Ach, was waren das für Zeiten..! Als Kugeln noch rund und Gummistiefel aus Holz waren, das Tote Meer noch am Leben war und Freibier noch Geld gekostet hat. Früher war alles besser. Da war Nostalgie von Psychologen noch nicht erklärbar und von Marketingexperten nicht bis zum Erbrechen ausgeschlachtet.

Zwischen Dichtung und Wahrheit ist vor allem ein Punkt hervorzuheben, der früher wohl tatsächlich besser war: Wenn man als durchschnittlich Verdienender das Geld für ein Dach über dem Kopf vom Lohn abgezogen hatte, war noch ein gewisser Rest zum Leben übrig. Heute dagegen: Die Nichtsuche nach einer Wohnung würde Seite um Seite meines Dankbarkeitstagebuches füllen, so ich denn eines führen würde. Denn auch als Nichtbetroffener bekommt man einiges an Nachfragen und Angeboten mit. Auch dank sozialer Netzwerke, wo ich gerade letztens dieses Schnäppchen gesehen habe:

Drei-Zimmer-Wohnung, 75 Quadratmeter, Warmmiete 1200 Euro, Bergen Enkheim.

Bergen-Enkheim! Nicht Manhattan. Ohne jemandem zu nahe treten zu wollen – Bergen-Enkheim ist schön. So jedenfalls die oberflächliche Wirkung auf einen Durchfahrenden. Man kann aber nicht behaupten, dort pulsiere das Leben. Abgesehen von der Umgebung deutet auch sonst nichts darauf hin, dass das eine besondere Wohnung wäre, jedenfalls nicht wenn man die Fotos in der Annonce als Bewertungsmaßstab zugrundelegt. Da sich mit der Wohnung offenbar keine große Mühe gemacht wurde, sucht man irgendwie die ganze Zeit, ob man sonst irgendwas übersehen oder überlesen hat, was den genannten Betrag in irgendeiner Weise rechtfertigt.

Um es vorweg zu nehmen: Da kommt nichts mehr. Weil einigen aber in ihrer Not fast schon nichts anderes übrig bleibt, finden sich sogar für dieses Objekt Liebhaber. Kennzeichnend für eine zunächst unverbindliche Interessensbekundung scheint in solchen Gruppen seit einiger Zeit die Frage zu sein ob „der Artikel noch verfügbar“ sei. Und damit fangen die Fragen dann bei mir an:

Was ist das überhaupt für eine Redewendung? Die klingt schon scheiße, wenn es um einen Fernseher geht und das Gerät nicht von einem Händler, sondern von privat verkauft wird. Die Frage klingt nicht nach Kleinanzeigen, sondern nach Business, ganz als ob man als Verkäufer nur eben nach hinten ins Lager gehen müsste, um noch weitere Exemplare dieses „Artikels“ hervorzukramen. Aber erst recht spreche ich nicht von einem „Artikel“, wenn es um eine Wohnung geht, die vermietet wird! Wenn ich eine Wohnung zu vermieten hätte oder zu verkaufen oder meinetwegen auch nur einen Fernseher zu verkaufen oder zu verschenken – Leuten, die so fragen, würde ich meine Artikel nur höchst ungern überlassen wollen. Eher würde ich selbst drin wohnen. Und den Fernseher mitten ´rein stellen in die Wohnung. Artikel noch verfügbar – geht’s noch? Das sind bestimmt die gleichen Leute, die in fast beneidenswerter Konsequenz von Garantie sprechen, wenn sie Gewährleistung meinen. Das sind bestimmt so Leute, die es mit dem Kommentar „Ich hab´ Rechtsschutzversicherung“ drauf ankommen lassen und Gerichte mit Bagatellen belästigen. Weil ja schließlich andere schuld sein müssen, wenn der Nachwuchs im Kindergarten beim Spielen über eine Tigerente stolpert und sich einen Zeh bricht. Um bei den sozialen Netzwerken zu bleiben: Das sind so Leute, die zu einem Beitrag ihren Senf losgelöst von der Frage dazugeben, ob das vorher eventuell exakt so schon gesagt wurde.

