„Wenn Du sprichst, sollten Deine Worte besser sein, als Dein Schweigen gewesen wäre“, lehrt uns ein Sprichwort. In Offenbach würde man das vermutlich weniger diplomatisch ausdrücken. Sondern etwa so: „Wenn Du nichts zu sagen hast, halte besser die Fresse!“

Gleich, ob poetisch oder brachial umschrieben – jahrzehntelang habe ich nach dieser Maxime gelebt. Für einen etwas längeren Abschnitt in meinem Leben konnte ich diesem Problem geschickt ausweichen, indem ich mittlere Mengen Apfelwein oder Bier trank und mein Sendungsbewusstsein mit der eingenommenen Menge anstieg. Daß dann allerdings die Worte immer besser waren als mein Schweigen gewesen wäre, vermute ich eher nicht. Auch ist nicht überliefert, ob die Leute das überhaupt hören wollten oder nicht. Oder ob sie mich überhaupt noch verstehen konnten.

Im Grundsatz unterschreibe ich auch heute noch, daß nach außen kund getane Informationen eine gewisse Relevanz für den Empfänger der Botschaft besitzen sollten. So wie es mir wahrscheinlich als Kleinkind beigebracht wurde. Zweitrangig, ob beabsichtigt oder nicht. Aber mit zunehmendem Alter übe ich mir gegenüber diesbezüglich mehr Nachsicht. Sprich: ich passe mich der Mehrheit an, für die Klappern schon seit ehedem zum Handwerk gehört und sich demgemäß auch verzeiht, wenn der Gehalt des Dargebotenen nicht gleich preisverdächtig ist.

Zur Bescheidenheit als alleiniger ethischer Grundausrichtung gesellt sich jetzt Strategie. Nicht mehr: Wer es sehen will, was ich kann, bemerkt das schon. Das ist natürlich ein aller Ehren werter Leitsatz, verkennt aber die Vielzahl derer, die es eben doch übersehen. Zwar weiß ich nicht, wie es mir dort gefiele, wo ich heute stünde, wäre ich schon früher nur ein bißchen offensiver und marktschreierischer aufgetreten. Dafür ahne ich heute, wie unbegründet meine Angst vor diesem Wo und dem dazugehörigen Was die ganze Zeit war.

Theoretisch. Abstrakt. Nachdenkenswert.

Da ich in jenen jüngeren Jahren genügend Freunde, Weggefährten, Mentoren hatte, die mir mehr zugetraut haben als ich mir selbst, hätte ich es früher wissen können, ja müssen. Vielleicht habe ich mehr Chancen liegen lassen als Du-Ri Cha während seiner gesamten Zeit bei Eintracht Frankfurt. Doch soll dieser Text nicht geschrieben werden, verpassten Chancen nachzutrauern, sondern Mut zu machen, Versäumtes nachzuholen.

Rede nur, wenn du gefragt wirst, aber lebe so, dass man dich fragt!

Ein Abend im Sommer 2009. Wir sitzen im Außenbereich einer Schankwirtschaft in relativer Nähe der Adresse, in der sich vor einem halben Jahr noch unser Hauptquartier befand. Mein ehemaliger Chef orakelt gerade etwas von Projekten. Was ja nichts anderes bedeutet als: nichts, womit sich kontinuierlich Geld verdienen lässt. Viele der in dieser Runde Anwesenden haben ihre Projekte. Andere sind nach der Insolvenz des Unternehmens, das uns zusammengebracht hat, bereits wieder in Lohn und Brot. So auch ich.

