Bier knallt auch. Diese Erkenntnis diente lange Jahre als Begründung, an Silvester auf den Kauf pyrotechnischer Gegenstände zu verzichten. Da unser nicht eben üppiges Taschengeld wie meistens kein Sowohl-Als-Auch, sondern nur Entweder-Oder zuließ, waren Alkoholika die vielversprechendere Investition für die Nacht der Nächte. Gegenüber dem nur kurzfristigen Amüsement eines Feuerwerks war das Abschießen durch Alkohol nachhaltiger und konnte einen normal entwickelten Jugendlichen den ganzen Abend lang bei bester Laune halten. Zumindest wenn man es richtig anstellte und sein ganzes Pulver nicht bereits in den ersten eineinhalb Stunden der Party verschoss. Folgerichtig war nicht Brot, sondern Bier statt Böller das alljährliche Motto unserer Aktivitäten zum Jahresausklang.

Es ist nicht so, dass wir es nicht versucht hätten. Aber wer ebenfalls schon einmal versucht hat, aus dem Anstecken eines einfachen Brotes einen auch nur halbwegs respektablen Effekt zu generieren, weiß, dass Brot und Böller irgendwie nicht ganz dasselbe sind.

Überhaupt sind mir diese Gegenüberstellungen von Lebensmitteln hier und Feuerwerk dort eindeutig zu viel Schwarzweißmalerei. Über die Risiken der Knallerei ist jedes Kind bestens informiert, wohingegen die von Lebensmitteln ausgehenden Gefahren bis heute unterschätzt werden.

Man könnte es besser wissen. Schließlich machten Monty Python bereits vor knapp 50 Jahren auf die Gefahren eines Angriffs mit Früchten aufmerksam. Zum Spaß machten sie diesen Aufklärungs-Clip ja wohl eher nicht. Die Botschaft mag nicht jedem gefallen, ist aber eindeutig: Oftmals bleibt nur eine Handfeuerwaffe oder ein 16-Tonnen-Gewicht, um sich effektiv gegen eine Früchte-Attacke zu wehren. An der Kernproblematik hat sich allerdings bis heute nichts geändert: Selbst im Jahr 2019 und trotz Smart Home und Apps für fast jede Gelegenheit kann es durchaus geschehen, dass man im Notfall keines dieser beiden Abwehrmittel zur Hand hat.

Nun mögen einige argwöhnen, die Risiken solcher Übergriffe seien eventuell etwas weit hergeholt. Doch wer genau hinsieht, kann das gesamte Ausmaß erahnen:

  • Die Polizei Wiesbaden meldete im Oktober, dass im Verlauf eines Streits zwischen zwei LKW-Fahrern einer der beiden während der Fahrt auf der Autobahn eine Zitrone auf das Fahrzeug des anderen geworfen habe.
  • Im November wurde ein Mettbrötchen auf der A48 zur Tatwaffe im Streit zweier Wagenlenker. Ob und wie viele Zwiebeln sich darauf befanden, konnte im Nachhinein nicht mehr rekonstruiert werden.
  • Bereits 2016 kam es in Neubrandenburg zu einem Streit zwischen zwei Männern, in deren Verlauf einer der Kontrahenten dem anderen mittels einer Fleischwurst eine Delle ins Fahrzeug schlug.

Eines ist auffällig, wenn man solche Meldungen studiert: Fast ausnahmslos sind die Streithähne erstens männlich, zweitens um die 40 Jahre alt und drittens mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs beschäftigt. Eine Kombination mit offenbar reichlich Konfliktpotential. Wer mich in gewissen Situationen für aufbrausend hält – ich brülle wenigstens nur.

Es geht im übrigen auch andersherum: Nicht unter-, sondern überschätzt hat ein 81-jähriger Mann aus Baden-Württemberg im November 2017 die Sprengkraft von Lebensmitteln. Er vermutete in seinem Garten eine 5 Kilogramm schwere Bombe. Die angerückte Polizei identifizierte den Sprengkörper alsbald als eine große Zucchini.