Ich kann von mir wirklich nicht behaupten, alles im Leben richtig zu machen. Würde ich das tun, hätte ich unter Umständen selbst Artikel zu vermieten und somit ganz andere Dinge, über die es sich aufzuregen lohnt. Aber eins kann ich sicher sagen: Bevor ich in irgendeinem Zusammenhang auf eine Frage meine Antwort gebe, halte ich die vorherige Erhebung für richtiger, ob nicht mindestens ein weiterer Teilnehmer vor mir die exakt gleiche Antwort schon gegeben hat.

Wenn ich dabei feststelle, dass einen Beitrag meinerseits niemand mehr braucht, weil alles schon gesagt ist, spricht aus meiner Sicht rein gar nichts dagegen, die Finger einfach ´mal für ein paar Sekunden stillzuhalten.

Richtig ärgerlich wird es, wenn nicht einmal der Eingangsbeitrag vollständig gelesen wird. Auf die Frage nach einem guten und günstigen Tierarzt in der Stadt werden einfach ´mal alle Namen ´runtergerattert, die es im Radius von 50 Kilometern gibt. Ich kann die Qualität der Genannten schwer beurteilen, kann aber auch nicht ausschließen, dass da die eine oder andere Praxis erwähnt wurde, die gar keine der Kriterien „gut“, „günstig“ sowie „in der Stadt“ erfüllt. Sicher weiß ich lediglich, dass sehr gute Tierärzte genannt wurden, die allerdings alles andere als günstig sind. Wenn das Schwarmintelligenz sein soll, habe ich leise Zweifel nicht nur an der Idee dieser Schwarmintelligenz, sondern an dem Konzept von Intelligenz an sich. Ich hatte eigentlich nur darauf gewartet, bis der erste kommt und fragt, ob der Artikel noch verfügbar ist. Naja, Schwarm drüber und Szenenwechsel.

Notwendigkeit oder Willensentscheidung?

Auf der selben Plattform bin ich ja seit einiger Zeit in einer Single-Gruppe. Ich weiß seitdem, warum solche Foren von manchen Zeitgenossen mehr oder weniger liebevoll, aber zutreffend als Resterampe bezeichnet werden. Letztens hat dort einer brav und noch dazu fehlerfrei „Danke für die Aufnahme in Eure Gruppe“ geschrieben. Bis ich den Beitrag gelesen habe, das war ziemlich genau 19 Minuten später, war der schon wieder aus der Gruppe draußen. Was ist dem denn passiert? Ich weiß, es gibt ein paar anstrengende Gruppenmitglieder dort, aber die haben normalerweise keine so schnelle Reaktionszeit. Ich kann nur mutmaßen, dass der die vorhandenen Beiträge durchgescannt und sich gedacht hat: „Hier kann ich unmöglich bleiben. Artikel nicht mehr verfügbar! Abschied heißt auch Anfang.“ Erinnert mich, nebenbei bemerkt, daran, dass ich diesem erlauchten Kreis lieber früher als später den Rücken kehren möchte. Ich bin da so lange dabei, dass mich kaum noch etwas erschüttern kann. Anfangs hat mich einiges amüsiert, aber wie in einer Beziehung auch wird es irgendwann fad. Daher muss man durch solche Blitzmitgliedschaften gelegentlich daran erinnert werden, dass manche Sachen eben nicht normal sind. Da postet einer: „Mir ist langweilig.“ Weil Frauen, wie wir ja alle wissen, natürlich in erster Linie Männer suchen, mit denen sie sich dann gemeinsam langweilen können. Dass viele am Ende doch bei genau so einem Exemplar landen, ändert nichts daran, dass so ein Beitrag vielleicht nicht gerade die beste Werbung in eigener Sache ist.

Es gäbe ausreichend andere Beispiele von Menschen gleich welchen Geschlechts, die allein offenbar nicht überlebensfähig sind. Und da habe ich bis jetzt vom Aussehen noch gar nicht gesprochen. Es wäre natürlich unredlich, sich übers Aussehen Anderer zu amüsieren. Taktisch unklug zudem, sitzt man doch selbst im Glashaus und sollte daher drüber nachdenken, wie opportun es ist, sich dort drinnen zu entkleiden, solange es hell ist. Am schlimmsten sind ohnehin diejenigen, die anderer Leute Aussehen verspotten, selbst aber aussehen, als würden sie Katapulte nach Gondor ziehen. (Ich habe keine Ahnung von diesen Filmen, aber ich habe mir sagen lassen, dass es sich bei den Wesen, die die Katapulte ziehen, um relativ unschöne Geschöpfe handelt.) Wenn dann zu einem unvorteilhaften Aussehen noch das Unvermögen kommt, sich in Sachen Sozialkompetenz ansatzweise auf durchschnittlichem gesellschaftlichen Niveau einzuordnen, braucht wer den Schaden hat, für den Spott nicht zu sorgen.

