Es mag ja durchaus sein, dass ich eines Tages das Puzzle meines Lebens zusammensetze, zufrieden zurückschaue und dabei selbst in dem bescheidenen Abschnitt von heute einen Teil des zwangsläufigen Weges zu Ruhm und Reichtum erkenne.

Bloß erzeugt diese Aussicht im Hier und Jetzt keineswegs ein Gefühl, das an so etwas wie Aufbruchstimmung erinnert. Überhaupt: Aufbruch – Ausbruch – wann genau finden solche Planspiele denn noch statt, da unsere Gedanken routiniert um die Bewältigung des Alltags kreisen und ansonsten eher aus der Verklärung des Vergangenen sowie einer gewissen Sorge ob des eigenen Alterungsprozesses bestehen.

Es wäre merkwürdig, wenn das bei mir anders liefe als bei Millionen anderer Menschen. Da spielt es auch keine Rolle, dass ich im Grunde sehr genau weiß: Geschichten von vollgeschissenen Unterhosen etwa, deren Entsorgung aus dem Fenster nur scheinbar elegant gelungen war, weil sie sich bei Tageslicht betrachtet an einem Ast des Baumes im Hof zum ständigen Mahnmal an eine versoffene Nacht entwickelte – solche Begebenheiten waren selbst in meiner Sturm-und-Drang-Phase eher Ausnahme als Standard. Auch seinerzeit hätte ich mich schwergetan, Woche für Woche einen Blog damit zu füllen.

Solches Verständnis ist hilfreich, wenn wieder einmal die Frage quält: Über was soll ich eigentlich schreiben? Soll ich berichten, wie ich von der Arbeit kam wie mein Sohn vom Spielplatz? Mit aufgeschürftem Knie nämlich. Zuhause würde ich von diesem Vorkommnis ob seiner limitierten Relevanz selbst dann nichts erzählen, wenn noch jemand anderes außer meinen Tieren zuhören würde. So etwas wird auf der Weihnachtsfeier nochmal hervorgekramt, und dann war´s das aber auch! Das ist mit Sicherheit keine Szene aus dem Film, der am Ende des Lebens an mir vorbeizieht. Falls doch, wäre es dann allerdings auch zu spät, am Plot noch etwas ändern zu wollen.

Doch was war überhaupt passiert? Selbst Arbeitsunfälle waren früher spektakulärer, daher weiß ich aus eigener Erfahrung, dass ein Kopfverband mehr Prestige verleiht als ein Hinkebein. Ich bin über einen im Gang leicht hervorstehenden Karton gestolpert, und weil ich in jenem Moment sehr schnell unterwegs war, ging es halt um etwas mehr als wieder aufrichten, Staub abklopfen und the show must go on. Im Ergebnis hieß es zwar schon genau das, aber der Sturz war so sehenswert, dass jeder Schiedsrichter, der nicht Alfons Berg heißt, ohne zu zögern in seine Pfeife geträllert und mir den fälligen Elfmeter zugesprochen hätte.

Das „sehr schnell“ ist übrigens im Zusammenhang damit zu verstehen, was ein durchschnittlich abgenutzter 45-Jähriger eben noch so in die Waagschale zu werfen imstande ist, wenn es schnell gehen muss. Zwar denke ich, dass in meinem Alter diesbezüglich noch sehr viel geht, aber irgendwie musste ich dem Text an dieser Stelle eine Überleitung verpassen, die mit dem Älterwerden zu tun hat. Weil mich letztens nämlich eine relativ neue Aushilfe völlig unvermittelt gesiezt hat. Ich dachte erst, ich hätte mich verhört. Alle Umstehenden dachten das, wie mir rückgemeldet wurde. Also war die spontane Beschäftigung mit der Vorstellung, wie gut oder schlecht mir wohl ein Hörgerät stehen würde, etwas voreilig gewesen. Wieder bei Sinnen, musste ich den jungen Kollegen ermahnen: Sollten wir tatsächlich irgendwann zusammen ein Konzert einer Punkrockband besuchen, sollte er sich das abgewöhnen. Für mich wäre es nur halb so peinlich wie für ihn, aber was soll seine Bezugsgruppe denken, wen er mitgebracht hat?! Seinen Lehrer? Bewährungshelfer? Naja, als Lagerleiter ist man wahrscheinlich sowieso von beidem etwas.

Altern in Würde

Eines der letzten Male, dass ich gesiezt wurde, habe ich im Nachhinein als deutlichen Hinweis interpretiert, endlich das Studium abzuschließen. Es war an einem dieser Verkaufsstände für gebrauchte Bücher an der Neuen Mensa, als sie mich fragte: „Kann ich die bei Ihnen bezahlen?“ Ich hatte plötzlich am helllichten Tag Alpträume, in denen mir im überfüllten Seminarraum ein Sitzplatz angeboten wird. So wollte ich nicht enden! Obwohl ich andererseits genau wusste, wie irrational dieser Gedanke war. Denn die alten Studenten, die ich kennenlernen durfte, hatten gar nicht nötig, dass andere für sie aufstehen mussten: Wie alle alten Menschen verfügten offenbar auch die Studierenden unter ihnen über ein Übermaß an Zeit, das sie nicht etwa wie andere Altersgenossen dazu nutzten, ständig im Supermarkt vor einem herzutrotten. Sondern sie waren grundsätzlich die ersten, die im Seminarraum waren. Egal, wie früh ich eintraf – sie waren grundsätzlich schon da und hatten es sich mit der mitgebrachten BILD gemütlich eingerichtet.

Ich habe viel gesehen, aber ich bin gern zuzugeben bereit: Das habe ich bis heute nicht überwunden. Wer BILD liest, hat sich doch – unabhängig vom Alter – eigentlich schon aufgegeben. Danach kommt nur noch Schlager hören und Filme von Rosamunde Pilcher ansehen. Man richtet sich ein, weil man sich damit abgefunden hat, dass das Leben keine entscheidende Wendung mehr hervorbringen wird. Der Hirntod hat mit Lesen dieses Presseerzeugnisses doch schon eingesetzt. Wie passt das alles damit zusammen, ein geisteswissenschaftliches Studium aufzunehmen?

Immerhin: In Geschichte habe ich diese älteren Semester geliebt. Zeitzeugen sind dort eine schöne Sache. Auch wenn es rechnerisch nicht möglich war, haben sie doch ein Sendungsbewusstsein ausgestrahlt, als wären sie mittendrin statt nur dabei gewesen. Wer möchte schon so enden, solange er noch frei darüber entscheiden kann?

Offen gestanden ist das Alter, auf das ich an jenem Tag von einer jungen Schönheit unbarmherzig aufmerksam gemacht wurde, auch nur der eine Teil der Geschichte. Alt und studierend – im schlimmsten Fall wäre es zunehmend ruhiger im Raum geworden, sobald man ihn betreten hat. Weil viele denken: Das kann nur der Dozent sein. Ein leichtes Räuspern, nachdem man seinen Platz eingenommen hat, lässt auch die letzten Gespräche abrupt verstummen. Damit hätte ich nicht nur leben können, ich hätte das sogar genossen!

Aber alt und Flohmarkthändler? Das wiegt viel schwerer. Das nagt bis heute an meinem Selbstbewusstsein. An diesem Tag habe ich das erste Mal im meinem Leben gemerkt, dass etwas verkehrt läuft. Also musste sich irgendwas ändern.

Jetzt bin ich Lagerist.

Ich glaube, das ist Punkrock.