Von allen denkbaren Kränkungen, die das Leben im allgemeinen bereithält, ist die schlimmste Demütigung, wenn Du auf der Arbeit ohne Vorwarnung von jüngeren Kollegen einen Stuhl angeboten bekommst.
Man muss dazu wissen, dass ich die in jenem Moment ausgeführte Tätigkeit entgegen der von manchen Kollegen gepflegten Praxis aus Gründen der Effizienz üblicherweise im Stehen verrichte. So gern ich aus dramaturgischen Gründen an dieser Stelle behaupten würde, ich wäre fast vom Stuhl gefallen, als ich diesen Vorschlag hörte – es wäre aus gleich mehreren Gründen kein realistisches Szenario.
Als ob ich auf der Arbeit keine anderen Sorgen hätte, stand ich nun vor dem Problem, auf diese gut gemeinte Geste eine Reaktion abzuliefern, die nicht mindestens einen jüngeren Kollegen ob einer gewissen zur Schau gestellten Trägheit desavouiert.
Es ist für das weitere Verständnis dieses Textes zwar bedeutungslos, aber es ist mir nicht gelungen.
Wer meine Veröffentlichungen regelmäßig liest, wird bereits mehr als einmal mitbekommen haben, wie mein Selbstverständnis als für mein Alter optisch, geistig und mit Abstrichen auch körperlich relativ gut erhaltener Mensch regelmäßig erschüttert wird, wenn es mit Gegebenheiten wie der beschriebenen konfrontiert wird.
Was auch immer man unter „in Würde altern“ versteht – diese Situation beschreibt es nicht! Andererseits ist die Schwäche dieser Formulierung ohnehin folgende Implikation: dass es nämlich offenbar für niemanden ein ernsthaftes Problem darstellt, wenn man würdelos vor sich hin vegetiert, solange man dieses bestimmte, leider jedoch nirgends verbindlich definierte Alter eben noch nicht erreicht hat.
Man ist ja immer nur so alt wie man sich fühlt, ist der Einwand, der mir bei diesem Thema üblicherweise entgegenschlägt. Berechtigterweise. Die individuelle Einstellung zum Alter und zum Leben allgemein will ich auch überhaupt nicht vernachlässigt wissen. Und dennoch ist es nur die halbe Wahrheit. Es ist am Ende nämlich doch etwas mehr als eine bloße Zahl, und das mit der Einstellung hat definitiv Grenzen. Denn wann genau hat man denn das letzte Mal einen der folgenden oder vergleichbare Sätze gehört:
„Seit ich 50 geworden bin, fällt meinem Knie die Halbmarathondistanz wesentlich leichter.“
„Was war das früher als Jugendlicher für ein Krampf jedes Mal: Freitag feiern, und dann bis Sonntagabend zu nichts zu gebrauchen.“
„Mit 25 hatte ich noch so richtig schlechte Augen, inzwischen geht’s.“
Wenn man die richtigen Leute kennt, spricht nichts gegen den Versuch, durch gezielte Gespräche wenigstens die intellektuelle Entwicklung nachhaltig einzufrieren. Wenn man nicht die richtigen Leute kennt, erreicht man durch den Konsum geeigneter Fernsehsender einen sehr ähnlichen Effekt. Wenn man die richtigen Leute kennt und zusätzlich dafür geeignete Fernsehsender konsumiert – Glückwunsch zum Jackpot! Mit ein bisschen Übung sollte es sogar gelingen, die Geisteskraft auf ein früheres Niveau herabzusenken. Doch nicht alles, was gut klingt, hält auch einer kritischen Überprüfung stand: Die Degeneration des Körpers schreitet nämlich weitgehend unbeeindruckt von Geistes Bad im Jungbrunnen weiter voran.
Da ich im Normalfall nicht zum Arzt gehe, bevor ich mein Leben akut bedroht wähne, kann ich das gesamte Ausmaß der Zerstörung meines einst kraftvollen Körpers momentan bestenfalls erahnen. Ich denke mir aber, dass bei dank Hund und Arbeit durchschnittlich 22.000 Schritten am Tag durchaus gerechtfertigt ist, dass ich am Abend nicht noch mehrere Kilometer jogge, sondern mir meine Kräfte unter anderem auch für das Verfassen großartiger Blogeinträge aufspare.
Die Frage bleibt: Gibt es zwischen denen, die sich ewig jung fühlen und damit bei ihren Mitmenschen im besten Fall Skepsis, im nicht ganz so idealen Fall Mitleid auslösen, und denen, die ab Mitte 40 schon hauptsächlich mit großer Leidenschaft über ihre körperlichen Gebrechen referieren, noch ein paar wenige außer mir, die halbwegs realistisch einschätzen können oder wollen, wo ungefähr sie stehen?
Wahrscheinlich meint „in Würde altern“ eine Form von Souveränität zu erlangen oder zu bewahren: Dem Sirenengesang, wonach man heute im Gegensatz zu früheren Generationen im Alter so viele Möglichkeiten hat, widerstehen zu können. Nein zu sagen zu dem Irrsinn, jeder müsste sich demzufolge auch in gesetztem Alter noch zu Höchstleistungen motivieren.
Wichtig wäre, jeden Tag zu feiern, an dem man halbwegs gesund aufwacht. Ob man dann nach dem Aufstehen für Olympia trainiert oder ob man doch lieber im Schaukelstuhl Kreuzworträtsel löst, sollte jedem selbst überlassen bleiben.