Unter den diversen Rollen, die das Leben uns nötigt zu spielen, gibt es solche und solche. Traumrollen und andere, die wir lieber abgelehnt hätten, wären wir gefragt worden. Allein auf der Arbeit vereine ich in einer Person beispielsweise Kapazität, Entertainer, Stilikone, Sklaventreiber, Sexsymbol, Papa Schlumpf. Die Reihenfolge ist zufällig gewählt. Ich verrate nicht, welche dieser Rollen mir am ehesten liegt, aber die mir am wenigsten zusagende Rolle ist die des Fossils.

Gleichzeitig gilt letztgenannter Punkt zunächst noch vorbehaltlich einer intensiven Prüfung, da bei solchen Zuschreibungen Selbst- und Fremdwahrnehmung erfahrungsgemäß stark divergieren können. Während die anderen aufgezählten Figuren unstrittig sind, besteht beim Stichwort Fossil immerhin die Möglichkeit, daß ich selbst Dinge empfinde, die die Kollegen so gar nicht bemerken.

Doch zunächst die Fakten, die ich nicht wegdiskutieren kann: Wie haben viele studierende Aushilfen. Eine einzige Teilzeitkollegin ist älter als ich, ansonsten kommt über mir niemand mehr. Vom Alter selbstredend. Und in dieser Eigenschaft bin ich für wahrscheinlich einige Kollegen „Zeugnis vergangenen Lebens“. Zwar noch nicht älter als 10.000 Jahre (was ich vermutlich in diesem Leben auch nicht mehr ganz hinbekomme), aber zumindest relativ nah dran.

Ich bin in manchen Punkten unzeitgemäß, aber ich bekenne mich.

Dazu, daß ich Musik nach wie vor gerne von Tonträgern höre. Da ist nichts verwerfliches dran. Daß ich in der ganzen Stadt der wahrscheinlich einzige bin, der noch CD- und DVD-Rohlinge benötigt. Mit einem peinlichen Gefühl, als ob ich gerade Hämorrhoidensalbe verlangen würde, ertappe ich mich bei der Überlegung, wie ein alter Mann in der Apotheke beim Bezahlen irgendwie noch verkrampft beiläufig erwähnen zu müssen, daß die Teile „für einen Freund“ sind.

Kurz: angesichts solch offen zur Schau gestellten Verweigerung, an den Errungenschaften der Technik in angemessener Weise teilhaben zu wollen, leben die jüngeren Mitarbeiter in ständiger Angst, von mir angesprochen zu werden, die simpelsten Funktionen des Smartphones erklären zu müssen.

Dabei geht es weniger darum, daß ich das nicht kann, sondern daß ich das nicht können müssen will. In etwa analog zu der Bekannten, die einst dem Literaturkanon des Deutschunterrichts den ausgestreckten Mittelfinger entgegenreckte und mit den Worten „ich muß nicht jeden Scheiß gelesen haben“ vielen aus dem Herzen sprach, die sich nicht trauten, derlei offen zuzugeben.

Die allermeisten kommen mit dieser Einstellung trotzdem ganz gut durchs Leben. Warum soll es mir dann schlechter gehen, nur weil ich nicht jeden Mist mitmache?!

Generation App

Die Anzahl an Apps ohne Gebrauchswert ist Legion. Kann mir niemand erzählen, daß der Alltag eines gesunden Menschen dadurch erleichtert oder wenigstens bereichert würde, wenn zum Beispiel das Stehenlassen des oben erwähnten Fingers von einer App virtuell besorgt wird. Nächstes Beispiel: Mir fallen spontan nicht viele Dinge ein, die die Welt weniger dringend nötig hätte als eine App zum Würfeln.

Es ist mir auch ein Rätsel, wie Milliarden von Fußballspielen geleitet werden konnten ohne die App iSchiedsrichter mit der kryptischen Beschreibung: „Schiedsrichter gibt Ihnen einen guten Schiedsrichter-Leben der Fußball.“ Immerhin: Früher musste man noch in den Import-/Export-Laden gehen und dort Konsumgüter mit ähnlich geringem Nutzen wie die beschriebene Software kaufen, um an solche Meilensteine der Übersetzungskunst zu gelangen. Heute hat man es da leichter.

Manchmal abends – Ihr ahnt es bereits – wenn das Tagwerk getan und manches auch nicht getan und ich mit dem Hund vor der Couch sitze, denke ich über mein verpfuschtes Leben nach. Muß ich an meiner Individualität-Konformität-Balance noch feilen? Ich könnte mich ausgeschlossen fühlen, aber will ich dazugehören? Wohnst Du noch oder lebst Du schon? Wie kommt Kuhscheiße aufs Dach?

Wilde Zeiten

Nicht zwingend, aber mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit gebe ich nach solchen Abenden an einem der nächsten Tage auf der Arbeit eine Geschichte aus längst vergangenen Tagen zum Besten. Wie ein Opa mit Erlebnissen von der Front fühle ich mich verpflichtet, den Kollegen mit meinen ungefragt wiedergegebenen Ausführungen zweierlei zu bescheinigen:

Dem einen Teil, daß mein Alltag nicht immer so unspektakulär und belanglos wie heute gewesen ist, sondern ich auch ´mal so ungestüm und leidenschaftlich war. Wie heute gesagt würde: stabil. Oder sagt man das schon wieder nicht mehr?

Dem größeren Teil, daß man sich nicht nur über die Zukunft und die spätere Karriere, sondern gern auch ´mal über die Gegenwart und das Leben Gedanken machen kann und daß Leben nicht unbedingt mit Konsum verwechselt werden muß.

Es sind dann Geschichten wie die folgende, hier der Einfachheit halber auf die stichwortartige Wiedergabe der Eckdaten und Eskalationsstufen beschränkt:

19. Geburtstag – ein Freund und ich – und viel Whisky für ihn und Bier für mich – anschließend Konzert besucht – weitere Freunde – begonnene Schneeballschlacht – Antwort unsererseits mit Leuchtspurmunition vom Balkon – Empörung unten – Festzeltbank nach unten befördert – beschlossen, daß man gehen soll, wenn es am schönsten ist – zurück zum Ausgangspunkt und weitere Biere und Whiskys nehmen

Es geht hier nicht um enthusiastisches Abfeiern solch brachialer Aktionen. Mehr um die dazugehörige Einstellung, die sich problemlos auch ohne Hinzunahme von Alkohol generieren lässt: daß man sich nämlich hin und wieder einfach ´mal einem Abend „ausliefert“ ohne voraussagen zu können, wann und wie das alles endet. Daß trotz der gebotenen Verpflichtung gegenüber der eigenen Lebenszeit ein Fenster geöffnet bleibt für zeitweise Ausflüge ins Ungeplante. Daß ein gelegentlicher Ausbruch aus allen Rollen nicht schaden muß.

Bloß beschleicht mich nach und nach der Verdacht, eigentlicher Adressat dieser Geschichten, vor allem der dahinter wartenden Moral ist weder der eine noch der andere Teil der Belegschaft, sondern bin ich selbst.