Aufzeichnungen aus der Wirrnis des Alltags

Monat: Juni 2019

Pick-Up für Fortgeschrittene

„Manche Dinge ändern sich nie.“ Zugegeben: Schlecht klingt das zunächst nicht, wenn Freunde solche Dinge über Dich sagen. Man darf sich durchaus geschmeichelt fühlen. Zumindest bis man registriert, dass dieses Urteil genauso gut auf negative Eigenschaften zutrifft, die man lieber längst über Bord geworfen hätte.

Gehen wir runde 35 Jahre zurück: Kaum dass die ersten Haare am Beutel zu sprießen begannen, wahrscheinlich aber sogar noch etwas früher, begann die Suche nach einer adäquaten Partnerin. Das ist für sich genommen noch nicht besonders ungewöhnlich. Originell wird es im Prinzip erst durch die Art und Weise, wie ich gemeinhin versuch(t)e, die Aufmerksamkeit meiner Auserwählten zu erlangen.

Ausgehend von der Überlegung, dass sich Beziehungen am besten anbahnen lassen, wenn man sich ab und zu begegnet, gilt es, Hauptwohnsitz sowie weitere Orte herauszufinden, an denen sich der neue Schwarm bevorzugt aufhält. Am besten mit den dazugehörigen Zeiten.

Irgendwann weiß man zum Beispiel einfach, wann und wo sie Hockeytraining hat oder in welchen Gasstätten sie sich an einem Freitagabend bevorzugt aufhält. Man hat also genügend Anlaufstellen, die man vorher nie, jetzt aber ständig frequentierte, um die Wahrscheinlichkeit eines Aufeinandertreffens zu beeinflussen und dann im Ernstfall das Gespräch mit den Worten eröffnen zu können: „Oh, mit Dir hätte ich hier aber nicht gerechnet.“ Den Verlust meines Glaubens an Zufälle verorte ich nicht ganz zufällig in etwa in dieser Zeit meiner ersten Gehversuche in Sachen unverbindlichen Flirtens. Meine Neigung zu ausgedehnten Spaziergängen dürfte ebenfalls in dieser Phase ausgebildet worden sein.

Wollte man diese Methode als würdelos bezeichnen, käme ich damit eigentlich noch ganz gut weg. Vor allem: In Sachen Effektivität ist bei dieser Vorgehensweise demnach definitiv noch Luft nach oben. Denn egal, wen, wann und wo ich jemand auf solche Weise gestalkt habe – wirklich getroffen habe ich eigentlich niemals eine meiner Herzdamen. Bis heute nicht. Manche Dinge ändern sich eben tatsächlich nie.

Okay – geändert hat sich, dass ich heutzutage besser gekleidet bin als früher. Ansonsten ist alles noch wie zu Zeiten, in denen Mama die Klamotten für mich herausgelegt hat.

Im vorliegenden Fall war es so, dass mir an Fronleichnam eine Lady am Getränkestand aufgefallen war. Ich durfte die Besucher eines Festes mit modellierten Luftballonfiguren beglücken. Wir wechselten ein paar Worte, als ich ihr ein Ballonarmband vorbeibrachte, das ich mit so viel Leidenschaft gefertigt hatte wie ich sie sonst nur selten in eine Ballonfigur ´reingesteckt habe. So ähnlich zumindest habe ich es ihr gesagt. Als sie mit ihrem Dienst fertig war, kam sie nochmal zu mir, um sich zu verabschieden und uns Gelegenheit zu geben, weitere zwei bis drei Minuten zu reden. Das hat zwar ausgereicht, mich nachhaltig zu beeindrucken. Jedoch wartete ich vergeblich auf den Satz „Ich gebe Dir am besten ´mal meine Telefonnummer.“ Manche Dinge ändern sich eben nie.

Also kam es, wie es kommen musste: Ich bin an einem der darauffolgenden Tage nochmal auf diesem Fest vorbeigegangen. Ein Fest, das mir ausreichend Gründe bietet, warum ich dort normalerweise kein Gast bin: Wenn die Presse im Nachgang darüber berichtet, ist in aller Regel eine Gruppe von Menschen abgebildet, die an einem Festzelttisch sitzt und Biergläser in die Höhe stemmt. Auf dem Bild nicht zu sehen ist die musikalische Begleitung aus Schlagermusik. Nein, diese Art von Festen bietet für mich wirklich keinen Grund, sie zu besuchen. Es sei denn, ich soll dort Luftballons modellieren oder ich erwarte, dort einer Frau zu begegnen.

