Schall und Rauch

Insgeheim hatte ich meinen Lieblingspaketdienstleister immer bewundert für die erfolgreiche Umsetzung seines Konzepts, stets genauestens darauf zu achten, daß der IQ ihres fahrenden Personals einen gewissen Wert nicht übersteigt. Lästig für viele Kunden, aber beeindruckend in der Konsequenz, in der es durchgezogen wird.
Jetzt wurden diese Woche aber Ergebnisse einer Langzeitstudie veröffentlicht, in der die Autoren zu dem Schluss kommen, dass stundenlanges Autofahren sich negativ auf den IQ auswirke.
Volltreffer! Erkenntnisse sind immer exakt so lange gültig, bis der nächste mit neuen empirischen Tatsachen und deren Interpretationen um die Ecke kommt und alles bis dahin Gelehrte über den Haufen wirft. Dass bei den Lieferexperten eine gewisse geistige Immobilität Einstellungskriterium ist, kann also ab sofort als widerlegt gelten. Die werden nicht dumm eingestellt, die werden erst vom Arbeiten dumm. Ich bin beruhigt und besorgt zugleich. Angesichts solcher Erhebungen erscheint es plötzlich in einem komplett anderen Licht, wenn jemand stolze 25 Jahre Berufserfahrung als Kraftfahrer vorzuweisen hat.
Allerdings scheint der Abwärtstrend der Hirnleistung schon nach sehr kurzer Zeit in Gang zu treten. Die Fahrer jedenfalls, die dort abliefern, wo ich meinen Arbeitsalltag damit bestreite, Güter anzunehmen, zu kontrollieren und sachgerecht zu lagern, wirken noch allesamt recht jung. Gut – vom Elan jetzt nicht direkt, aber vom Aussehen. Man kann eben nicht alles haben.

Dabei kann ich über den ersten, der hier halbwegs regelmäßig vorbeikam, nicht einmal etwas Schlechtes sagen. Klar waren seine Deutschkenntnisse ähnlich hervorragend wie die seiner Nachfolger. Aber er wusste sich zu helfen. Nachdem sehr schnell klar war, dass er meinen Namen nicht unfallfrei in seinen Handscanner wird tippen können, hielt er mir das Ding unter die Nase, und den auf diese Weise von mir höchstselbst eingetragenen Namen hat er die folgenden Wochen problemlos wieder aufrufen können. Problematisch wurde es für ihn nur dann, wenn jemand anderes als ich die Sendungen angenommen hat.

Beim nächsten Kollegen habe ich das dann genauso machen wollen, aber der wusste am darauffolgenden Tag schon nicht mehr, wie er den Eintrag wieder auf den Bildschirm holt. Also habe ich es ihm überlassen. Der Anfang vom Ende: Aus dem nicht ganz richtigen „Ulsliga“ wurde das nicht unbedingt korrektere „Ulslig“. Als ich irgendwann selbst angefangen habe, mit diesem Alias und nicht mehr mit Oelschläger zu unterschreiben, sich also beide Seiten mit den Gegebenheiten irgendwie arrangiert hatten, musste ich mich auch schon bald an den nächsten Fahrer gewöhnen. Wie bei Stille Post wurden die Namen immer abenteuerlicher. Aus „Yshnega“ wurde „Qshnega“ wurde eines Tages einfach „Solu“. Da mein Brötchengeber so heißt, ist das zwar nicht völlig verkehrt, allerdings natürlich auch nicht ganz richtig.

Derweil ich anfing, mich auch am Telefon oder gegenüber Fahrern anderer Paketdienste als Herr Ulslig auszugeben, hat unser Kutscher bereits zum nächsten Schlag ausgeholt. Denn anstatt das mit Solu einfach ´mal stehen zu lassen, quittierte plötzlich immer ein gewisser Denis. Ich nehme an, diesen Move hat er unternommen, nachdem er ein kleines Schildchen am Tor gelesen hat, auf dem unter anderem die Namen der beiden Inhaber zu lesen sind. Sieht man darüber hinweg, dass üblicherweise mit dem Nachnamen unterschrieben wird, ist diese Vorgehensweise zumindest dann nicht verkehrt, wenn tatsächlich einmal im Jahr unser Boss persönlich am Tor steht und den Empfang bestätigt. In allen anderen Fällen bleibt es der gleiche Quark wie das Dummgebabbel mancher Zeitgenossen: Es wird durch ständige Wiederholung nicht richtiger.

