Als aufmerksamer Beobachter des Treibens in Deutschlands Straßen und Gassen kann man sich des Eindrucks schlecht erwehren, dass sich die Beleidigungskultur in einem beklagenswertem Zustand befindet.

Klar ist: Eine Beleidigung muss keine besonders hohe literarische Qualität haben. Aber immer nur „Hurensohn“ ist halt auch alles andere als originell. Ansonsten sind nur wenige gebräuchliche Standards zu vernehmen.

Ich nehme mich da selbst nicht aus. Mein aktiver Schimpfwortschatz beschränkt sich auf Körperregionen wie „Arschloch“, sexuelle Praktiken wie „Wichser“ oder gering ausgeprägte intellektuelle Fähigkeiten („Honk“ oder die hessische Variante „Simbel“). „Penner“ würde ich noch dazu zählen, aber dann ist Schluss. Mit diesem Repertoire sind aber zumindest auch 97,8 Prozent aller Alltagssituationen abgedeckt, in denen eine amtliche Schmähung angebracht ist. Mit männlichem Gegenüber. Bei Frauen ist nach „Drecksau“ der Vorrat an brauchbaren Kraftausdrücken bereits aufgebraucht.

Wie so oft war früher alles besser: In der Kindheit benutzten wir so ziemlich alle Ausdrücke, die wir von anderen aufgeschnappt hatten, von denen wir teilweise allerdings gar nicht wussten, was sie bedeuten. Gut, bei „Pimmel“ war die Sachlage klar, bei „Bumser“ schon weniger. Sonst wären wir vielleicht von selbst darauf gekommen, dass das bei weitem nicht so beleidigend ist wie es klingt. Aus dieser Unwissenheit heraus entstanden dann auch Konstrukte wie „Arschwichser“.

Zu dieser Zeit wusste ich aber auch schon zu unterscheiden: „Fette Qualle“, „fette Sau“, „Panzer“ oder „Tonne“ konnte ich nicht einfach kontern, indem ich die Komplimente geradewegs zurückgab. Einem Strich in der Landschaft diese Ausdrücke an den Kopf zu werfen machte in etwa so viel Sinn wie den urdeutschen blonden Thorsten mit „Kanake“ zu begrüßen. Also wurden im Gegenzug „Idiot“ und weitere Ausdrücke verwendet, die auf eine unterdurchschnittlich ausgeprägte Intelligenz verweisen. Wenn einer weder dick noch dumm war, konnte man das trotzdem erstmal in den Raum werfen. Oder man sagte gleich „Arschwichser“.

Die Frage, die sich dabei stellt und die auch regelmäßig Gerichte beschäftigt: Wo fängt eine Beleidigung eigentlich an?

So kam es vor, dass eine Richterin vor der Frage in die Knie gegangen ist, ob „Rucksack“ eigentlich das Gewicht hat, beleidigend zu wirken. Wie wahrscheinlich die meisten Menschen kannte sie den Begriff in diesem Kontext nicht und wollte in Erfahrung bringen, ob das eine in der Taxifahrerszene gängige Beleidigung ist.

Um das Ende vorwegzunehmen: Nein, ist es nicht. Aber es ist immerhin schön zu sehen, dass ich nicht der einzige in diesem Land bin, der Taxifahrern einiges zutraut.

„Busfahrer“ hingegen stand in unserer Jugend durchaus hoch im Kurs, wenn auch eher als Frotzelei in etwa der gleichen Güteklasse wie „Eule“ oder „Kapp“. Der ohnehin schon recht niedrige beleidigende Gehalt dieser Bezeichnung wurde dann auch eines Abends schlagartig weiter abgewertet: Ein flüchtiger Bekannter erkundigte sich bei einem Mitglied unserer damaligen Clique interessiert, weshalb wir ihn „Busfahrer“ nennen.

