, was als Hinweis absolut ausreicht, die Güteklasse auch seiner sonstigen Äußerungen zu charakterisieren. Dazu: Der Mann hat so gesprochen wie wir, wenn wir die Sprachfindungsstörungen eines Besoffenen imitieren wollten. Bloß daß er zwischendrin mehrere Sätze nacheinander völlig normal gesprochen hat. Von so einigen, die später erst dazukamen, für einen Versprengten aus der nebenan stattfindenden Aktion Essen und Wärme für Bedürftige gehalten, war die Freude natürlich besonders groß, als offenbar wurde, daß er der neue Freund einer Angehörigen unserer illustren Runde ist.

Immerhin hat der Mann etwas erreicht, das vor ihm und nach ihm kein anderer mehr geschafft hat: Daß nämlich der nächste Treff eine Woche später so voll wie selten gewesen ist, weil etliche aus unserer breit gestreuten Gruppe extra erschienen sind, nur weil sie gehört haben, daß es jemand Neuen gibt, den sie gesehen haben müssen.

Es war wie im Zoo.

Nur tausendundeinmal geiler!

Die Beziehung hielt übrigens nicht allzu lange, möchte ich erwähnt haben, um die Ehre unserer Freundin wenigstens zum Teil wiederherzustellen.

Pausenclown – Gruppenleiter – Offenbacher Original

Aus in etwa dem selben Dunstkreis wie der Offene Treff rekrutierte sich das Personal für das alljährliche Sommerzeltlager für Kids und Jugendliche. Weil von den Fähigen nicht alle Lust oder Zeit hatten, 14 Tage ihres Urlaubs für die gute Sache zu opfern, galt das Prinzip: Diejenigen Teilnehmer mit den größten Verhaltensauffälligkeiten haben beste Chancen, später einmal das Gruppenleiterteam adäquat zu ergänzen. Also beobachtete man, welche der Kinder oder Jugendlichen die klassische Karriere einschlagen würden.

Und wer es darüber hinaus bis zum Offenbacher Original schaffen könnte. Um irgendwann eventuell die würdige Nachfolge des Kerls anzutreten, der in meiner Kindheit durch die Innenstadt lief und alle paar Meter laut ein langgezogenes „Aaaa-ha!“ ausstieß. Oder welche eher in Richtung traurige Existenz mit Neigung zum allabendlichen Stammgast in einer der sich hartnäckig haltenden Eckkneipen der alten Schule neigen.

Einer, der es nicht zum Gruppenleiter, allerdings ins Langzeitgedächtnis aller derjenigen geschafft hat, die in jenem Jahr dabei waren, war der Junge, den ich zur Anonymisierung an dieser Stelle „Mr. Bean“ nenne. (Manche Ähnlichkeiten machen es wirklich schwer, noch an Zufälle zu glauben.)

Mr. Bean hatte keine größere Lust auf Kontakt, keine größere Lust auf Reden allgemein. Aber er hatte Lust, monoton rhythmisch mit einem Stock auf eine Schüssel einzuschlagen. Den ganzen Tag. Man konnte auf dem ganzen Zeltplatz hören, wo ungefähr er sich gerade befand. Entwicklungspsychologisch sowieso, gemeint ist gerade die örtliche Eingrenzung. Ein großer Vorteil, wenn man die Verantwortung für so ein Kind hat. Der hat sich auf dem Zeltplatz sein Paralleluniversum geschaffen. So wie man 14 Tage Camp mit manchen Leuten sowieso schon als eine Art Parallelgesellschaft bezeichnen kann, ja muss. Das alles unter Dach der katholischen Kirche, ihrerseits ja bekanntermaßen schon weltfremd genug. „Das passt“, müssen sich seine Eltern gedacht haben, als sie ihn ohne weitere Vorwarnung in unsere Obhut gaben. Da sieht man, wie die Grenzen zwischen „normal“ und „verrückt“ verschwimmen.

Die Frage allerdings, die bis hierhin noch immer nicht geklärt ist: Liegt es am Ende tatsächlich allein an meinem gegenüber früher radikal veränderten Alltag, daß solche Galanummern menschlichen Verhaltens Tarnkappenbombern gleich auf meinem persönlichen Radar nicht erscheinen? Oder hat sich meine Umwelt auch an diesem Punkt schneller geändert als ich selbst?

Ja, warum sollte es den Kaputten auch anders gehen als Telefonzellen, Tribal Tattoos und Modern Talking? Die wünscht man sich auch nicht unbedingt zurück. Und doch fällt irgendwann auf, daß sie fehlen.

Trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, daß es so viel weniger geworden sind. Sie sind vermutlich wirklich einfach weniger präsent. Schließlich können auch nicht alle irgendwo Staats- oder Regierungschef geworden sein.

Auch außerhalb der im Text erwähnten Zusammenhänge waren die Bekloppten ehemals großzügig gestreut. Man konnte sich eigentlich gar nicht dagegen wehren, mit ihnen in Kontakt zu geraten. Mit einigen der Schrägsten von ihnen war ich sehr gut befreundet.

Oder verwandt.

Heute muss man schon zum Fußball gehen, neben gewissen Polit-Szenen eines der letzten Reservate für Wahnsinnige jedweder Art. Dort bekommt man noch live und in Farbe echte Kaputte geboten.

Und in der Tat: Allen Veränderungen zum Trotz, die der Fußball in den letzten knapp 30 Jahren durchgemacht hat – hier haben die Bekloppten noch im besten Wortsinn Narrenfreiheit. Im Stadion findet man sie alle wieder: die Trommler und die Dummschwätzer. Natürlich die mit der Trinkfestigkeit als Kernkompetenz. Oder die, die sonst nichts auf die Kette bekommen, aber mit der Inselbegabung ausgestattet sind, sozusagen auf Knopfdruck Aufstellung beider Teams, Ergebnis, Schiedsrichter, Karten und Einwechslungen des 8. Spieltages der Saison 1992/93 aufsagen zu können. Auch den Tabellenplatz nach dem Spieltag sowie die Zuschauerzahl bis auf die 5. Nachkommastelle. Nicht zu vergessen das Wetter und Gesamtumsatz des Bratwurststandes.

Sie waren also tatsächlich nie weg. Nur woanders. Ein auf gewisse Weise auch beruhigender Tatbestand.