Aufzeichnungen aus der Wirrnis des Alltags

Monat: März 2019

Wer hat an der Uhr gedreht?

Es war vielleicht etwas ruhiger als üblich, aber dafür kann es an einem Sonntagmorgen so viele unterschiedliche Gründe geben, dass ich dem Geschehen zunächst keine Bedeutung beimaß. Erst als ich an den Kiosk gelangte, an welchem ich mir die damals für solche Arbeitstage obligatorische Flasche Apfelwein zu erstehen gedachte, dämmerte mir, dass ich etwas Entscheidendes außer Acht gelassen hatte: Sollten vergangene Nacht tatsächlich die Uhren zurückgestellt worden sein, wäre das nicht nur die Erklärung dafür, dass die Trinkhalle meines Vertrauens noch geschlossen hat, sondern darüber hinaus auch die Ankündigung für mich selbst, dass ich ziemlich genau eine Stunde zu früh zum vereinbarten Treffpunkt erscheinen würde.

Wenn man erst vier Stunden vorher ins Bett gegangen ist, weil seinerzeit der äußere Taktgeber des Schlaf-Wach-Rhythmus´ die Sperrstunde des Stammlokals war, ist eine Stunde eine sehr lange Zeit.

Es würde angesichts eines derart vorbelasteten Verhältnisses zur Zeitumstellung demnach nicht überraschen, wenn ich die gerade getroffene Entscheidung, im Jahre 2021 letztmalig die Zeit umzustellen, uneingeschränkt begrüßen würde.

Allerdings habe ich seit der Beendigung des Studiums sehr zu schätzen gelernt, dass wir das Beste aus beiden Welten vereinen: Sommers abends länger hell, winters trotzdem morgens zu einer vertretbaren Zeit endlich irgendwann auch ´mal hell. Dass uns die halbjährliche Zeitumstellung als kostenlose Zugabe ein hervorragendes Smalltalk-Thema beschert, goutiere ich genauso wie die kleinen Gehässigkeiten, die ich dann stets über die armen Unschuldigen ausstreuen darf, die wegen dieser Stunde zwei Wochen lang komplett durchdrehen.

Da ich mir letzten Endes aber kein Urteil über die Reaktionen der Körper anderer Menschen erlauben darf, habe ich mir Letzteres jedoch zumindest teilweise abgewöhnt.

Zum Abgewöhnen ist wie üblich auch die Debatte zum Thema. Schon die Penetranz, mit der eine unverbindliche Online-Befragung zum Thema zur „Abstimmung“ geadelt wird, führt fast zwangsläufig zu der Frage, wie gescheit es ist, dass diese Leute tatsächlich alle wählen gehen dürfen. Man kennt ja inzwischen den Typ Teilzeitleitartikler, der den ganzen Tag lang sämtliche Internetforen dieser Welt zumüllt. Entsprechend weiß man solche Falschbehauptungen auch einzuordnen. Der Spaß hat aber spätestens dort seine Grenzen, wo professionelle Journalisten diese Unterscheidung ebenfalls nicht mehr vorzunehmen in der Lage sind.

Damit nicht genug, fühlen sich die Gegner der Zeitumstellung durch das Abstimmungs-, das heißt also das Umfrageergebnis als Teil einer überwältigenden Mehrheit, weil sich immerhin über 80 Prozent der Teilnehmer für ein Ende der Zeitumstellung ausgesprochen haben.

Man sollte es daher noch einmal von dieser Seite aus betrachten: 99 Prozent der 510 Millionen EU-Bürger haben an der Umfrage überhaupt nicht teilgenommen. Die Legitimation für die Abschaffung der Zeitumstellung bilden 4,6 Millionen, davon rund zwei Drittel aus Deutschland. Es kann mir im Grunde genommen egal sein, doch sehe ich die Gefahr, dass sich irgendwann der Rest des Kontinents die Frage stellt, ob die Deutschen denn wirklich keine anderen Sorgen haben.