Was willst Du da antworten?! Wir hatten es ja ursprünglich nicht darauf angelegt, dass er es überhaupt mitbekommt. „Es hat sich so entwickelt“ war jedenfalls kein guter erster Schritt hin zu einer befriedigenden Erklärung. Aber so peinlich wie der unerwartete Beginn dieser Unterhaltung wurde es am Ende gar nicht, weil er – wie sich herausstellte – eigentlich sogar stolz darauf war, von uns so genannt zu werden. Warum, hatte ich zwar nicht verstanden, aber wer hakt da schon großartig nach, wenn man gerade beim Lästern ertappt wurde?! Jedenfalls gab uns diese Lektion zu denken: Was, wenn der Geschmähte sich so gar nicht angegriffen fühlt und sich hartnäckig weigert, eine Beleidigung als solche aufzufassen? Wäre eigentlich eine geile Strategie: „Ey, Du Hurensohn!“ – „Yeah! Das bin ich. Cool, oder?!“

In den meisten Fällen geht es aber weniger um Fälle, in denen jemand beleidigt wird, derjenige sich aber nicht beleidigt fühlt. Viel häufiger geht es nämlich dem entgegengesetzt um die Klärung, ob jemand tatsächlich Grund hat, sich von einer Äußerung beleidigt zu fühlen. So wurde beispielsweise die Klage einer älteren Frau gegen den Deutschen Wetterdienst abgewiesen, weil das Gericht die beleidigende Wirkung des Wortes „Altweibersommer“ so nicht sehen wollte.

Ein anderes Gericht hatte zu beurteilen, ob „Fisch“, hervorgebracht gegenüber einem Polizeibeamten, geeignet sei, den Tatbestand der Beleidigung zu erfüllen. Obwohl die Richterin anerkannte, dass der Angeklagte den Ordnungshüter mit dieser Bezeichnung nicht loben wollte, befand sie: Die Güteklasse von „Fisch“ sei eine andere als „Esel“, „Bulle“ oder „Schwein“, eben „nicht wirklich schlimm“. Zur Nachahmung empfehlen würde ich es angesichts einer Geldstrafe von immerhin noch 300 Euro trotzdem nicht.

Zu guter Letzt kann auch ein Name mit wenig schmeichelhaften Zuschreibungen von bestimmten Eigenschaften verbunden sein. Vor rund 30 Jahren war der „Günther“ das, was vorher der „Kasper“ gewesen ist und später zwischenzeitlich der „Horst“ werden sollte, bevor dieser wiederum vom „Otto“ abgelöst wurde. Da einer der cooleren meiner Onkel ebenfalls Günther hieß, konnte ich mich nur bedingt damit anfreunden, mich diesem Brauch allerdings auch nicht völlig entziehen. Spätestens als es in der Schule auf Abschlussfahrt ging und unser grenzdebiler Busfahrer für diese Zeit sich als Günther vorstellte, gab es in dieser Frage auch bloß noch Schwarz und Weiß und nichts mehr dazwischen. Unvergessen bleibt auch das Wochenendseminar, das wir zu viert besuchten und bei dem uns am Anreiseabend freitags schon ein Mensch aufgefallen war, über den wir dann noch den ganzen Rest des Abends (und damalige Freitagabende waren sehr lang) prognostizierten: Der heißt bestimmt Günther. Weil: Der kann eigentlich nur Günther heißen.

Bis am nächsten Morgen das Seminar offiziell mit einer Vorstellungsrunde begann, waren wir in dieser Frage schon so eingepeitscht, dass klar war: Wenn wir uns nicht schon von Beginn an unbeliebt machen wollten, dann darf dieser Typ alles, wirklich alles, aber auf keinen Fall Günther heißen.

Das Schicksal hatte es nicht gut mit uns gemeint. Wenn Du eigentlich vor Lachen schreien möchtest, das aber nicht darfst, ist das Folter. Warum gibt es auch solche Zufälle?!