Wie kaum anders zu erwarten war: Manche Dinge ändern sich nie. Die schlechte Musik, die Partyfraktion mit den Bierkrügen, ein paar Bildungsferne – alles war genau wie am Donnerstag oder an jedem anderen Tag dieses Festes in den letzten 50 Jahren. Nur diese Frau war nicht da.

Was lag da näher, als am gleichen Tag zu einem späteren Zeitpunkt nochmal zufällig dort aufzuschlagen, um zu sehen, ob sie in der Zwischenzeit eingetroffen ist?!

Trotz dieser nicht stattgefundenen zufälligen Begegnung war ich erleichtert, dass dieses Fest lediglich an drei Tagen im Jahr stattfindet. Bleibt mir doch auf diese Weise wenigstens erspart, was sich Jahre zuvor zugetragen hatte: Eine mehrere Wochen dauernde Phase, in der ich jeden Abend in dieselbe Kneipe gegangen bin, als logische Folge eines Samstagabends, an dem ich dort einmal eine Gruppe von drei Flugbegleiterinnen, darunter zwei Frauen, getroffen und mit ihr einen angenehmen Samstagabend verbracht hatte. Ich könnte argumentieren, dass mein Freizeitverhalten dadurch keine besonders radikale Umkehr erfuhr, da ich mich zu jener Zeit ohnehin an durchschnittlich fünf Abenden pro Woche in besagter Schankwirtschaft aufgehalten habe. Aber irgendwann war es an der Zeit, auch wieder ´mal etwas anderes zu unternehmen. Freunde sagten mir, dass diese Frauen innerhalb der vergangenen sieben Wochen garantiert einmal in meinem zweiten Wohnzimmer aufgeschlagen wären, wenn ihrerseits auch nur ein Minimum an Interesse bestanden hätte, mir zu begegnen. Dennoch: Ich brauchte einen Verbündeten. Jemand, der immer in diesem Lokal ist und interveniert, bevor die Flugbegleiterinnen enttäuscht wieder umkehren wollen, weil sie mich nicht gefunden haben.

Es gab exakt einen Menschen, der mich unterstützen konnte. Ein Mann, der allabendlich zur etwa gleichen Zeit an der Theke seinen Platz einnahm. Jemand hatte mir ´mal erzählt, dass er 1982, was zu jener Zeit bereits 20 Jahre her gewesen ist, das erste Mal in der Weinstube war und dieser Typ damals schon auf diesem Platz gesessen hat. Ich hatte meinen Verbündeten gefunden!

Der Grund, weshalb ich ihn am Ende doch nicht für meine Zwecke einspannte, ist simpel: Ich wollte keine alten Wunden aufreißen. Denn bestimmt hat der gute Mann einst aus dem gleichen Motiv, eine Bekanntschaft wiederzusehen, angefangen, diese Kneipe täglich zu besuchen. Und da Alkohol bekanntlich dabei hilft, zu vergessen, behielt er die Gewohnheit einfach bei, auch wenn er im Laufe der Zeit den ursprünglichen Anlass aus den Augen verlor und sich sicher nicht nur einmal die Frage gestellt hat: Was mache ich eigentlich hier?

Zwischenrufe

Nirgends hat man seine Ruhe. Gerade hat der Mann auf der Bühne einen gelungenen Gag über die Unvernunft mancher Konsumenten gemacht, wonach fair gehandelter Kaffee zu teuer sei, während die unfairen, dafür um ein Vielfaches teureren Kapseln sich steigernder Beliebtheit erfreuen. Das Publikum lacht und klatscht. Da empört sich hinter mir eine Frau: Jetzt klatschen wieder die Leute, die das exakt so praktizieren, so sinngemäß ihr vorgetragenes Lamento.

Ziemlich sicher hält der Comedian mit dieser Nummer auch zumindest einem Teil seines Publikums den Spiegel vor. Darüber ließe sich diskutieren. Hinterher!

