Angenommen, vor zwanzig Jahren hätte mir jemand ein Buch unter die Nase gehalten, das im Untertitel Aufklärung darüber verspricht, „wie Sie Kompetenz zeigen und Menschen für sich gewinnen“ – im günstigsten Fall hätte ich es einfach nicht angerührt. Viel wahrscheinlicher hätte ich es ihm aber aus der Hand geschlagen. Beruflicher Erfolg, um den es in dem Werk geht, zählte in der Szene, in der ich mich bewegte, nicht direkt zu den Primärzielen. „Arschkriecher“ wäre damals eine der wahrscheinlichen Umschreibungen gewesen, welche wir für Jack Nasher sowie die Leser seines Buches „Überzeugt!“ gefunden hätten.

In der Zwischenzeit ist man natürlich um die Erfahrung reicher, dass etliche der Leute von damals schon bald (oder sogar noch während sie mit uns gemeinsam Parolen schwangen) doch Karriere angestrebt haben. Oder jedenfalls das, was nach ihren Möglichkeiten in dieser Hinsicht drin war. Vor diesem Hintergrund sowie manch anderer Veränderung stellt sich heute natürlich auch für mich die Frage nach beruflichem Erfolg anders als damals. Richtig oder falsch – was bedeutet das schon?! Manches werde ich nicht mehr nach- oder aufholen können, aber ich kann dafür sorgen, dass mein eigener Weg ab sofort weniger von Zufällen abhängt. Zumal solches Wissen nicht allein auf den beruflichen Kontext beschränkt ist, sondern in mancher Lebenslage des Privaten auch Gültigkeit besitzt.

Als in beiden Sphären tendenziell weniger Begünstigter dachte ich selbst nachdem mir der Zahn schon mehrfach gezogen worden war, es würde schon für sich sprechen, was ich kann. Insofern wurde es höchste Zeit, mit der Lektüre dieses Buches auf das Offensichtliche aufmerksam gemacht zu werden: Dass die meisten Menschen die Kompetenz anderer nämlich gar nicht angemessen beurteilen können, ihr Urteil demnach weniger von Fakten, sondern von der Wirkung des zu Beurteilenden abhängt.

Ausgangspunkt ist also die Annahme, dass es einen Unterschied zwischen tatsächlicher und wahrgenommener Kompetenz gibt. Letztere sei die entscheidendere. Eine darin steckende gewisse Plausibilität lässt sich nicht leugnen und würde darüber hinaus erklären, weshalb ich bislang nicht einfach so entdeckt wurde, ohne aktiv auch nur irgendwas dafür zu tun. Doch in dieser Beobachtung steckt aber natürlich noch eine Komponente, deren Tragik weitaus schwerer wiegt als das Unentdeckt-Bleiben einiger Talente. Beantwortet sie doch Fragen, die sich jeder von uns schon mindestens einmal im Leben gestellt haben dürfte: Wie zum Teufel ist der an diesen Posten geraten? Hält der sich jetzt wirklich für einen Experten, weil er drei Youtube-Tutorials zu diesem Thema angesehen hat? Die Welt ist nämlich voll mit Menschen, die viele der im Buch versammelten Tipps schon kannten, bevor Jack Nasher so freundlich war, das alles relativ kompakt zusammenzutragen. Die Trumpisierung der Gesellschaft schreitet unaufhaltsam voran. Und zwar nicht erst seit gestern.

Insofern wäre die Zeit überreif, für eine bessere Vermarktung meiner selbst zu sorgen, um diesem Trend ein mächtiges Pfund entgegenzusetzen.

