Manchmal müssen Pläne über Bord geworfen werden. Es muss nicht erst eine Buchmesse pandemiebedingt nicht in gewohnter Form stattfinden können, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen. Oftmals reicht dafür eine mittlere Portion Lebenserfahrung aus.
Gerade mit zunehmendem Alter wird man tendenziell häufiger feststellen, dass bestimmte Ziele einer kritischen Überprüfung bedürfen. Beispiel: Selbst wenn es jemals realistisch gewesen wäre, dass ich Weltranglistenerster im Tennis werde, sollte ich allmählich akzeptieren, dass dieser Zug mit nunmehr 48 Jahren auf dem Buckel vor einer Weile schon abgefahren ist. Zumal ich in all der Zeit nie angefangen habe, überhaupt professionell zu spielen, gibt es deswegen allerdings gar keinen Anlass, mit dem Schicksal zu hadern. Manchmal ist aufgeschoben am Ende eben doch aufgehoben.
Bedeutsamer als die Erkenntnis, im Spiel des Lebens ein oder mehrere Male verkehrt abgebogen zu sein, ist doch sowieso, dass man sich immer öfter bei Rechenspielen ertappt, wie viele Jahre, vorausgesetzt, es möge „gut laufen“, wohl noch bleiben werden. Zudem mehren sich die Situationen, die einem signalisieren: Aufgepasst! Weil leider nicht garantiert werden kann, dass es „gut läuft“, könnte das alles theoretisch früher vorbei sein als Du Dir aktuell vorzustellen vermagst. Falls man also vorgehabt hatte, der Nachwelt irgendetwas Bleibendes zu hinterlassen, wäre dann nicht exakt jetzt der richtige Zeitpunkt, damit wenigstens endlich ´mal anzufangen?
Jetzt gehöre ich ja einer Generation an, die allen nachfolgenden vor allem verbrannte Erde hinterlässt und im negativen Sinn eindrucksvoll demonstriert, wie man einen so unsagbar faszinierenden Planeten gerade nicht behandeln hätte sollen. Falls also jemand auf die Idee käme, zu sagen: „Lass´ stecken, Alter! Die Mit-Verantwortung beim Zerstören unserer Lebensgrundlagen ist uns eigentlich genug. Auf weitere Beiträge können wir gut verzichten“ – was genau könnte ich schon entgegnen außer demütig meinen Kopf zu senken?! Dabei hatte ich doch einen nicht unbeträchtlichen Teil meines Lebens damit verbracht, das System zu ficken, eine freie Gesellschaft zu entwerfen und den Weg dorthin zu skizzieren, bevor ich auch diese Pläne mehr oder weniger über Bord warf.
Pläne über Bord werfen. Da eine Buchmesse recht regelmäßig stattfindet, erinnert sie mich einigermaßen zuverlässig einmal im Jahr daran, dass ich einst mein Ziel, in irgendeiner Weise durch Schreiben berühmt zu werden, nach unten korrigieren musste. In meinem Alter kann man wahrscheinlich ohne allzu große Sorge, vorschnell als Pessimist abgeurteilt zu werden, feststellen: Einfacher wird ein solch ehrgeiziges Vorhaben mit fortgeschrittenem Alter eher nicht mehr. Dafür, immerhin, bin ich ohne es zu wollen in die Hauptzielgruppe der Buchbranche gerutscht: Die Hälfte aller Bücher wird von Leuten über 45 Jahren gekauft. Die Ironie der Geschichte: Seit einigen Jahren beobachte ich an mir ein schleichend sich ausbreitendes Desinteresse an diesem Medium. Es ist nicht auszuschließen, dass diese Entwicklung mit einer Problematik zusammenhängt, die Arthur Schopenhauer schonungslos wie folgt formuliert hat: „Es wäre gut Bücher kaufen, wenn man die Zeit, sie zu lesen, mitkaufen könnte, aber man verwechselt meistens den Ankauf der Bücher mit dem Aneignen ihres Inhalts.“
Die verstärkte Berücksichtigung des Faktors Zeit führt aber nicht allein zu einer verringerten Anzahl an Neuerwerbungen. Sicher nicht ganz zufällig wird das Bücherregal häufiger als früher einer gründlichen Inventur unterzogen und um einige Titel reduziert, die in diesem Leben definitiv nicht mehr gelesen werden. Die wichtigste Maßnahme zu einem nachhaltigeren Umgang mit der Ressource Zeit ist allerdings: Man muss nicht mehr jeden Mist, den man einmal angefangen hat, bis zum Schluss durchziehen.
Wenn ein Buch seinen Leser verliert, geschieht das durchschnittlich auf Seite 18. Ja, ich wüsste selbst auch gern mehr darüber, wie wohl das Forschungsdesign ausgesehen hat, das zu diesem Ergebnis geführt hat, kann aber anhand eigener Erfahrungen zu diesem Thema beistimmen, dass dieser Wert zumindest nicht komplett aus der Luft gegriffen wirkt. Man muss ja nicht einmal mit den Maßstäben eines frustrierten Studienrates an die Sache herangehen, um zu registrieren, dass bei Büchern teils genauso viel Schrott produziert wird wie in jeder beliebigen anderen Branche. Es darf demnach niemanden ernsthaft wundern, dass man mit dem ein oder anderen Werk einfach ´mal einen Fehlkauf getätigt hat. Bei Schuhen, Fleckenentfernern oder Hemdenbüglern geschieht das ständig, aber da sage ich ja auch nicht: Okay, am nächsten Abend benutze ich das aber trotzdem wieder. Dass ich allzu oft ein Buch bis zum Ende gelesen habe, obwohl ich früh ahnte, dass da vermutlich nicht mehr viel kommt, gehört zu den wenigen Dingen, die ich mir rückblickend wirklich vorzuwerfen habe. Daher ist die Idee, auch ein Buch einfach ´mal über Bord zu werfen, wenn es nicht hält, was es verspricht, gar nicht einmal so banal, wie es zunächst klingt. „Bücher und Freunde soll man wenige und gute haben“, lehrt uns das Sprichwort. Dass Bücherfreunde pandemiebedingt dieses Jahr auf ihr Großereignis verzichten müssen, ist bedauerlich. Letzten Endes sehe ich aber lieber einen Plan über Bord gehen als einen Freund.
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