Nicht, dass ich mich angesprochen fühlen musste, weil ihre Anklage meine Scheinheiligkeit entlarvt hätte. Als Nicht-Kaffeetrinker bin ich aus der Nummer ´raus, auch wenn bei anderen Gütern meine Konsumentscheidungen wahrhaft nicht immer ethisch vertretbaren, streng genommen nicht einmal immer rein rationalen Gesichtspunkten folgen. Es ist vielmehr: Wenn man einem Vortragenden zuhören möchte, sind Kommentare von den billigen Plätzen das letzte, das man gebrauchen kann. Dass man für die Möglichkeit des Zuhörens sogar Geld bezahlt hat, löst dieses Problem nicht. Es verschärft es höchstens noch.

Es ist ferner so, dass in solchen Situationen mein Blick besorgt in Richtung meines Bruders wandert, um zu sehen, ob beziehungsweise wie lange er noch die Contenance wahrt. Da man weiß, dass dieser Mann schon wegen weitaus unwichtigerer Anlässe mittlere Tumulte ausgelöst hat, hält man bei solchen Störungen halt einfach immer die Luft an, wenn man mit ihm unterwegs ist.

Weil die Frau nicht ahnen konnte, welche Zeitbombe sie da eigentlich vor sich hat, fühlte sie sich trotz oder wegen der Nichtreaktion aller anderen Anwesenden ermutigt, das Prozedere im weiteren Verlauf des noch jungen Abends an mehreren Stellen zu wiederholen. Immer leise genug, dass der Mann auf der Bühne ihre Zwischenrufe ignorieren konnte. Jedoch laut genug, um zwei bis drei Reihen der Gäste auf die Nerven zu gehen.

Mein Bruder nahm´s erstaunlich gelassen. Selbst im Nachhinein ist nur schwer zu rekonstruieren, ob das – er ist vor kurzem 50 geworden – eine Form von Altersmilde ist oder ob es damit zu tun hat, dass die Dame schon vor Beginn der Show dafür gesorgt hat, dass man sie nicht ernst nehmen sollte. Indem sie ihre beiden Begleiterinnen nämlich fragte, ob es in Ordnung wäre, dass sie in der Pause geht, wenn sie das Programm nicht lustig findet, hatte sie unmissverständlich angedeutet, dass bei ihr der Spaß aufhört.

Während der Pause erzählte ich meinem Bruder von einem mehrere Jahre zurück liegenden Konzert einer uns beiden bekannten Band. Für ihn, der mehr Konzerte dieser Kapelle gesehen hat als ich, musste ich nicht extra erwähnen, dass es in dieser Szene gang und gäbe ist, dass Menschen aus dem Publikum die Bühne entern, um einen Teil eines Songs gemeinsam mit der Band zu performen. Manchmal wird auch bloß ins Mikrofon gerülpst oder gegrunzt. Manchmal werden auch Statements abgegeben, die mit dem Lied an sich gar nichts zu tun haben, andere Male dagegen sind Statements zu hören, die mit gar nichts irgendetwas zu tun haben beziehungsweise überhaupt nicht zu verstehen sind. Im Prinzip also auch ein bisschen wie Comedy. Die anlässlich solcher Konzerte nicht unübliche Praxis, eine nicht nur geringfügige Anzahl alkoholhaltiger Erfrischungsgetränke zu konsumieren, verstärkt diesen Trend zur unfreiwilligen Komik nur. So waren wohl auch an diesem Abend etliche Kannen Bier im Spiel gewesen, als ein junger Mann zwischen zwei Liedern auf der Bühne erschien und vom Sänger bereitwillig das Mikrofon gereicht bekam.

Was dann folgte, waren allerdings nicht ´mal die gestammelten Werke eines ansonsten sicher tiefgründigen Wesens. Der Typ hat zwar den Mund aufgemacht, aber aus diesem heraus kam: einfach nur gar nichts. Das war, als wenn jemand versuchte, einen Playback-Auftritt hinzulegen, die Technik aber versäumt hat, den dazugehörigen Ton bereitzustellen.