Ich maße mir nicht an, über das Privatleben aller Befragungsteilnehmer Bescheid zu wissen. Ich tippe aber, dass die in vielen Haushalten gängige Praxis, am Wochenende ´mal richtig auszuschlafen, auch von vielen Zeitumstellungsgegnern ausgeübt wird. Diese lassen somit Woche für Woche eine Verschiebung ihres Schlaf-Wach-Rhythmus´ zu. Freiwillig und völlig ohne Meckern. Manchen davon gelingt montags die Umstellung auf die Woche nicht wirklich. Das soll kein Plädoyer für die Abschaffung der Wochenenden sein, weil man sich dadurch ganz andere Probleme generieren würde. Aber ehrlich und konsequent wäre genau das, wenn man das Argument der gesundheitlichen Beeinträchtigung durch die Zeitumstellung ernst nimmt.

Vielleicht bin ich bei diesem Thema inzwischen etwas arrogant geworden, aber ich lasse mich von Leuten, die sich am Tag vier bis fünf Büchsen Energydrinks ´reinballern, nur ungern über gesundheitliche Gefahren dieser einen Stunde mehr oder weniger aufklären. Ich habe mit den Widersprüchlichkeiten meiner eigenen Persönlichkeit schließlich schon hart genug zu kämpfen.

Leider ist die Diskussion mit der Entscheidung, die Zeitumstellung abzuschaffen, nicht beendet. Es muss noch die Frage beantwortet werden, ob dauerhaft „Sommer-“ oder „Winterzeit“ gelten soll. Schon werden die argumentativen Geschütze in Stellung gebracht, und wenn sich dabei erneut auf das Ergebnis dieser windigen Umfrage berufen wird, steht zu befürchten, dass es ab 2021 im Dezember und Januar morgens nicht vor 9 Uhr hell wird, weil die Masse scheinbar glaubt, dass ständige Sommerzeit ständigen Sommer bedeutet.

Es läuft darauf hinaus, dass am Ende jedes Land die Zeit hat, die es verdient.

Opfer und Überzeugungstäter

Papiertüten sind es. Elektrofahrräder ebenfalls. Dauerwellen sollen es wieder werden. Entschleunigung ist es gefühlt ständig, die AfD dagegen erst seit kurzem. Bärte und Tattoos hingegen sind es seit Jahren angeblich schon nicht mehr, behaupten sich entgegen dieser Voraussage jedoch erstaunlich lange im Stadtbild und fungieren dadurch gewissermaßen als Antithese zu der Idee, jemand könne ´mal eben bestimmen, was im Trend ist und was nicht.

Regelmäßiger Urheber besonders bizarrer Moden ist und bleibt selbstverständlich die Textilbranche. Für diese gibt es ganz offensichtlich nichts, was unbedeutend genug wäre, um in der wohl verdienten Versenkung belassen zu werden. Die Modebranche kramt irgendwann jeden Mist aus, wie folgende drei besonders irritierende Beispiele aus der jüngeren Zeit belegen:

So galten vor zwei oder drei Jahren plötzlich gymsacks als chic. Bei näherer Betrachtung stellte sich schnell heraus, dass es sich bei gymsacks um ordinäre Turnbeutel handelt.

Ich sag´s ´mal, wie es ist beziehungsweise war: Wer früher nach der 4. Klasse noch mit einem Turnbeutel aufgefallen ist, war für seine Mitschüler alles, aber ganz bestimmt nicht hip. Wer einen Turnbeutel trug, würde später auch an der Tür des Clubs abgewiesen werden, selbst wenn damals noch niemand eine Disco als „Club“ bezeichnete. Keineswegs war ein Turnbeutel eine Eintrittskarte in die Welt der Coolen und Schönen, sondern im Gegenteil ein Ausschlusskriterium aus dieser. Ein Turnbeutelträger wurde auf Jahre dazu verdammt, entweder als Einzelgänger sein Dasein zu fristen oder – kaum besser – als Angehöriger der Freaks und Außenseiter, für die man irgendwann später die passende Bezeichnung „Opfer“ fand.

