Am besten, man denkt sich nach dem folgenden Satz Tusch, Konfettiregen, Feuerwerk und Fanfarenklänge in dem einem solchen Ereignis angemessenen Umfang dazu. Ich werde nämlich in zwei Tagen, selbstverständlich nur sofern das Schicksal nicht doch andere Pläne mit mir hat, meinen 17. Trockengeburtstag feiern.

17 Jahre ohne einen Tropfen Alkohol. Wo bei manch anderem das Durchhaltevermögen gerade oder nicht einmal für drei Tage Abstinenz reicht, kann ich endlich einmal mit Fug und Recht von einer Erfolgsgeschichte, einem echten Meilenstein sprechen.

Zwar kann es sein, dass ich deswegen früher sterbe, dafür aber wahrscheinlich gesünder. Klingt wie ein schlechter Scherz, aber durch gleich mehrere Studien soll nachgewiesen worden sein, dass Abstinenzler im Schnitt früher sterben als gelegentliche Trinker. Was bedeutet das? Erstens: Mehr noch als bei anderen Untersuchungen ist beim Thema Alkohol nicht ganz unwesentlich, wer die Studie in Auftrag gegeben hat. Zweitens: Nicht zwangsläufig bedeutet Korrelation zweier Variablen auch Kausalität. In Bezug auf den Zusammenhang zwischen Abstinenz und niedriger Lebenserwartung fehle beispielsweise die Differenzierung, weshalb die Probanden abstinent lebten, moniert die Gegenseite. In der Tat klingt folgende Vermutung auch nicht komplett aus der Luft gegriffen: Wenn angenommen werden darf, dass einige aufgrund ohnehin angeschlagener Gesundheit komplett auf Alkohol verzichten, klingt es einigermaßen plausibel, dass exakt jene gesundheitliche Beeinträchtigung ursächlicher für einen früheren Tod ist als die Abstinenz an sich.

Aber Alkohol kann noch mehr als Leben verlängern. Und zwar hilft er beim Lernen. Wirklich! Zwar vergrößert Alkohol die Schwierigkeiten, neue Informationen aufzunehmen. Eine Erfahrung, die so ziemlich jeder mindestens einmal im Leben gemacht haben dürfte. Dafür wären aber im Hirn umso mehr Ressourcen frei, um das vorher Gelernte im Gedächtnis zu verankern. Hätte ich also nicht bereits in den Freistunden in Schule und Universität schon gesoffen, sondern wie jeder anständige Mensch erst hinterher, wäre mein Lernerfolg vermutlich größer gewesen. Ich habe das Zeug also einfach nur falsch angewendet. Hätte ich das ´mal vorher gewusst…

Auch bei Fremdsprachen hätten mir meine täglich sechs bis sieben Liter Bier hilfreich sein können: Leicht Alkoholisierte haben eine bessere Aussprache bei einer Fremdsprache, wurde kürzlich festgestellt. Da hilft es auch nichts, dass es um die niederländische Sprache ging. Niederländisch kann man exzellent sprechen, gerade wenn man die Zähne nicht besonders weit auseinander bekommt. Wen wundert es da noch, wenn das im angeheiterten Zustand beeindruckend gut klingt?!

Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche

Obwohl ich also durch das Nicht-Trinken Abstriche bei Fremdsprachen- wie Wissensaneignung machen muss, habe ich vor 17 Jahren den richtigen Schritt unternommen. Wenigstens so weit ich das bis jetzt überblicken kann. Ich habe die Reißleine rechtzeitig gezogen. Die Abwärtsspirale gestoppt, kurz bevor sie richtig an Fahrt gewinnen konnte. Bier in Plastikflaschen und mit Schraubverschluss habe ich nicht mehr miterleben müssen. Allein schon deshalb hat sich der Ausstieg gelohnt.

Sieht man davon ab, dass es für einen solchen Schritt keine falsche Zeit geben kann – auch aus einem anderen Grund und um das Ganze ab hier wieder auf eine etwas ernsthaftere Ebene zu hieven, habe ich wohl einmal im Leben das Richtige zur richtigen Zeit unternommen. Da nämlich der Kreis der Freunde und somit also der Unterstützer nur wenig später – ich war Ende 20 – durch Rückzüge in gerade gebaute Nester deutlich zusammenschrumpfte, wäre das alles vermutlich zu einem späteren Zeitpunkt sehr viel schwerer gefallen. Noch heute bin ich dankbar, dass ich in einer der schwierigsten Phasen meines Lebens auf ein intaktes soziales Umfeld zurückgreifen konnte und mich nicht ausschließlich auf die Erfahrungen der neu kennengelernten Typen aus diversen Selbsthilfegruppen stützen musste.