Nach ein paar ewig lang erscheinenden Sekunden dieses Stummfilm-Klassikers hatte der arme Kerl ein Einsehen und gab das Mikrofon – wortlos – an den Sänger zurück. Dieser wiederum verabschiedete den verhinderten Wortkünstler spontan mit dem bis heute unvergessenen Ausspruch: „Das war gerade der Sprecher der Adlerfront.“

Mein Bruder hat sich über meine Schilderung dieser Aktion fast noch mehr amüsiert als über das bis dahin gezeigte Programm.

Nach der Pause blieb es übrigens ruhig hinter uns. Die Frau hat ihre Ankündigung – im Nachhinein bin ich fast geneigt zu sagen: ihr Versprechen – wahr gemacht und ist dem zweiten Teil freiwillig ferngeblieben. Konsequent war sie wenigstens.

Und auch über diesen Move hat sich mein Bruder fast noch mehr amüsiert als über das ohnehin gelungene Programm.

Auszeit

Du kommst jetzt gerade ´mal in die zweite Klasse, dachte ich mir. Da stellt sich so manche Frage in dieser Form zum Glück noch nicht.

Eine gescheite Antwort wäre mir auf die Frage meines Sohnes, ob Youtuber ein Beruf sei, auf die Schnelle auch nicht eingefallen. Um ehrlich zu sein, habe ich mehrere Wochen später immer noch keine kluge Antwort darauf. Auf die Annahme, Unboxing-Videos und Beauty Channels wären vorübergehende Irritationen beim Übergang in eine bessere Gesellschaft, mag man sich dann irgendwie doch nicht mehr verlassen.

Ich hätte es mir leicht machen können. Besser: Ich hatte es mir leicht machen wollen. Anschauungsmaterial, bei dem sich selbst ernannte Experten um Kopf und Kragen reden, braucht man schließlich nicht lange suchen. Drei bis vier Beispiele – fertig ist der Verriss!

Sicher ist: Für einige Leute bedeutet es eine glückliche Fügung des Schicksals, dass sie auf Youtube Erfolg haben, weil sie zur Ausübung irgendeines regulären Berufes ziemlich offensichtlich kaum in der Lage wären. In dieser Hinsicht unterscheiden sie sich übrigens nur unwesentlich von manchem Profifußballer oder auch dem einen oder anderen Polizeibeamten, der andernfalls mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit auf der zu bekämpfenden Seite gelandet wäre.

Andererseits möchte ich lieber nicht wissen, was wir früher alles fabriziert hätten, wenn wir dieselben Möglichkeiten gehabt hätten. Aber was hatten wir? Den Offenen Kanal. Wenn wir ein Video gedreht haben, war allein der Datenträger viermal so groß wie ein heutiges Smartphone. Die komplette Ausrüstung wog mehrere Kilogramm und passte auch von der Größe her längst nicht in die Jackentasche. Überall und jederzeit Aufnahmen zu machen, war also nicht drin. Dass wir uns also vorher gut überlegen mussten, was genau um Himmels Willen wir vorhaben, wenn wir die Kamera anschmeißen, hat uns wohl vor großen Fehlern bewahrt. Dieses Korrektiv fehlt heutzutage.

Auch über die Mittel, die den Kids auf Seiten der Verbreitung heute zur Verfügung stehen, hätten wir uns damals gefreut. Wir hatten unsere Zeitschrift, die vierteljährlich erschien, und freuten uns, dass die Auflage von 1500 Exemplaren binnen weniger Tage vergriffen war. Verglichen mit dem, was heutzutage selbst der letzte Honk potentiell an Reichweite erzielen kann, erscheint es fast unglaublich, dass wir uns damit in der Stadt einen gewissen Ruhm erarbeitet hatten.

Gewiss lernten wir in diesem Zusammenhang auch Stress kennen. Doch allein die Erscheinungsweise verhinderte, dass wir jemals auf den Gedanken gekommen wären, Masse statt Klasse produzieren zu wollen. Alles in allem war diese Form von Stress überhaupt nicht zu vergleichen mit dem Druck, jeden Tag am besten mehrfach irgendetwas veröffentlichen zu müssen.

