Von kleineren Aufregern auf der Arbeit abgesehen hält das Leben zur Zeit kaum echte Ärgernisse bereit. Weil umgekehrt allerdings auch nur selten kleine Höhepunkte die Routine des Mittelmaßes nachhaltig durchbrechen, wäre es keine falsche Behauptung, alles plätschere so ein bisschen vor sich hin. Von wegen Wirrnis des Alltags – Übersichtlichkeit ist angesagt.

Obwohl sich die Tage also zur Zeit mehr oder weniger ähneln, würde ich gern der Vermutung widersprechen, mein Dasein sei uninteressant.

Gut, ich müsste mich andererseits nicht wundern, wenn jemand zu einer anderen Einschätzung gelangt. Dass zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung mitunter Welten liegen, kann ja auch ich nicht einfach so abschütteln. Es geht mir ja selbst nicht anders, wenn ich andere Menschen anhand von Ausschnitten ihres Lebens beurteile. Beispiel: Viele Leute stellen ihren Mitmenschen freiwillig Informationen zur Verfügung, die diese nicht wirklich verlangt haben. Das lässt natürlich Schlüsse zu. Mehr noch: Hat man sich vor noch nicht allzu langer Zeit noch darüber echauffiert, wenn man dank Mobiltelefonen unfreiwilliger Ohrenzeuge von teilweise sehr privaten Details aus dem Lebenswandel mancher Zeitgenossen wurde, geht diese Form der Lärmbelästigung inzwischen sogar noch einen Schritt weiter. Offenbar setzt es sich gerade zunehmend durch, mittels Lauthören der Umwelt auch noch die Gesprächsbestandteile der anderen Person zu präsentieren. Ich finde, an diesem Punkt hätte die Datenschutzgrundverordnung ansetzen sollen. Da haben die Gesetzgeber große Chancen liegen gelassen, bitte nachbessern. Niemandem würde es schlechter, dafür vielen besser gehen, wenn es so käme.

Selbst Befürchtungen, kulturpessimistische Feuilletonisten oder Comedians erhielten dadurch keine Inspirationen mehr, würden sich vermutlich schnell in Luft auflösen. Die menschlichen Vorlagen für abgenutzte Witze würden schließlich trotzdem noch frei herum laufen. Ich hatte irgendwann einmal als ich mit dem Hund lief ein solches Gespräch auf der Straße mithören dürfen. Eigentlich war es kein Gespräch, eher ein Monolog. Nein, eigentlich hatte jemand ein Opfer zum Zuhören gefunden. Oft bin ich ja selbst der Ansprechpartner, wenn jemand das Bedürfnis hat, mit einem fremden Menschen etwas besonders Groteskes oder meinetwegen auch nur besonders Irrelevantes teilen zu müssen. Und das nicht erst, seit ich mit dem altersschwachen Hund an meiner Seite nicht mehr schnell genug flüchten kann. In diesem Fall hatte ich das Glück, dass ein Anderer vor mir zur falschen Zeit am falschen Ort war. Die Unterhaltung handelte grob umrissen von der Verrohung des Menschen anhand ausgewählter Beispiele aus dem Straßenverkehr. Er wollte also etwas für ihn unwahrscheinlich wichtiges loswerden und hatte wohl auch tief in sich drin eine Ahnung, dass er sein Gegenüber eher auf- als unterhält. Weswegen er sicherheitshalber nach jedem zweiten Satz die Ankündigung „Warte, gleich kommt´s“ einstreute. Einmal sogar „Jetzt kommt´s“ Blöderweise kam´s nicht. Da der Hund an meiner Seite wie gesagt einigermaßen alt und schwach ist, musste ich mir dieses Schauspiel ungelogene vier Minuten lang in dieser Ausführlichkeit anhören, ohne dass es letztendlich noch kam. Zumindest nicht bis ich um die nächste Ecke gebogen war.

Hair today, gone tomorrow

Ich zweifle gar nicht daran, dass seine pointenlose Geschichte für ihn ein sehr wichtiges Thema war. Für den gesamten Rest der Welt aber eben nicht, womit wir erneut beim Unterschied zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung angekommen sind. Das ist ja hier im Blog auch nicht wesentlich anders. Woher soll ich wissen, ob es die Welt interessiert, wenn ich beim Friseur war?

Nachdem mir die letzten rund 20 Jahre fürs Haareschneiden die Maschine gereicht hat, um die Matte gelegentlich wieder als Ganzes auf 5 Millimeter zu resetten, ist in mir in den letzten Wochen die Überlegung gereift, dass nicht alles, was für eine Wiese angemessen ist, auch für einen Mann im besten Alter das Mittel der Wahl sein muss. Immerhin könnte eine ordentliche Frisur auch ausschlaggebend sein, dass sich irgendwann doch nochmal eine Dame für mich interessiert. Ich möchte nicht so weit gehen, zu behaupten, dass mir inzwischen jedes Mittel recht ist, um auf die richtige zu stoßen. Dafür – so jedenfalls meine Selbsteinschätzung – ist mein Leben auch ohne Partnerin interessant genug. Aber den Wettbewerbsvorteil, dass ich noch eine volle Haarpracht ohne kahle Stellen habe, kann ich ja auch ausnutzen gegenüber den Typen, denen angesichts eher lichten Bewuchses eigentlich kaum nennenswerte Möglichkeiten bleiben, ihre Haare derart gewinnbringend einzusetzen. Folgerichtig kann man bei vielen Männern das, was sich auf ihren Köpfen befindet, auch nicht ernsthaft überhaupt als Frisur bezeichnen.