Als mir ein Schulwechsel nach der 9. Klasse die Gelegenheit gab, meine Kredibilität als Stilikone zurechtzurücken und meine sozialen Beziehungen neu zu sortieren, wurde ich allerdings prompt erneut Opfer des Modediktats: Niemand hatte mir mitgeteilt, dass die Zeiten, in denen ein Aktenkoffer das trendige Behältnis für Stifte, Zettel und Pausenbrot gewesen ist, nach den Sommerferien endgültig und unumstößlich vorbei waren. Der einzige außer mir, der das ebenfalls nicht geschnallt hatte, war der Typ drei Jahrgänge tiefer, der schon dadurch auffiel, dass er den Koffer tatsächlich am dafür vorgesehenen Griff trug statt wie alle anderen lässig unterm Arm. Und der sah auch sonst aus wie ein Mobbing-Opfer und ist folgerichtig später Stadtverordneter für die Republikaner gewesen und abends mit seinem Schäferhund Patrouille durch den Stadtteil gelaufen. Ich befand mich also in Gesellschaft eines Wahnsinnigen, für den der Aktenkoffer kein modisches Statement gewesen ist, sondern eine Überzeugungstat.

Als Überzeugungstat galt lange auch das Tragen eines Fischerhutes. Zwar mit unbestritten praktischem Nutzen ausgestattet, scheiterte der modische Durchbruch dieses Accessoires allerdings an seiner über die Jahre etablierten Funktion als Erkennungszeichen der Dauercamper-Szene. Was Leuten wie mir, die so ein praktisches Teil hin und wieder als Abwechslung zur Basecap tragen würden und das platzsparende Aufbewahren nach Sonnenuntergang zu schätzen wissen, das unbefangene Tragen nicht eben erleichtert.

Dass es den Fischerhut auch unter der Bezeichnung Sonnenhut gibt, hat sein Image genauso wenig verbessern geholfen wie der Versuch, ihn unter seiner – zugegeben nur mäßig schmeichelhaften – englischen Bezeichnung Bucket Hat als zeitgemäßes Must-have zu vermarkten. Entsprechend hatten die ansonsten sehr geschätzten jungen und hippen Aushilfskollegen die Lacher auf ihrer Seite, als ich es vergangenen Sommer gewagt hatte, mit einem khakifarbenen Exemplar dieser Kopfbedeckung auf der Arbeit zu erscheinen. Aber die haben ja auch gelästert, weil ich über all die Jahre beharrlich an Socken mit langem Schaft festgehalten habe. Und wer das tat, galt ja lange Zeit als Botschafter des schlechten Geschmacks.

Und inzwischen tragen viele von ihnen selbst lange Socken.

Tennissocken.

Um deshalb in Genugtuung zu verfallen, ist die Lage jedoch zu ernst.

Denn die Rückkehr der langen Socken ist die eine Sache. Dass sie jetzt allerdings unter hochgekrempelten Hosenbeinen zur Schau gestellt werden wie ein vergoldetes Steak, wäre auch höchst albern gewesen, wenn die Dinger nie weg gewesen wären. Das sieht teilweise peinlicher aus als es sämtliche Tennissockenträger der letzten Jahre zusammen nicht sein konnten. Sicher muss der Pfau seine Federn zeigen. Aber wenn so etwas dabei herauskommt, bin ich lieber aus Überzeugung Außenseiter statt Modeopfer.

Es wird Regen geben

Das Wetter ist klasse. Es vermag den Smalltalk elegant einzuleiten, genauso gut aber auch den Blogeintrag. Es beeinflusst nicht nur unsere Entscheidung, was wir anziehen, sondern auch, wann wir uns bei Freunden zum Grillen einladen und wann wir das Haus überhaupt nicht verlassen.

Leider ist das Wetter oft nicht so, wie man es gern hätte. Und selbst wenn das Wetter phantastisch ist, bleibt das Grundproblem, dass es so nicht ewig bleibt. Was alles kein Nachteil sein muss. Unzählige Gespräche wären beispielsweise beendet, kaum dass sie begonnen wurden: „Schönes Wetter heute, nicht wahr?!“ – „So ist es.“ – „Okay, ich muss dann ´mal weiter, wir seh´n uns..!“ Weil aber einer immer Bescheid weiß, dass wir uns schon morgen oder am Wochenende oder nächste Woche warm anziehen müssen, fällt es nicht ganz so schnell auf, dass man sich im Grunde nichts zu sagen hat.