Natürlich leiden die Inhalte darunter, dass in der schönen neuen Welt ständig nachgelegt werden muss, um im Gespräch zu bleiben. Und natürlich darf man sich darüber amüsieren, wenn deswegen Belanglosigkeiten oder tausendfach Gesagtes in die Welt hinausgetrötet werden muss. Sollte es allerdings wahr sein, dass man in diesem Business umgehend Abonnenten verliert, wenn ´mal ein Tag nichts veröffentlicht wird, muss auch die Frage, was denn da auf der Konsumentenseite bitte durcheinander geraten ist, zumindest gestellt werden dürfen. Ausgebrannte Youtuber sind zur Zeit ein heißes Thema. Das kann bei solch jungen Menschen auch nicht einfach mit einem „selbst schuld“ beiseite gewischt werden.

Selbst bei mir, der ich lediglich einmal pro Woche etwas veröffentliche, erkenne ich Probleme, das neben Vollzeitjob, Hund und Katze, dem Bedürfnis nach Entspannung, Haushalt, Nebenerwerb und dem Versuch, eine Partnerin fürs Leben zu finden, irgendwie zu managen. Fakt ist: Allein das, was sich zur Zeit im Haushalt an unerledigten Aufgaben aufgestaut hat, würde ausreichen, um in weiteren zwei bis drei Partnerinnen den Entschluss zur Trennung reifen zu lassen. Da wird also schon einiges dem Ziel, jeden Sonntag etwas Schönes vorzeigen zu können, untergeordnet. Die Schwierigkeit, dabei überhaupt immer wieder ´mal Themen zu finden, die ich noch nicht beackert habe und zu denen ich gleichzeitig etwas Relevantes zu sagen hätte, ist dabei noch nicht einmal berücksichtigt.

Die Antwort, die ich meinem Sohn demnach hätte geben müssen, als er die Youtube-Frage stellte: Beruf ja, erstrebenswert nein.

Nachdem sich allerdings letzte Woche wieder einmal ein hoffnungsloser Fall bei uns im Lager vorgestellt hatte, dachte ich mir zweierlei:

  1. Man muss nicht Youtube anwerfen, um auf selbsternannte Experten zu stoßen.
  2. Vielleicht ist das Geld in eine vernünftige Ausrüstung und die Zeit für die Ausarbeitung eines gescheiten Plans für eine Karriere als Youtuber doch ganz gut angelegt, weil alles besser ist als in irgendeinem Lager dieser Welt mit solchen Kollegen das komplette Leben zu verschenken.

Wie ich lernte, Kaffee zu hassen

Kaffeeklatsch. Als ich Kind war, bedeutete die Ankündigung eines solchen stets, dass ich mich auf eine relativ spaßbefreite Veranstaltung vorbereiten durfte: Wenn Frauen sich trafen und redeten und dabei Kaffee konsumierten, war man als Kind mehr oder weniger im Abseits. Schließlich konnte ich weder mit Kaffee noch mit quatschenden Frauen besonders viel anfangen. Immerhin: Die düstere Vorahnung, dass sich an beiden Sachverhalten im weiteren Verlauf meines Lebens höchstens graduell noch etwas ändern würde, hatte ich damals schon. Daran konnte auch die regelmäßige Entschädigung in Form von Streuselkuchen nichts Grundsätzliches ändern, sondern die Entwicklung einer gesunden Abneigung gegen dieses Heißgetränk höchstens hinauszögern.

Es kam natürlich zunächst, wie es kommen musste: Als Heranwachsender beginnt man irgendwann, Rituale erwachsener Vorbilder zu imitieren. Also braute ich mir gelegentlich nach der Schule Kaffee, verzichtete jedoch auf die dazugehörigen Elemente Kuchen und Klatsch. Was keine erschütternd negative, gar traumatische Erfahrung gewesen ist und deshalb immer noch keine ausreichende Begründung lieferte, das schwarze Gebräu so abzulehnen, wie ich es heute tue. Es leuchtete mir seinerzeit schlicht und ergreifend irgendwann nicht mehr ein, warum ich nachmittags Kaffee trinken sollte, wenn ich auch Bier trinken kann.