Ach so, das Ergebnis sollte ich wohl auch kurz erwähnen. Lässt sich sehen. Meinen zumindest ein paar andere Leute. Da stimmen Selbst- und Fremdeinschätzung ausnahmsweise einmal überein. Eine Sache jedoch ist mir aufgestoßen. Dass nämlich einer meiner Kumpels seine Meinung dazu nicht kundtun konnte, ohne das F-Wort zu benutzen. Ich habe es ihm gleich gesagt, und er hat sich auch entschuldigt. Aber woher sollte er auch wissen, dass im Zusammenhang mit einer neuen Frisur die Vokabel „flott“ kein Lob ist, sondern einem Schlag in die Fresse gleicht?! „Flott“ sagen Tanten und Mütter über etwas, das sie für jung oder jugendlich halten. Dass dieser Personenkreis etwas flott findet, ist jedoch gleichzeitig der Beleg dafür, dass dieses Etwas in Wirklichkeit alles mögliche ist, nur nicht lässig. „Swaggy“ würde man heute dazu sagen, aber meine Tanten haben ja sogar noch „flott“ gesagt, nachdem es sich durchgesetzt hat, „cool“ zu sagen. Flott ist also streng genommen das exakte Gegenteil dessen, was damit ausgedrückt werden soll und aus diesem Grund das letzte, was ich hören will, wenn ich das erste Mal seit über 20 Jahren Geld für einen Friseur ausgegeben habe.

Da wir gerade beim Thema sind: Ebenfalls nach Möglichkeit nicht mehr hören will ich Kommentare von Leuten wie dem, der letzten Mittwochabend im Wetterpark durch besondere Schlauheit auffallen wollte. Wollte. Ihr wisst schon: Selbst- und Fremdeinschätzung und so. Wenn man nicht mehr regelmäßig an der Uni oder in Politzirkeln verkehrt, kann man manchmal vergessen, dass es eigentlich überall einen gibt, der meint, alles besser zu wissen. Trolle eben, bei denen ich dachte, dass sie sich inzwischen in den Untiefen des world wide web sehr viel besser aufgehoben fühlen als in der freien Wildbahn. Besagter Troll also hat im Fernsehen eine Sendung gesehen. Und mit diesem Expertenwissen ausgestattet ist es natürlich einfach, dem Pressesprecher des Deutschen Wetterdienstes Ahnungslosigkeit vorzuwerfen, weil jener auf die Stromspannung eines Blitzes komplett andere Zahlen kennt als in besagter Fernsehsendung genannt wurden. Wer im übrigen die Information, wie viele Gewitter es weltweit in jedem Moment gibt, mit dem Satz kommentiert, ihn interessiere nur Deutschland, offenbart vieles, allerdings nicht unbedingt tatsächliches Interesse an einem Thema.

Bereits als vor der Veranstaltung den Gästen Schokoküsse angeboten wurden, soll der durch die Aussage „Bei uns heißen die Negerküsse“ aufgefallen sein. Nur hatte leider niemand danach gefragt, wie die bei „uns“ heißen. Es interessierte auch niemanden sonst, welche Kameradschaftstreffen er wohl meint, wenn er von „uns“ spricht. Sondern die Frage war lediglich gewesen, wer einen haben möchte. Sollte es tatsächlich stimmen, dass der Mensch im wesentlichen der Durchschnitt der fünf Personen ist, mit denen er am meisten zu tun hat, gibt es im Prinzip schon wieder fünf Leute mehr, die ich nicht unbedingt kennenlernen muss.

Sollte die Annahme mit den fünf Personen aber zutreffend sein, stellen sich natürlich umgehend Anschlussfragen. Beispielsweise wer die fünf Personen sind, deren Durchschnitt ich abbilde. Da man mit Mitte 40 in der Regel mangels Zeit seinen Freundeskreis klein hält und die meisten Leute ebenfalls so eingespannt sind, dass man sie höchstens alle zwei Monate trifft, scheidet das selbstgewählte Umfeld praktisch aus. Es bleiben also als Haupteinflüsse im Prinzip nur die Kollegen.

Ohne jetzt irgendjemandem zu nahe treten zu wollen, habe ich da bei einigen von ihnen eine vielleicht manchmal übertriebene, gewiss aber nicht gänzlich unbegründete Skepsis, dass sich solcherlei Prägung auf lange Sicht positiv auf die Entwicklung meiner Persönlichkeit auswirkt.