Sollte das Gerücht stimmen, wonach jeder das bekommt, was er verdient, müsste ich demnächst dringend abklären, aufgrund welcher meiner Vergehen mir diese Woche folgende Begegnung widerfuhr: Auf dem Weg zu einer Verabredung kam ein fremder älterer Mann mit der Frage „Wo ist Offenbach?“ auf mich zu.
Während ich auf der Arbeit inzwischen oft höchstens noch dann überhaupt angesprochen werde, wenn es sich gar nicht vermeiden lässt, scheine ich in der Freizeit eine gewisse Kompetenz auszustrahlen, die jedem Dahergelaufenen signalisiert: Dem da vorne kannst Du jeden Mist erzählen. Als ich einmal in einem großen Fahrradgeschäft – wie ich zugeben muss: relativ uninspiriert – ein bestimmtes Modell betrachtete, wurde ich von einer Frau unvermittelt in ein Gespräch darüber verwickelt. Das ging ein paar wenige Sätze hin und her, bis sie mir einigermaßen diplomatisch zu verstehen gab, dass ich für einen Verkäufer erstaunlich schlecht über dieses Rad informiert wäre.
Es gibt ja unter Verkäufern unterschiedliche Typen. Ein paar wenige Übermotivierte sprechen Dich in einem je nach Sichtweise geeigneten oder ungünstigen Moment an, in dem Du noch nicht einmal ahnst, dass Du am Ende des Gesprächs wieder irgendwas gekauft hast, was Du an und für sich nicht gebraucht hättest. Einen guten Verkäufer zeichnet es auch aus, dass ihm eigentlich egal ist, welches Produkt er unter die Leute bringen soll – er macht es einfach. Einem schlechten Verkäufer ist es eigentlich auch egal, was er – in diesem Fall: nicht – verkauft. Im Wissen, dass er sehr wahrscheinlich auch dann nicht besser bezahlt wird, wenn er seine Kundschaft seriös und kompetent berät, bemüht er sich nach Kräften, so abwesend wie gerade möglich zu wirken. Und für so jemanden hatte diese Frau mich gehalten! Ich habe nie darüber gesprochen, was das in mir ausgelöst hat, habe aber mit einer für mich typischen Verzögerung von drei bis vier Jahren daraufhin begonnen, an meiner Wirkungskompetenz zu arbeiten.
Das freilich hat mich, wie man sieht, nicht davor bewahrt, mitten in Offenbach plötzlich einem Menschen gegenüberzustehen, der sich von mir eine befriedigende Antwort auf seine Frage, wo Offenbach ist, erhoffte. Er deutete auf einen Wegweiser an der Straßenkreuzung und sagte: „Rechts ist Frankfurt und Heusenstamm.“
Tatsächlich war auf dem Schild nicht ein einziger Hinweis auf Offenbach zu finden. Was in diesem Fall zwar streng genommen eher ein beruhigendes Zeichen ist, mich aber dennoch dazu brachte, mich einen angemessenen Augenblick lang mit den Fragen „Wo bin ich hier eigentlich“, „Warum sind wir hier“ und „Wer wird Meister, wer steigt ab“ zu beschäftigen.
Aber was bitteschön sollte ich dem Mann jetzt antworten? Solch eine bescheuerte Frage habe ich selbst auf der Arbeit noch nicht gehört, wo bei so manchem Kollegen der Support fürs Betriebssystem ganz offensichtlich bereits vor einiger Zeit eingestellt wurde. Ich erinnerte mich daran, dass Goldfischen stets nachgesagt wird, nach nur drei Sekunden all ihr innerhalb dieser Zeit angeeignetes Wissen wieder vergessen zu haben. Ich erinnerte mich jedoch auch daran, dass man inzwischen weiß: Ein Goldfisch kann sich sogar an Dinge erinnern, die drei Monate zurückliegen. Die Theorie, dass dem fremden Mann versehentlich oder vorsätzlich ein Goldfischgehirn eingesetzt worden sein könnte und er deswegen einfach nur vergessen hat, dass er sich bereits in Offenbach befindet, konnte ich demnach verwerfen. Gleichzeitig vergegenwärtigte ich mir in diesem Moment zum ersten Mal, wie weit ein Goldfisch mit dieser Gedächtnisleistung einigen Kollegen tatsächlich überlegen ist. Das ist einem ja oft gar nicht so bewusst. In anderem Zusammenhang hatte ich erst kürzlich die Überlegung geäußert, wenn ich sagen dürfte, was ich wollte, hätte sich schon so mancher Kollege genauer überlegt, ob er sich noch einmal irgendwo als Lagerist bewerben soll.
Genau genommen würde sich womöglich der eine oder andere niemals wieder überhaupt irgendwo bewerben.
Ich überlegte, was dieser ältere Mann wohl in einem Bewerbungsgespräch auf die Standard-Begrüßungs-Floskel „Haben Sie gut hergefunden“ antworten würde. Ich überlegte aber auch, ob solche Gehässigkeiten am Ende gar nicht Folge, sondern wenigstens zum Teil Ursache der täglichen Negativerfahrungen in meinem Berufsalltag sein könnten. Jedoch war – das war ich durchaus bereit, mir einzugestehen – keine dieser Überlegungen bis hierhin geeignet, dem Mann bei seinem Problem in irgendeiner Weise weiterzuhelfen. Der kurzzeitig aus den Augen verlorene Leitgedanke war ja nach wie vor: Wo ist Offenbach?
Wahrscheinlich werde ich niemals mehr im Leben einen Moment erleben, in dem die Phrase „Der Weg ist das Ziel“ angebrachter sein wird als sie es in besagter Situation gewesen wäre. Stattdessen sage ich aber: „Ich kann Sie beruhigen. Rechts ist Offenbach, links ist Offenbach, geradeaus ist Offenbach. Sogar hinter Ihnen ist Offenbach.“
Insgesamt – so viel Feingefühl, dies zu erkennen, habe ich scheinbar gerade noch – schien ihn meine Antwort nicht zu überzeugen. Zwar werde ich nie erfahren, was genau er sich in dem Moment gedacht hat. Realistisch betrachtet war es allerdings sehr wahrscheinlich nichts, was irgendwie als Eingeständnis der Sinnlosigkeit seiner Frage ausgelegt werden könnte. Denn seine Ankündigung „Okay, dann frage ich nochmal jemand anderes“ kann durchaus so interpretiert werden, dass er in diesem Fall weiterhin eher Teil des Problems anstatt Teil der Lösung bleiben wollte. Mehr als geschildert konnte ich für den Mann nicht mehr tun; es trennten sich unsere Wege. Ich zog weiter durch Offenbach, er durch irgendwelche hoffentlich spannende Paralleluniversen.
Mein Fazit in fünf Thesen:
1. Viele Wege führen nach Offenbach
2. Noch viel mehr Wege führen durch Offenbach
3. Zur Klärung der Frage, ob jeder das bekommt, was er verdient, kann diese Anekdote leider nichts beitragen
4. Ohne wirklich etwas dafür zu können, habe ich es erneut geschafft, am Ende so dazustehen, als ob ich der Idiot wäre und nicht der Typ
5. Dass viele Männer so ungern nach dem Weg fragen, könnte damit zusammenhängen, dass sie sich nicht vorstellen können, eine befriedigende Antwort zu erhalten
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