Schmecken tat beides nicht. Anregend wirkte beides. Zwar auf unterschiedliche Weise, aber immerhin. Olfaktorisch hatte Kaffee dem Bier gegenüber einen klaren Punktvorteil, aber letzten Endes gab den Ausschlag, dass Kaffee hinterher nicht schuldmindernd wirkte, wenn man Dummheiten begangen hatte. (Die man überwiegend auch nicht begangen hätte, wenn man nur Kaffee getrunken hätte, aber das ist eine andere Geschichte.)

Nach und nach mehrten sich Erfahrungen, dass Kaffeetrinker im Grunde die Bremser waren, die den Beginn jedweder anstehenden Aufgabe grundlos verzögerten. Weil: „Ohne Kaffee geht gar nichts.“ Dass anschließend die Müdigkeit verschwindet und die Leistungsfähigkeit zunimmt, habe ich in dieser Zeit jedoch auch nur bei den wenigsten Kaffeetrinkern gesehen. Bei den meisten tat sich trotz mehrerer Tassen immer noch nichts. Es war dies die Zeit, in der ich das erste Mal in meinem Leben bewusst Vorurteile pflegte. Da ich mich meinerseits mit verschiedensten Vorurteilen konfrontiert sah ob meines überdurchschnittlichen Konsums von Bier und Apfelwein, empfand ich das als gerecht.

Es darf nicht wirklich verwundern, dass meine nächste Konfrontation mit exzessiven Kaffeetrinkern in Selbsthilfegruppen für Alkoholiker stattfand. Die Forschung bemüht sich ja, herauszufinden, wie viele Tassen täglich noch als gesund oder zumindest als nicht schädlich anzusehen sind. Die Übergänge zwischen normalem und extremem Kaffeekonsum sind ja genauso fließend wie beim Alkohol. Man kann sich allerdings auch beim Schwarzen Gold sicher sein, in weltweit jeder solcher Selbsthilfegruppen mindestens ein Exemplar anzutreffen, das jede Obergrenze an medizinisch ratsamen Mengen sprengt.

Was ich aus dieser Zeit ebenfalls weiß: Selbst wenn Kaffee gesund ist, bewirkt er nicht automatisch, dass jemand auch gesund aussieht. Generell heißt es ja, dass Kaffee schön macht. Auch für diese Behauptung würde ich seitdem nicht mehr meine Hand ins Feuer legen. Und hierbei ist jetzt noch nicht einmal berücksichtigt, dass sich Jahre später in einer Facebook-Gruppe für Singles beide Befunde bestätigt sehen sollten. Wenn mir als Abstinenzler sonst nicht wirklich etwas fehlt – als Single vermisst man irgendwann doch die Möglichkeit, sich fremde Menschen schön zu saufen. Wenn man dazu dann noch feststellt, dass es mit den Möglichkeiten, sich selbst schön zu saufen, auch nicht so weit her ist, ist das natürlich auf spezielle Weise ernüchternd.

Mit der Schönheit ist es natürlich so eine Sache. Als im Glashaus Sitzender bin ich diesbezüglich auch gut beraten, mit Steinen nicht allzu sehr um mich zu schmeißen. Man muss manche Leute außerdem auch nicht unbedingt mehr hassen als notwendig. Was mir aber massivst auf den Zeiger geht, sind diese täglichen gegenseitigen Bestätigungen der ewig gleichen zehn Gruppenmitglieder, dass ein Leben ohne Kaffee streng genommen nicht möglich ist. Da spielt es sogar schon fast keine Rolle mehr, dass auch andere Beiträge in dieser Gruppe den Verdacht aufkeimen lassen, da hätte jemand ordentlich Cognac in seinen Kaffee geschüttet – das ist peinlich, das ist oberflächlich, das ist mitnichten ein Beleg für ein funktionierendes Gruppenleben.