Das lässt bereits erahnen, dass auf der anderen Seite die bloße Dauer eines Gesprächs kein Indikator für seine Qualität ist. Wieder ist es das Wetter, das diesen Befund stützt, einfach weil das Wetter es nicht jedem recht machen kann. Zu warm. Zu kalt. Zu nass. Zu trocken. Nicht wie angekündigt. Besonders der letzte Vorwurf wiegt besonders schwer. Was bildet sich das Wetter ein?! Eine Garantie für leidenschaftliches Klagen hat man regelmäßig, sobald das Thermometer länger als drei Tage über 25 Grad klettert. Dass die selben Leute zuvor ein halbes Jahr lang lamentiert haben, es möge endlich Sommer werden – geschenkt! Aber was habe ich vom Smalltalk, wenn ich nur Gejammer zu hören bekomme?!

Wie immer wenn ich keine befriedigenden Antworten finde, denke ich an früher. Weil da bekanntlich alles besser war, also auch das Wetter zuverlässiger. Bei der Wettervorhersage lag die Betonung noch auf den letzten vier Buchstaben, und generiert wurde sie zu jeweils etwa einem Drittel aus einem Blick aus dem Fenster, dem Rückgriff auf Bauernregeln und dem Lesen im Kaffeesatz. In der Wetterstadt Offenbach wussten wir auch ohne Kenntnisse in Meteorologie: Wird der Regen wärmer, wird es Sommer. So einfach war die Welt. Eine aufkommende Umweltbewegung machte darauf aufmerksam, dass besagter Regen sauer ist und Waldsterben verursacht. Ansonsten aber war die Welt in Ordnung. Niemand ahnte, dass wir später einmal „Klima“ stets mitdenken würden, wenn wir übers „Wetter“ reden.

Jetzt kann man zum Klimawandel stehen wie man will – selbst für den Teil der Bevölkerung, der einen Palmenstrand am Main durchaus begrüßen würde, wäre vermutlich spätestens dann Schluss mit lustig, wenn sich tatsächlich die Bierpreise verdoppeln. Forscher prognostizieren diese Entwicklung für den nicht unwahrscheinlichen Fall, dass Dürresommer wie im vergangenen Jahr zur Regel werden und es dadurch zu einer Verknappung von Gerste kommt. Wenn also die Ernte bald genauso wenig sicher ist wie die Rente, dürften auch bislang hartnäckige Ignoranten spüren, dass irgendetwas faul ist im Staate Dänemark.

Heiter bis wolkig

Vorher steht allerdings zu befürchten, dass wir einen Sommer bekommen, der verregnet genug ist, dass jeder einzelne Tropfen Wasser auf die Mühlen der Leugner und Verharmloser bedeutet, die den Mahnern und Warnern Hysterie und Panikmache vorwerfen. Die über den letzten Sommer geurteilt haben, dass es solche Abweichungen von der Norm schon immer wieder ´mal gegeben hat. Die auch die winterliche Zugabe, nämlich meterdicke Schneelagen in den Alpen noch als normal betrachten: „Früher hatten wir dafür einen Fachbegriff: Winter.“ Selten so gelacht.

Sicher enthält diese Argumentation einen wahren Kern. Kein Jahr ist wie das andere; auf einen extrem heißen Sommer kann ein durchschnittlicher folgen und umgekehrt. Bloß dass in den vergangenen Jahren die Anzahl der extremen Wettererscheinungen für ein „immer wieder ´mal“ bereits eindeutig zu häufig aufgetreten sind. Die Ausnahmen werden zur Regel. Das Kind scheint längst in den Brunnen gefallen. Und das nicht nur im übertragenen Sinn, wie das Drama um einen 2-jährigen Jungen zeigt, der im Januar in ein unzureichend gesichertes Bohrloch gefallen war. Diese Löcher existieren in Spanien vieltausendfach, weil es seit Jahren zu wenig regnet.