Lösung heißt, wenn´s trotzdem funktioniert

Weshalb aus Denis dann aber seit kurzem ohne Not „Denis Bude“ wurde, weiß entweder nicht ´mal der Fahrer selbst oder es soll ein letzter verschlüsselter Hinweis für mich sein, auf mich aufzupassen. Menschen mit Erfahrung in solchen Angelegenheiten mögen mir an dieser Stelle bitte beim Dechiffrieren helfen. Denn falls ich auf irgendwelche Listen geraten sein sollte, würde ich es einfach gern wissen. Geht ja schnell. Man weiß zu viel. Oder man stellt zu viele Fragen. Wobei ich mir die sich eigentlich aufdrängenden Fragen wie „Hast Du Sie eigentlich noch alle“ sogar noch verkneife. Von mir gibt’s eher die Fragen mit tiefer gehendem Erkenntnisinteresse. Etwa: „Was habt Ihr denn da wieder geschafft“, wenn der Inhalt noch auf der Ladefläche aus dem aufgeplatzten Paket fällt.

Sachdienliche Hinweise, ob ich mein Leben dadurch verwirkt habe, werden also gern entgegengenommen. Ich möchte nämlich noch ein paar Jahre weiter hier tätig sein. Zumal seit wir seit kurzem eine neue Software nutzen, die alle Kollegen täglich aufs neue herausfordert. Herausforderungen sind das genaue Gegenteil von Autofahren. Man kann an ihnen wachsen. Wer mit diesem Programm zu arbeiten gezwungen ist, lernt zwangsläufig, eingetretene Pfade zu verlassen. Hier werden die Kollegen aus ihrer Komfortzone unsanft herausgezogen und nie mehr hineingelassen. Wenn beispielsweise bei erfolgreicher Stornierung eines Artikels aus einem Auftrag in dem einen Fall im Lagerbestand die entsprechende Reservierung aufgehoben wird, ein anderes Mal bei exakt derselben Vorgehensweise jedoch nicht, fehlt mir zwar momentan noch das Grundvertrauen in diese Anwendung. Aber man ist gefordert, das hält den IQ weit oben. Gut, den Stresslevel auch, aber lieber ausgebrannt als verblödet.

Es hat sich ja leider inzwischen durchgesetzt, jedes noch so simple Produkt, jede Dienstleistung gleich als Lösung zu bezeichnen, weil irgendwann findige Marketing-Experten darauf gekommen sind, dass Kunden Lösungen erwarten. Doch wenn dieser Lösung im Alltag mit Logik oder von mir aus auch einfach nur gesundem Menschenverstand nicht beizukommen ist, läuft irgendwo etwas gehörig schief. Nach meinem Verständnis sollte eine Leistung erst dann als Lösung verkauft werden dürfen, wenn Dinge wie die beschriebenen nicht mehr vorkommen. Und trotzdem stachelt das alles meinen Ehrgeiz nur weiter an. Denn ich glaube: Wer diese Software durchschaut, begreift am Ende sogar die Frauen. Und das haben – zumindest bei mir – 45 Jahre intensiven Studiums des Lebens nicht zu leisten vermocht. Ich spüre: So nah dran wie jetzt gerade war ich noch nie!

Für den wahrscheinlicheren Fall aber, dass ich doch irgendwann noch einmal in die Verlegenheit gerate, das Prozedere von Bewerbung samt Drumherum auf mich nehmen zu müssen, habe ich trotzdem erst einmal meine Tätigkeiten als Fahrer aus dem Lebenslauf eliminiert und an deren Stelle Auslandsaufenthalte eingefügt. Das bedeutet üblicherweise auch nicht viel mehr, als dass ein paar Monate hauptsächlich nichts gemacht wurde. Aber lieber den Verstand verfeiern als ihn irgendwo zwischen Raunheim und Dietzenbach auf der Strecke liegenlassen.