Das Ziel dieser Gruppe sowie ähnlicher Plattformen im world wide web sollte ja bleiben, irgendwo in irgendeiner Ecke dieses schönsten aller Ballungsgebiete irgendjemanden zu finden, der irgendwie mit meinen Macken umzugehen bereit ist, um im Gegenzug von geistreicher, kurzweiliger und humorvoller Unterhaltung und einer zuverlässigen, vertrauenswürdigen und irgendwie aber auch unkonventionellen Persönlichkeit mit einem gewissen Kreativpotential und einem hohen Maß an emotionaler Intelligenz zu profitieren. Davon, dass das mitunter schwieriger ist als es klingt, war schon hin und wieder hier im Blog zu lesen. Dass mich dabei Vorgänge wieder einholen, die 18 Jahre zurück liegen, überrascht dann aber sogar mich. Wenn nach zwei Wochen intensiven Schreibens das Geständnis meiner Säufer-Vergangenheit von jetzt auf gleich zu einem kategorischen Ausschluss meiner Person als potentieller Partner führt, darf man auch ´mal darüber sinnieren, was passiert und eventuell sonst noch alles möglich gewesen wäre, wenn ich mich an irgendeiner Stelle meines Lebens für Kaffee statt Bier entschieden hätte.

Letzten Endes ein Grund mehr, die Plörre zu hassen.

Gesichter der Spontanität

Manches kann man recherchieren, anderes wird man nur schwer noch herausfinden können. So findet man zwar dank des www in wenigen Sekunden heraus, bei der wievielten Rechtschreibreform der Spontaneität ihr ´e´ abhanden gekommen ist. An der viel aufschlussreicheren Frage, wann man selbst seiner Spontanität verlustig gegangen ist, wird jedoch noch die leistungsfähigste Suchmaschine glorreich scheitern.

Weil es arg ungerecht wäre, wenn es mir in dieser Hinsicht besser ginge als dem Rest der Welt, kann auch ich heute nur schwer verorten, wann genau in meinem ohnehin ereignisarmen Leben ich ein letztes Mal spontan gewesen bin. Vielleicht war es der Abend im Mai 2005, an dem ich mich entschied, mir bei ebay eine gebrauchte Profi-Hüpfburg zuzulegen und diese Investition als Start in eine hoffnungsfrohe Zukunft im Veranstaltungs-Business zu betrachten. Jahre später weiß ich: Etwas mehr Überlegung hätte an dieser Stelle nicht direkt geschadet.

Auf solche oder ähnliche Weise hat wahrscheinlich ein jeder schon einmal seine Erfahrungen mit spontanen Anschaffungen gemacht, von denen er wenig später festgestellt hat, dass man sie streng genommen wenig bis gar nicht braucht. Viele Haustiere zum Beispiel wissen von dieser Form der Spontanität ein Lied zu singen.

Es hilft alles nichts: Um jetzt noch spontan zu werden, bin ich wohl schon fast zu alt. Nein, natürlich hat mangelnde Spontanität nichts mit dem Alter zu tun. Aber mit dessen Begleiterscheinungen: Vollzeitjob, Kinder, Paarbeziehung sind ja so einige der üblichen Verdächtigen, wenn es um Spontanitätshemmer geht. Womit nicht behauptet werden soll, dass es scheiße ist, das Genannte alles zu haben. Aber man sollte eben aufhören, so zu tun, als könne man gleichzeitig auch noch spontan in seinem Handeln sein. Nehmen wir die Paarbeziehung: Wenn man beispielsweise das Ende der Zusammenkunft mit Freunden spontan um drei Stunden nach hinten verschiebt, weil das Bier gerade ganz gut läuft, kann man sich sehr sicher sein, dass bei der Heimkehr garantiert nicht die Spontanität gelobt wird. Spontanität ist sowieso ein Kampfbegriff, der übersetzt so viel heißt wie: Mach´ doch bitte etwas mehr von dem, was ich möchte. Ich denke, das bildet die Realität in den meisten Haushalten eher ab als irgendwelche Lippenbekenntnisse, man wünsche sich einen spontanen Partner.

Nein, es bleibt schwierig, im Nachhinein noch herauszufinden, wann das alles angefangen hat. Wer damit angefangen hat. Man muss es genau genommen auch gar nicht so genau wissen. Waren wir nicht alle ein bisschen stolz auf einen prall gefüllten Terminkalender, der uns bescheinigte, wichtig zu sein. Unabkömmlich. Doch manches, was früher das Selbstwertgefühl festigte, ist 25 Jahre später einfach nur noch nervend: Du brauchst vier Vorschläge und drei Wochen, um Dich mit einem Freund zu verabreden. Wenn Du Dich mit gleich zwei anderen Menschen verabreden willst, brauchst Du eine Whats-App-Gruppe, zwölf Terminvorschläge und acht Wochen. Zeit. Spontanität hat ja nicht ganz unwesentlich mit Zeit zu tun. Zeit, die niemand mehr hat.