Mich hat aber den ganzen Abend lang nur ein einziger der Ex-Kollegen gefragt. Während die anderen denen gelauscht haben, die von ihren Projekten berichteten. Immerhin war es zu jener Zeit auch schon nicht selbstverständlich, daß, sagen wir zum Beispiel, die Familie meiner Gattin sich nach meinem Job erkundigt. Man kann also nicht behaupten, ich sei gekränkt gewesen deswegen. Schließlich war ich es gewohnt. Und doch ging mir ein Licht auf. Die Leute schenken Dir Beachtung, weil Du laberst. Nicht weil Du da bist oder weil Du zufällig Teil der gleichen Gemeinschaft bist. In kleinen Betrieben gern ebenfalls als Familie bezeichnet. Was ja oftmals nicht ganz unzutreffend ist. Das nebenbei. Hätte ich es nicht spätestens seit damals an jenem Abend im Sommer wissen können, ja müssen?

Ich hätte mich vielleicht einfach mal nach getaner Arbeit jeden zweiten Abend ächzend und stöhnend auf die Couch fallen lassen sollen, damit zuhause bemerkt wird, daß ich nicht nur auf die Arbeit gehe und irgendwann zurückkomme und niemand weiß, was dort in der Zwischenzeit passiert ist. Weil nichts oder wenigstens nicht viel passiert ist. Seit meiner Zeit in der Firma, welche die an jenem Abend im Sommer Versammelten als Schicksalsgemeinschaft zusammenbrachte, weiß ich, daß es solche Jobs gibt. Zur Not auch geschaffen werden, wenn ´mal wieder jemandem ein Gefallen getan werden soll. Da wir mit elektronischer Musik handelten und fast die komplette Belegschaft sich aus der an Selbstdarstellern gewiss nicht armen Szene rekrutierte, war ich als Milieufremder einer von wenigen, dessen Wert für die Firma sich ausschließlich in der geleisteten Arbeit darstellte.

In dieser Eigenschaft wollte ich es mir nicht leisten, mich in ähnliche Verlegenheit zu bringen wie der Kollege, der umgeknickt ist, weil ihm der Fuß eingeschlafen war. Während er beide Füße während des Telefonierens auf dem Tisch liegen hatte. Und beim Aufstehen ist es geschehen. Ein ganz normaler Arbeitsunfall eben, wie er auf der Welt jeden Tag zigfach exakt so passiert.

Spätestens jetzt sollte ich erwähnen, daß Handlung und handelnde Personen selbstverständlich frei erfunden und Ähnlichkeiten mit lebenden Personen rein zufällig sind.

So also auch die Kollegin, die mit ihren sinnlosen Vorschlägen nicht weniger als die Firma zu retten vorgab. Im Grunde war ihr Arsch das einzige, das diese Frau retten wollte. Und trotzdem stand sie besser da als wir Kollegen im Lager, weil wir lieber umsetzten statt herauszuposaunen. Aber das ist wenig spektakulär. Und kein Spektakel, keine Beachtung.

Da wir alle weniger zu tun hatten, hätte sie zuhause bleiben und jemand anderes ihren Job noch miterledigen können. Damit wäre der Firma wahrscheinlich mehr geholfen gewesen als mit allen anderen Vorschlägen. Am Ende aber war da so oder so nichts mehr zu retten. Der sich verändernde Markt. Beratungsresistente Geschäftsführer. Trümmer ohne Neuaufbau. Besagte Kollegin stand danach auch nicht besser da als wir alle. Doch eigentlich hätte ich es seit dieser Zeit schon wissen können, ja müssen.

Und dennoch sollte es noch einige Jahre dauern, bis mir die bisher größte Enttäuschung meines Lebens unter anderem unmissverständlich lehrte, daß die beschriebenen Mechanismen in privatem Zusammenhang ungefähr genauso funktionieren. Auch hier Trümmer. Aber Neubesinnung. Neuaufbau. Dazu ein Schwur: Nie wieder will ich das Urteil, das andere Leute sich über mich machen, derart unkontrolliert dem Zufall überlassen, weil ich irrigerweise annehme, daß die Taten schon für sich sprechen werden.

Ab sofort wird so gelebt, daß man mich fragt. Und wenn es dazu notwendig ist, mehr zu reden, dann mache ich das eben.

Ich habe schließlich schon Schlimmeres überstanden.