Um hier niemandem Unrecht zu tun: Natürlich geben die Erfahrungsberichte dort Halt; sie zeigen den Betroffenen, dass man kein Außerirdischer ist, sondern einer von vielen. Dort werden Probleme verstanden, die nur jemand verstehen kann, der in der gleichen Situation ist. Und um verstanden zu werden, bedarf es keiner großen Erklärungen, sondern manchmal nur ein bis zwei Worte. Das Potenzial einer Selbsthilfegruppe ist enorm. Umso bedauerlicher ist es eigentlich, dass ihre Leistung an manchen Tagen auf die bloße Funktion reduziert wurde, sich besser zu fühlen, weil man feststellen durfte: So kaputt wie die meisten anderen bin ich noch lange nicht.

Für Nichteingeweihte: Man trifft dort also hauptsächlich deswegen zusammen, um sich gegenseitig darin zu bestätigen, dass alles furchtbar schlimm ist. Entzug ist schlimm, Abstinenz ist schlimm, Saufen war schlimm. Es artete manchmal in einen Überbietungswettbewerb aus, bei dem derjenige, dem es am miesesten ging, sich als Sieger dieses Vergleichs fühlen durfte. In diese Situation hinein kam eines Morgens eine junge Frau und hielt allen Anwesenden einen Spiegel vor. Während sie vortrug, dass sie selbst seit der Entgiftung die beste Zeit ihres Lebens durchmache, haben einige wahrscheinlich bedauert, dass das Verbrennen auf dem Scheiterhaufen im Laufe der Jahre ein wenig aus der Mode gekommen ist. Sie hatte es gewagt, dem Chor der chronischen Jammerlappen und Selbstverachter den ausgestreckten Mittelfinger zu zeigen. Das alles hatte mittlere Unruhe bei den anderen Teilnehmern zur Folge gehabt. Da lag mehr Spannung in der Luft als an dem Tag, als sich dort je ein Vertreter der Raucher- und der Nichtraucher-Fraktion dadurch befehdeten, dass sie im 30-Sekunden-Takt aufstanden, um das soeben vom anderen geöffnete Fenster umgehend wieder zu schließen oder eben umgekehrt das dann geschlossene Fenster zu öffnen.

Der aufmerksame Beobachter kann also feststellen: Die Lebenslügen kennzeichnen den Alkoholiker, ob nass oder trocken. Es geht heiter weiter, nur eben mit anderen Vorzeichen. Vorher: Alles nicht so schlimm, man könnte, wenn man wollte, auf der Stelle aufhören, man hat sich im Griff. Nachher: Alles war so furchtbar trostlos, alles war ganz schlimm. Sicher, die späteren Phasen sind häufig gekennzeichnet von Vereinsamung, von depressiven Verstimmungen, sind in der Tat traurig anzusehen.

Aber eines steht genauso fest: Wer niemals das erreicht hätte, was er durch exzessiven Alkoholmissbrauch hatte erreichen wollen, wäre so weit unten gar nicht angekommen. In meinem Fall war das Ziel nicht nur die Überwindung verschiedenster Unsicherheiten, sondern wie ich Jahre später lernte auch die Fähigkeit, meine Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt zu lenken und das Morgen gerade ´mal egal sein zu lassen. Jeder hat mit der Sauferei ein oder mehrere Ziele verfolgt, bevor sie schließlich zum Selbstzweck wurde. Wenn dieser Zweck zu keiner Zeit erfüllt worden wäre, hätten wir doch alle die Finger wieder davon gelassen. Es hätte schlicht keinen Grund gegeben, wieder und wieder zu trinken. Demnach kann nicht alles schlecht gewesen sein. Weil: Allein wegen des Geschmacks hat mit Sicherheit niemand, der noch alle Tassen im Schrank hat, zu Bier oder Schnaps gegriffen. Gut, es gab Apfelwein, aber auch dessen gaumenschmeichlerische Eigenschaften rechtfertigten niemals die Einnahme von solchen nicht nur geringfügigen Mengen.

Nachdem ich in den ersten Jahren jeden Trockengeburtstag groß gefeiert habe, ist es schon seit einiger Zeit alles in allem deutlich ruhiger geworden um das Thema. Es hat sich normalisiert. Was gut ist. Angesichts der Riesenleistung, die das ja nach wie vor ist, täte ich aber gut daran, mich von Zeit zu Zeit vor mir selbst zu verneigen. Erst recht, weil das alles nicht nur geräuschlos, sondern in Würde vonstatten geht und nicht mit großem Lamento wie bei den beschriebenen Leidensgenossen. Vielleicht sollte ich wenigstens zu den Jahrestagen doch wieder ein bisschen mehr Rummel darum zulassen. Um für dieses Jahr großartig was auf die Beine zu stellen, fehlt spontan wohl etwas Zeit. Aber nächstes Jahr, da werde ich ja volljährig. Da muss einiges gehen!

Ich erwarte, mir Konfettikanonen und Pyrotechnik dann nicht nur denken zu müssen.