Das Leben ist durchgetaktet und weitgehend organisiert. Spontanität wird verschoben. Aber auf wann eigentlich? Auf den Urlaub? Die Rente? Oder auf die Zeit, in der man spontan gar nicht mehr kann und man dankbar ist, wenn wenigstens ein Nachbar hin und wieder spontan fragt, ob er etwas vom Supermarkt mitbringen soll. Nächster Schritt ist das Pflegeheim, das so spontan ist wie ein von A bis Z durchgestylter Instagram-Post eines beliebigen Möchtegern-Influencers.

Doch Rettung naht: Spontanität lässt sich lernen. Einfach immer öfter ´mal „Ja“ sagen, lautet das Heilsversprechen, von allerlei Fach- und Nichtfachleuten zigfach reproduziert und in youtube-Tutorials oder zwischen Buchdeckel gepackt. Das hört sich gut an. Doch spätestens wenn durch das Ja zu Überstunden, zu Tanzkurs und zur Kandidatur als Elternbeirat die Woche noch voller ist als sie ohnehin schon war, sollte man die Anschaffung des Bestsellers „Die Kunst, ´Nein´zu sagen“ als Ausgleich wenigstens in Erwägung ziehen.

Als ob das alles noch nicht reichen würde, den Wahnsinn rund um Spontanität zu beschreiben, hat sich in den letzten Jahren eine neue Form der Spontanität rasant ausgebreitet, vielmehr eine als Spontanität getarnte Unverbindlichkeit, nicht selten einhergehend mit einem individuellen Unvermögen, vernünftig zu planen.

Spontanität bedeutet nach dieser Lesart weniger, sich kurzfristig zu entschließen, etwas zu tun. Sondern es bedeutet, sich alle Möglichkeiten offen zu halten und erst kurz vor knapp eine Entscheidung zu treffen. Im Kern beinhaltet diese Pseudo-Spontanität demnach die Praxis, geplante Aktivitäten kurzfristig abzusagen und dabei in Kauf zu nehmen, andere Menschen dadurch zu verärgern. Wer das mit Spontanität verwechselt, darf das gern weiter so handhaben, muss dann allerdings damit leben, dass ich das nicht unbedingt als positive Charaktereigenschaft bezeichnen würde.

Kommen wir abschließend zur würdelosesten Form der Spontanität. Jene nämlich, bei der Menschen in meinem Alter, wirklich „irre“ Sachen machen, um sich selbst und anderen zu beweisen, wie cool und vor allem jugendlich sie noch sein können. Demonstrativ Spaß haben. Manch einem mögen da spontan Junggesellenabschiede in den Sinn kommen. Das Phänomen lässt sich aber genauso gut bei stinknormalen Mädelsabenden oder Zusammenkünften midlife-crisis-geplagter Männer beobachten. Gemeinsames Merkmal ist ein erwachsenen Menschen unwürdiges Verhalten, das auf Außenstehende eine Wirkung irgendwo zwischen peinlich und verstörend hat. Sich selbst und der Gruppe gegenüber bestätigt man sich allerdings gegenseitig, einfach nur „total verrückt“ zu sein. Was ich als Selbstzuschreibung schon immer verdächtig fand und bis heute finde. Was daran liegen kann, dass es bis heute niemandem gelungen ist, mir zu erklären, was genau jetzt besonders „crazy“, „abgefahren“ oder eben „spontan“ sein soll, sich zu Klängen einer Coverband auf einem beliebigen Stadtfest dieser Republik unrhythmisch zu bewegen. Dass das in dieser Formvollendung zumeist nur unter Zuhilfenahme von reichlichen Mengen Alkohol überhaupt gelingt, macht die Angelegenheit ja nicht weniger peinlich.

Das sind dann die Momente im Leben, in denen es eine untergeordnete Rolle spielt, wann genau die eigene Spontanität verloren gegangen ist. Denn wenn das Spontanität bedeuten soll, muss man im Grunde froh sein, sie überhaupt losgeworden zu sein.

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