Was also tun? Auf der Suche nach Auswegen wird beispielsweise in Bayern zur Zeit das Rülpsen von Kühen untersucht. Kein Witz! Da die Rindviecher bekanntlich vorne und hinten immense Mengen Methan ausstoßen, versucht man diejenigen Tiere herauszufiltern, die einen vergleichsweise geringen Output haben, um diese dann gezielt weiterzuzüchten. Ob das der Weisheit letzter Schluss ist? Ich hege gewisse Zweifel, anerkenne aber zunächst fast jede Bemühung um Lösungen. So ist halt Bayern, und zielführender als Planspiele, auf menschlichen Nachwuchs weitgehend zu verzichten oder die Sonne zu verdunkeln, sind solche Untersuchungen allemal. Man könnte natürlich auch auf die Idee kommen, weniger Milch und weniger Fleisch zu konsumieren. Weniger Tiere würden in kürzerer Zeit bessere Ergebnisse bringen. Wäre zumindest eine Überlegung wert. Gerade jetzt, da der Regen allmählich wärmer wird und wir uns also schon bald wieder bei Freunden zum Grillen einladen werden.

Sehnsucht

Wenn ältere Herrschaften in – sagen wir – meinem Alter bekunden, dass man nochmal 20 sein müsste, sollten sämtliche Alarmglocken schrillen. Auch wenn nicht zwangsläufig Altherrenphantasien dahinter stecken und die individuellen Motivlagen für diesen Wunsch höchst unterschiedlich und durchaus rechtschaffen sein können – konsequent zu Ende gedacht wird er in aller Regel nicht. Denn wenn ich mal in die Verlegenheit gerate, den Gesprächen von Menschen um die 20 zuhören zu müssen, stellt sich mir meistens zwangsläufig die Frage, was genau daran jetzt bitte so erstrebenswert sein soll. Wirklich spannend klingt das in den seltensten Fällen.

Leben und leben lassen, die Kinder sind in Ordnung. Meine Gespräche in jenem Alter haben sich kaum anders angehört. Erst in der schonungslosen Rückschau offenbart sich, dass der Alltag als junger Erwachsener ohne permanente Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz wahrscheinlich oft nur schwer zu ertragen gewesen wäre.

Und trotz dieser Befunde gibt es eine Sache, die mir wirklich fehlt, wenn ich ehrlich bin. Eine Sache, von der ich mich sogar zu der Bemerkung hinreißen lassen würde, dass sie das einzige war, das früher tatsächlich besser war: Die Unbekümmertheit. Die kindliche, später die jugendliche.

Niemand erwartete von uns, mit beiden Beinen im Leben zu stehen; genauso wenig erwarteten wir das von irgendjemand anderem. Wir waren albern, ohne uns erst die Frage zu stellen, ob es gerade angebracht ist. Außer dass wir unsere Hausaufgaben zu erledigen hatten oder später für die Uni zu lernen, kannten die meisten von uns nur wenige echte Verpflichtungen. Im Hier und Jetzt zu leben musste noch nicht erst in Achtsamkeits-Seminaren aufwändig neu erlernt werden, weil dieses Können irgendwann abhanden gekommen ist.

Verantwortung war ein Gesprächsthema. Ansonsten ein Angebot, das man punktuell freiwillig übernommen hat, aber noch nicht dieser Cocktail aus Erwerbstätigkeit, Familie und Altersvorsorge, an dem man sein ganzes Laben lang nippt, obwohl er längst abgestanden schmeckt.

Wir redeten über Träume, Ziele und Visionen. Wenn uns jemand deswegen für plemplem erklärte, wussten wir, dass nicht wir, sondern er derjenige ist, der keine Ahnung hat. Obwohl wir spätestens als junge Erwachsene genauestens über den Zustand unserer Gesellschaft Bescheid wussten, fiel unser Blick in die Zukunft überwiegend positiv aus. Hätte man uns gesagt, welch traurige Erscheinungen später aus uns werden, hätten wir vehement bestritten, dass es so kommen wird.

Wir waren jung und brauchten wenig Geld. Die geilsten Abende waren doch die, bei denen man sich mit Getränken vom Kiosk versorgte und mit den drei bis vier besten der besten Freunde im Park oder am Fluss bis zum Morgengrauen verbrachte. Ohne irgendetwas darstellen und ohne irgendwen beeindrucken zu müssen.