So weit, so überzeugend. Wie viele von den im Buch geäußerten Vorschlägen ich aber umsetzen kann oder will – ich weiß es nach wie vor nicht. Mich hat das Buch nicht ganz überzeugt, stellenweise sogar verstört. Zum Beispiel durch den im Kapitel „Immer schön zuversichtlich“ geäußerten Gedanken, Menschen ließen sich nicht von demjenigen mit den besten Argumenten überzeugen, sondern von demjenigen mit der größten Zuversicht. Die Erkenntnis: Selbst wer grandios scheitert (und darin halte ich mich für kompetent), wird als kompetent wahrgenommen, sofern er – und jetzt kommt es – vorher ein deutlich positiveres Ergebnis prognostiziert hatte. Wohingegen derjenige, der sein Scheitern realistisch eingeschätzt hatte, wesentlich schlechter abschneide. Die Welt ist eben nicht gerecht.

Hier immerhin würde ich es auf einen Versuch ankommen lassen. Wundert Euch also nicht, wenn ich demnächst sage: „100 kleine Gäste soll ich in dieser einen Stunde mit Luftballonfiguren versorgen? Eine meiner leichtesten Übungen.“ Vorher: „Oh, da werden aufgrund mangelnder Zeit aber einige Kinder leer ausgehen müssen.“

Oder ich höre mich schon auf der Arbeit sagen: „Ach! Das sind bloß vier Paletten. Die habe ich an einem halben Tag kontrolliert und verräumt.“ Früher: „Zwei bis drei Tage wird einer allein dafür schon brauchen.“

Was ich voraussichtlich eher nicht beherzigen werde, sofern ich meine Glaubwürdigkeit nicht komplett in die Tonne treten möchte: Das im Kapitel „Wie Sie Ihre Beliebtheit und Attraktivität steigern“ allen Ernstes als probates Mittel genannte Einschmeicheln:

Bekommen Versuchspersonen Komplimente von jemandem, der gerade ihre Hilfe benötigt, ist die Schmeichelei klar ersichtlich, und doch steigt dadurch die Beliebtheit des Schmeichlers, ganz egal, ob die Komplimente der Wahrheit entsprechen oder nicht. Die Durchschaubarkeit von Schmeicheleien scheint uns Menschen bis zu einem gewissen Grad nicht zu stören, da wir schlicht und einfach ein sehr starkes Bedürfnis danach haben, mit uns selbst zufrieden zu sein.“

Selbst wenn die Empirie auf Nashers Seite zu stehen scheint, bleibt mir meine Selbstachtung wichtiger als Erfolg. Daher werde ich diesen Rat bei der praktischen Umsetzung regelmäßig überspringen. Doch auch wenn es bis hierhin eventuell nicht so ´rüberkam: Mit Großteilen der alten wie neuen Erkenntnisse aus „Überzeugt!“ kann man arbeiten! Sicher sind darunter auch Punkte, die der eine oder die andere an anderer Stelle schon ´mal gehört hat. Aber Wiederholungen schaden auch nicht unbedingt. Sie sind jedenfalls moralisch bei weitem nicht so anstößig wie die eben genannten Negativbeispiele.

Zu denen gehören Sprache und Körpersprache. Das schadet ja niemandem, wenn man es umsetzt. Es gibt Tipps, die schwierig umzusetzen wären, aber gerne mitgenommen werden, wenn man ausnahmsweise sowieso zu den Begünstigten zählt: Bei 185 cm Körpergröße stört es mich tendenziell weniger, wenn große Menschen kompetenter wirken. Umgekehrt trifft es mich, dass attraktive Menschen ebenfalls als kompetenter eingeschätzt werden. Nicht dass ich mich selbst als unattraktiv beschreiben würde. Nur sehe ich mich ja auch zaghaft nach einer Partnerin um und weiß daher, dass in dieser Hinsicht Selbst- und Fremdeinschätzung divergieren können.

Ein paar Attraktivitätspunkte kostet mich wohl meine Brille. Aber wenn ich sie schon der Erfolgschancen bei Frauen wegen nicht absetze, werde ich das der Kompetenzwirkung wegen erst recht nicht tun.

Aber das sage ich heute. Wer weiß schon, wie ich in zwanzig Jahren darüber denken werde…