Gurken für alle, sonst gibt’s Krawalle“

Wir lieben Lebensmittel. Nur manchmal haben wir ´mal mehr, ´mal weniger vernünftige Gründe, diese Güter einer anderen Verwendung als der eigentlich üblichen zuzuführen. Da nützt es auch wenig, dass man in der Kindheit den Satz, mit Essen spiele man nicht, eingeprügelt bekam. Bier zum Beispiel, um das es hier ja auch geht, hatte sich in unserer Sturm-und-Drang-Phase bestens bewährt, vorsätzlich oder fahrlässig im ganzen Raum verteilt zu werden. Das war immer eine schöne Sache. Einen leichten Knall hatten manche von uns eben auch wenn gerade nicht Silvester war.

„Wir haben Euch was mitgebracht: Fisch, Fisch, Fisch“ war das Motto von Fans des FC Hansa Rostock, die beim Auswärtsspiel in Jena deren Fans mit mitgebrachten Fischen bewarfen. Die Angegriffenen ihrerseits hatten früher auch schon ´mal Gäste aus Cottbus mit Gurken beworfen. Dass solche Aktionen weitaus origineller sind als das unter Fußballfans gelegentlich gebräuchliche Beschießen mit Böllern, hilft nicht darüber hinweg, dass sie laut Stadionordnung leider nicht erlaubt sind. Weshalb die Wurfgeschosse wie üblich in der Unterwäsche ins Stadion geschmuggelt werden mussten. Das macht die Fische nicht appetitlicher, aber auch nicht unwitziger. Eher im Gegenteil. Zumindest für Unbeteiligte.

In Berlin sowie in Hannover fanden über mehrere Jahre regelmäßig Auseinandersetzungen zwischen befreundeten Stadtteilen statt, bei denen ausschließlich weiche Waffen wie überlagertes Obst und Gemüse verwendet werden durfte.

In einer Aufzählung regelmäßiger Zweckentfremdung von Lebensmitteln darf schließlich die Tomatina in der spanischen Kleinstadt Bunol nicht fehlen, in der jährlich im August tonnenweise überreife Tomaten auf die Straßen gekippt werden, um in einer einstündigen Schlacht durch die Straßen geworfen zu werden.

Ballistik-Experten mögen einwenden, dass es Gegenstände mit weitaus besseren Flugeigenschaften gibt als sie ein Bund Möhren jemals wird erreichen können. Die machen aber eindeutig nicht so viel Spaß. Und: Ja, wir alle wissen, dass überall auf der Welt Kinder hungern. Ich habe deswegen die Einladung zu einer gepflegten Partie Honigmelonen-Rugby trotzdem noch niemals abgelehnt. Die Dekadenz der wohlhabenden Gesellschaften lässt sich nämlich an anderen Dingen viel plastischer abbilden. Wer möchte, kann den Bogen hier durchaus wieder zum Silvesterfeuerwerk schlagen. Wer beim Thema Lebensmittel bleiben möchte, darf sich beim nächsten Frühstücksei gern daran erinnern, dass allein in Deutschland jedes Jahr zwischen 40 und 50 Millionen männliche Eintagsküken geschreddert oder vergast werden. Schwere Geschütze, die hier zum Jahresende aufgefahren werden? Es geht auch eine Spur weniger drastisch: Allein schon dass selbst von den fortschrittlicheren Menschen einige heutzutage irgendwie erwarten, dass sie natürlich noch einen Laib Brot und einen frischen Kopf Salat erhalten, wenn sie nach 21 Uhr den Supermarkt entern, ist perverser als der Umstand, dass sich einmal im Jahr ein paar hundert Menschen ein paar Kilo überproduzierter Güter gegenseitig an die Birnen wirft.

In diesem Sinne guten Appetit und auf ein gutes neues Jahr!