Vor allem hatte die Sorglosigkeit sehr viel mit der Zeit zu tun, die wir damals noch hatten. Selbst wer ein Ziel vor Augen hatte, konnte sich diesem genauso gut nach einem halben Jahr Auszeit widmen. Zeitreserven ermöglichten Versuch und Irrtum; stellten wir fest, auf dem verkehrten Weg gelandet zu sein, war das keine große Angelegenheit.

Das sind die Punkte, an denen sich die Faszination der Jugend festmacht. Nicht Eure aufgesetzte Coolness, Eure körperliche Fitness oder Euer unverbrauchtes Aussehen. Nicht Eure Partys und schon gar nicht Euer permanentes So-tun-als-wäre-man-dabeigewesen!

Zugegeben: Als Jugendlicher habe ich diese frustrierten alten Säcke, die mir die Welt erklären wollten, gehasst. Wenn ich mich heute selbst wie einer von denen anhöre, wird das zum Teil daran liegen, dass die Welt aus mir im Laufe der Jahre vor allem eines gemacht hat: einen frustrierten alten Sack. Keine Pointe. Eine Erklärung, keine Entschuldigung. Wenn sogar der damals noch nicht einmal vier Jahre alte Sohn schon riet „Entspann´ Dich ´mal“, kann man sicher sein, dass er zwar die Formulierung irgendwo aufgeschnappt hat, meine defizitäre Grundlockerheit damit trotzdem gnadenlos offengelegt hat. Kleine Kinder und Betrunkene sagen eben immer die Wahrheit. Doch nicht allein zur Wahrheitsfindung ist Alkohol ein probates Mittel. Richtig angewandt vermag er zur Entspannung verhelfen wie kaum ein zweites Instrument. Dumm gelaufen für jemand, der seit einigen Jahren schon auf dieses bewährte Hausmittel verzichtet. Aber man kann eben nicht immer auf der Sonnenseite des Lebens stehen.

Bei Licht betrachtet können die Jüngeren mit den Alltagssorgen und -nöten der Älteren genauso wenig anfangen wie umgekehrt. Insofern: Leben und leben lassen. Wenn es nur einigermaßen normal läuft, kommen die Heranwachsenden von heute früh genug an den Punkt, an dem sie sich fragen, ob es das schon war oder noch was kommt. An dem sie versuchen zu rekonstruieren, wann sie eigentlich begannen, so zu werden. An dem sie schließlich und endlich den Wunsch entwickeln, nochmal jung zu sein.

Vom Sinn des Lebens

Sie waren nie weg. Sie hielten sich nur gut versteckt. Um dann zuzuschlagen, als ich am wenigsten mit ihnen rechnete. Arglos wollte ich einfach nur eine Banane sowie ein Dutzend Weinbeeren bereitlegen und sah mich plötzlich mit Myriaden von Fruchtfliegen und damit einer Situation konfrontiert, die sofortiges Handeln erforderte.

Mir ist natürlich bewusst, dass kein Tag ohne weitere Schlagzeilen zum Thema Insektensterben vergeht. Auf der anderen Seite ist meine Wohnung kein Zeltplatz, weshalb ich in solchen Fällen regelmäßig ohne jegliche Skrupel den Staubsauger zur Hand nehme, um die Invasion effektiv zu bekämpfen.

Ähnlich den Küchenschaben oder Stechmücken fällt es auch bei Fruchtfliegen schwer, mit ihnen irgendeinen Nutzen für ein Ökosystem in Verbindung zu bringen. Ein fehlender Nutzen freilich wird noch kein Lebewesen jemals davon abgehalten haben, trotzdem das zu tun, was es eben für richtig hält. Das könnte man so stehen lassen und gut damit leben. Da man – andererseits – auch nicht schlechter damit lebt, wenn man die Frage nach dem Sinn weiter verfolgt, wird man irgendwann unweigerlich auf das Stichwort Nahrungskette stoßen. Die Preisfrage wäre in diesem Fall, ob man die Eigenschaft eines Lebewesens, für ein anderes Lebewesen ein gefundenes Fressen zu sein, als eigenständigen Sinn gelten lassen möchte. Ich jedenfalls würde dies als meinen Beitrag zur Aufrechterhaltung einer natürlichen Ordnung als ein wenig zu bescheiden empfinden. Woraufhin sich natürlich umgehend die nächste Frage anschließt: worin genau jetzt mein ungleich weniger bescheidener Beitrag besteht, das natürliche Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Vorsicht, Spoiler: Die Frage wird bis zum Ende des Textes unbeantwortet bleiben. Als erste Annäherung würde ich mein Dasein als zur Unterhaltung anderer Menschen dienend interpretieren. Womit ich im Prinzip keinen anderen Auftrag erledige als ein x-beliebiges Haustier. Selbst die besagte Fruchtfliege hat einen edleren Auftrag. Und zwar beschleunigt sie den Zersetzungsprozess von Bioabfällen.