Das eigentlich Revolutionäre an der blöden neuen Online-Welt birgt gleichzeitig etwas zutiefst Entspannendes: Man muss bei schlechtem Wetter nicht einmal mehr das Haus verlassen, um Inspiration für einen durchschnittlich unterhaltsamen Blogeintrag zu erhalten. Noch dazu findet man die Schrägen und Kaputten abseits der Schreibtisch- oder mobilen Geräte selten so gebündelt wie in der Lebenswelt der sozialen Netzwerke. Das mag der eine goutieren, der andere bedauern, ändern lässt es sich auf die Schnelle eher nicht.

In der offline-Welt ist man ja schon froh, wenn man ´mal eine Bekannte hat wie meine frühere Vereinsfreundin, die mir mit ihren Anrufen, in denen sie stets den gleichen Mist loswerden musste, einige Monate lang täglich mindestens eine halbe Stunde wertvoller Lebenszeit von der Uhr genommen hat. Sie war darüber hinaus schuld, dass ich eine Fernsehsendung wie „Die 100 nervigsten Deutschen“ bis zum Ende gesehen hatte in Erwartung, sie auf den vorderen Plätzen anzutreffen. Am Ende war mir klar geworden, dass ich das Leid dieser Prüfung mit nicht genügend Menschen teilte, damit es am Ende zu einer Platzierung für sie gereicht hätte.

Oder die frühere leicht cholerische Kollegin. Alle hatten Angst vor ihr. Wir hatten Prämien ausgelobt für denjenigen – ungekündigten – Kollegen, der irgendwann einen ihrer Anfälle mit der Bemerkung bremsen würde, sie möge sich ´mal entspannen. So finde sie nie einen Mann. Ein mittlerer dreistelliger Euro-Betrag wäre für diese Aktion zu kassieren gewesen, aber so wagemutig war keiner.

Selbst der eigene Freundeskreis ist heute nicht nur wesentlich kleiner geworden, sondern auch bei weitem nicht mehr so dicht mit Pflegefällen besetzt wie zu früheren Zeiten. Schlechte Stimmung ist demnach heutzutage keine Notwendigkeit mehr, sondern Willensentscheidung. Abgesehen von den Dingen, die mir auf der Arbeit widerfahren, den Sachen, die mir auf dem Weg von und zur Arbeit passieren und den Sachen, die mir in meiner Freizeit geschehen, gibt es für mich gar keinen Grund, mich aufzuregen. Mein Vater hatte eine Phase, in der er zu fast allem meinte: Er sei inzwischen über 50 und müsse sich also nicht mehr über jeden Mist aufregen. Da will ich hin. Nach Möglichkeit schon bevor ich 50 bin. Wenn das nicht klappen sollte – na gut, dann habe ich halt noch vier Jahre und ein paar Tage. Ich zähle das ´runter wie andere die Zeit bis zu ihrem Ruhestand. Und ich hatte ja bereits vor Jahren irgendwo gelesen, dass das in der Tat nicht allein eine Frage bewusster Entscheidungen ist, sondern eine biologische Angelegenheit. Weil der Körper ab einem gewissen Alter die für ein gepflegtes Echauffieren verantwortlichen Hormone einfach nicht mehr in der Menge produziert wie der Alltag es eigentlich erfordern würde.

Vielleicht sitze ich eines Tages wirklich in einem Schaukelstuhl in, besser: vor einem gemieteten Artikel an einem Ort, den ich mir mit meiner noch zu findenden Partnerin in freier Entscheidung ausgewählt habe. Vorher bin ich noch der Routine folgend die neuesten Beiträge in meinem favorisierten sozialen Netzwerk durchgegangen und unter anderem auf einen Kalenderspruch wie „Lachen ist die Musik der Seele“ gestoßen, den irgendjemand in die Single-Gruppe gepostet hat, aus der ich mich aus Spaß nie abgemeldet habe. Und dann denke ich mir: Ach, was waren das für Zeiten..!