Was sie auch gern weiterhin tun darf. Aber nicht in meiner Küche. Was bei mir herumliegt, will noch gegessen werden. Jedenfalls das meiste davon. Das Letzte also, das ich hier gebrauchen kann, sind Tiere, die zur Verringerung der Haltbarkeit von Gegenständen beitragen, die ich bezahlt habe. Wenn die Viecher Sachen zersetzen wollen, finden sie im Hof eine eigene Tonne. Wenn ihnen die nicht reicht, laufen zur Not draußen auch jede Menge älterer Leute ´rum, denen sie gern beim Zersetzen helfen können. Ist das Stadium des „Geht das auch leiser?“-Pöbelns nämlich erst einmal überwunden, ist vom Leben sowieso nicht mehr gar zu viel zu erwarten. Was einschließt, dass es bei den Betreffenden eine Zeit gegeben hat, in der etwas zu erwarten gewesen war. Das wiederum ist nicht bei jedem Vertreter der menschlichen Gattung selbstverständlich.

Hunde können so trainiert werden, dass sie Dinge tun, die von ihnen in einer bestimmten Situation verlangt werden. Die Intelligenz von Papageien soll in etwa der eines vierjährigen Kindes entsprechen. An einem Bonobo wollen Forscher einen aktiven Wortschatz von 500 Wörtern erkannt haben. Mir sind schon erwachsene Menschen begegnet, die selbst nüchtern das zu unterbieten imstande waren.

Vielleicht sollten gerade wir Menschen ´mal ganz ruhig sein, wenn nach einem sinnvollen Beitrag für eine funktionierende gesellschaftliche Formation gefragt wird. Manche Menschen verbrauchen den ganzen Tag über hauptsächlich Sauerstoff und andere Ressourcen, und vor dem Scheiß, den sie währenddessen absondern, schützen weder Gesetz noch Naturgewalten. Generell ist der Mensch ja eine der größten Belastungen für die Erde. Nehmen wir an, eine Tierart würde seine Umgebung so lange ausbeuten, bis eventuell irgendwann nicht mehr genug zum Überleben für alle vorhanden ist. In der Regel reagieren die Tiere auf eine Veränderung der Lebensgrundlagen, indem weniger Nachkommen gezeugt werden. Trotzdem könnte es geschehen, dass der angestammte Lebensraum erweitert oder verlassen werden muss. Gegebenenfalls stirbt eine weitere Art aus. Wirklichen Einfluss auf die Geschehnisse hatten und haben die Tiere in den seltensten Fällen.

Der Mensch dagegen ist in der Lage, halbwegs realistisch einzuschätzen, welche Konsequenzen dieses oder jenes Handeln oder Unterlassen haben wird. Doch obwohl man weiß, was einen erwartet, wird achselzuckend so getan als wüsste man von nichts. Intelligent geht anders.

Es ist absurd: Wir entwickeln erfolgreich Mittel, um durchschnittlich immer länger leben zu können, und arbeiten zur gleichen Zeit daran, die Welt zu einem Ort zu machen, an dem man sich nicht länger als unbedingt notwendig aufhalten möchte.

Das Schöne an alledem ist ja, dass sich nach einem Einkauf bei einem Discounter an einem Samstagvormittag und der dort zwangsläufigen Begegnung mit allerhand Verrückten die Vorstellung eines Planeten ohne Menschen fast zu einer wünschenswerten Option entwickelt.

Präsentiert von WordPress & Theme erstellt von Anders Norén